Die Nacht an seiner Seite
Die Nacht an seiner Seite
Novize Adam Meese stand vor dem Altar und erbat Offenbarung; er verstand es nicht mehr, sein Leben. Auch die Welt konnte er längst nicht mehr begreifen. Adam wiegte den Kopf hin und her, dann verdrehte er die Augen. An der Decke sah er die sieben Gänge Jesu; Adam liefen Tränen übers Gesicht.
16:34, 21. März 2009, Athen. Brütende Hitze. Ein dicker Finger wischt Feuchtigkeit von Bartstoppeln und streicht über kurzgeschorenes Haar. Christos Kakalidis trägt Jeans und Jackett, er verdrückt eine weitere Freudenträne für seinen Vater und blickt über die Treppen zum wuchtigen Amtsgebäude schräg über ihm. Der Anlass innerer Bewegung rollt ihm entgegen, eingeklemmt im Pulk der Fotografen; in den Objektiven spiegelt sich makelloser Himmel.
Der Mann im Pulk trägt einen hellgrauen Maßanzug, dazu eine rosa Seidenkrawatte mit grauen Punkten. Er heißt Makis Kakalidis und ist einer der hartnäckigsten Rechtsextremisten Griechenlands. Gerade wurde er laut Urteil des Berufungsgerichts trotz seines den Holocaust begrüßenden Buches frei gesprochen. In erster Instanz war Kakalidis noch wegen "Volksverhetzung und Rassenhass" zu 14 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden.
Makis Kakalidis zeigt sich taufrisch und ohne Spuren der Verhandlung. Der Rechtsanwalt ist Verfechter der Thesen, es habe die Gaskammern nie gegeben und der Holocaust werde von den Juden zu Propagandazwecken missbraucht. "Ich bin Antisemit, ich verachte die Juden und sehe sie als Untermenschen. Die Juden sind von Geburt und Religion aus Mörder, mit denen sich die Menschheit beschäftigen muss." Einem Fotografen in Cordjacket stößt er vor die Brust, so dass dieser einige Stufen rückwärts nach unten taumelt. Sein väterliches Lächeln, seine braunen Sonnenbrillengläser sprechen seiner sonoren Stimme nach: "Ich bin unschuldig."
Die Gruppe hat Christos endlich erreicht. Hektische Fragen und Rufe der Fotografen, die sich gegenseitig anblaffen. Ein hupender Eiswagen hält am Straßenrand gegenüber, Kinder rufen fröhlich durcheinander. Christos, seit einigen Wochen Abgeordneter der rechtspopulistischen Partei LAOS, umarmt fest seinen Vater, bevor sie ins Auto steigen.
Im Fond der gepanzerten Limousine reicht er Babás Makis sein Geschenk zur Feier des Triumphs. Es ist ein Roman des amerikanischen Ultrakonservativen James Pipock: "Battlefield Human". Der silberne Verlagsschriftzug spiegelt sich in Whiskygläsern, die leise klirren.
18:12, 22.März 2009, London. Auf dem polierten Schild des Verlagsgebäudes in Bloomsbury prangt ein hellroter Klumpen Kaugummi. Er klebt genau auf dem I-Punkt von "Voli House Company". Die Sirene eines Polizeiautos hallt zwischen hohen Gemäuern.
Ein Mädchen ganz in Schwarz und Piercings in Oberlippe und Augenbrauen zeigt dem Sicherheitspersonal den Mittelfinger, bevor es im Aufzug verschwindet. Neben der gläsernen Automatiktür spricht ein Mann in beiger Uniform ruhig in sein Funkgerät. Sein Partner sitzt hinter einem geschlossenen Pult aus Grenadill-Holz, er hält den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn eingeklemmt und säubert sich mit einem Zahnstocher den Nagel seines Daumens.
Die Schritte des Mädchens sind fest. Sie sind klar zu hören, selbst auf der Tibetische Hochlandwolle des dicken Teppichbodens im achten Stock.
"Fräulein Seytur, tut mir Leid, ihr Vater ist gerade ...", die Blondine im dunkelblauen Kostüm kann sich gerade noch die Ohren zuhalten, als die Verbindungstür zum Chefbüro hinter der dunklen Mädchengestalt zuknallt. "Kleine Nutte", sagt die Sekretärin, sinkt hinter den Computerbildschirm zurück und schlägt die nylonbestrumpften Beine übereinander.
Rasan Seytur, der in Literaturkreisen als "der Schakal" bekannte und gefürchtete Verleger, steht neben einer Art-Decó-Standuhr. Er dreht einen braunen Kugelschreiber zwischen Zeigefinger und Daumen, blickt zu seiner Tochter, dann aus dem Fenster.
Marina hält ein flaches Gerät nach oben, das noch halb in zerrissenem Geschenkpapier steckt. "Was soll das?" Sie schleudert das Telefon gegen die vertäfelte Wand, das iPhone bleibt vor einer bronzenen Plastik liegen. Zwei Risse ziehen sich quer über das Display. Die Stimme des Mädchens ist jetzt ganz sanft: "Fick dich!"
22.:07, 23.März 2009, Istanbul. Ein massiger Mann spricht hektisch und leise in ein Telefon. Das Apple-Logo verliert sich im Dickicht seines gewaltigen Bartes. "Allah möge bei euch sein", Suleiman Yaren presst seinen rissigen Zeigefinger auf das Display und blickt ins Leere.
In dem kleinen Dorf im Südosten des Landes ist die Hochzeitfeier in vollem Gange, als die maskierten Männer eindringen. Ein Säugling beginnt zu weinen und die Musik bricht schlagartig ab. Die Männer eröffnen das Feuer, dunkle Flecken breiten sich auf dem Brautkleid aus. Das anschließende Blutbad kostet vierundvierzig Menschen das Leben, darunter sechs Kinder und sechzehn Frauen.
Auch der Geistliche des Dorfes findet den Tod. Kurz nachdem drei Kugeln in seine Brust geschlagen sind, bricht der Imam auf die Knie und nimmt Blickkontakt mit einem der Angreifer auf. "Ich werde um Vergebung für euch bitten. Ihr tragt eure Schuld nicht allein, das verspreche ich."
Die Täter können nach der Tat flüchten. Die Suche nach ihnen wird im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien von einem Sandsturm behindert.
10:02, 24.März 2009, Grenoble. "Das ist ein Versprechen", die sandigen Lippen des schlanken Mitvierzigers und Fabrikchefs zittern, bevor sie durch den ersten Fußtritt aufplatzen. Die Unbeherrschtheit des Gewerkschaftvertreters Pierre Baffour dauert weitere drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden. Erst ein Vogel, der gegen das Bürofenster fliegt, beendet die Serie dumpfer Schläge.
Es ist das dritte Mal innerhalb weniger Wochen, dass französische Arbeiter aus Wut über Stellenstreichungen ihre Manager als Geisel gefangen genommen haben. Dieses Mal wird am Ende ein Körper in einem schwarzen Plastiksack aus dem Gebäude getragen. Ein junger Sanitäter stolpert beim Abtransport, sein linkes Handgelenk schlägt gegen einen Fahnenmast, wobei das Saphirglas seiner Seiko-Uhr zerbricht.
10:02, 25.März 2009, Glashütte. Durch den Aufenthaltsraum der Uhrmacherschule gellt Gelächter. Zwischen Kaffee- und Colaautomaten schwatzen Schüler auf Sitzmöbeln der Vorwendezeit.
Nebenan in Raum 14D denkt Martin Rolfes weder an die alten DDR-Zeiten, noch beachtet er die Schaukästen mit den historischen Stanzen, Zahnradwälzmaschinen und Rundlaufzirkeln. Für Martin zählt lediglich die winzige Feder des komplexen Uhrwerks, das vor ihm kauert wie ein zum Sprung bereites Insekt. Als die kaum sichtbare Federkernschraube kippt, bevor sie Halt im Gewinde gefunden hat, dringt der Präzesionsschraubendreher zwischen die Teile und zerstört die Arbeit der letzten Wochen.
"Metall erzieht", so der angebliche Satz eines alten Meisters. Martins Schrei dringt auf die frisch gepflasterte Straße, als er sich das Werkzeug zwischen Kopfbein und Hakenbein durchs Handgelenk jagt.
10:02, 26.März 2009, Zlocieniec. Maja hält ihre Freundin Chrissi lose am Handgelenk. "An den Händen", hat die Klassenlehrerin zwar gesagt, doch Maja schämt sich, weil sie immer so schwitzige Finger hat.
Die fünfzehnköpfige Schulklasse besucht die ehemaligen "NS-Ordensburg Krössinsee“ in Westpolen. Seit 1945 wird sie als Kaserne militärisch genutzt, für den Besuch war die Erlaubnis des Verteidigungsministeriums in Warschau erforderlich.
Die beiden Kinder befinden sich auf einem der beiden Türme, um die in zwei Reihen errichteten Unterkünfte zu überblicken. Die Natur strahlt in frischem Grün, der Blick geht weit in die Landschaft. Die Sonne lässt die mit roten Ziegeln neu gedeckten Baracken leuchten, auf den unrenovierten Gemäuern wellen sich noch die ursprünglichen Eternit-Dächer.
Maja und Chrissi scherzen gerade, als eine Drohne, ein unbemanntes Aufklärungsflugzeug vom Typ "Global Hawk", auf den Turm stürzt. Später werden die Eltern der beiden Kinder symbolisch zwei kleine Gefäße beisetzen.
16:66, 27.März 2009, Indischer Ozean. Auf dem Kreuzfahrschiff einer italienischen Reederei ist eine der Bordshows, das Rockmusical "Hiob´s Best Of" in vollem Gange, als Schüsse fallen.
Von der Brücke aus werden die Passagiere aufgefordert, in ihre Kabinen zu gehen und die Lichter zu löschen. Josue, ein mexikanischer Halbwüchsiger, der sich auf dem Luxusliner vom Stress eines Klavierwettbewerbs erholen soll, beobachtet ein weißes Schnellboot, das auf der Backbordseite des Schiffes festmachen will.
Durch die Warnrufe des Jungen alarmiert, eilen Sicherheitskräfte herbei. In einem hektischen Schusswechsel wehren die mit kugelsicheren Westen ausgerüsteten Männer den Angriff der Piraten ab.
Josue wird von einem Querschläger an der Halsschlagader verletzt und verblutet neben der Metallleiter des Swimmingpools. Wie rote Wasserfarbe wirbelt sein Blut ins Chlorwasser, bevor es durch den Sog der Pumpe in die Abflussritzen des Bodens gesaugt wird.
Adam Meese stand an dem nackten, weißen Steinquader, unter seinen Händen ein weißes Blatt. Er malte zwei sich kreuzende Balken und betrachtete das Ergebnis, das Christenkreuz. Er drehte das Blatt auf den Kopf und lachte hysterisch, bis seine Bauchdecke schmerzte, als würde eine kantige Gestalt nach oben brechen.