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Die Nacht

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13.02.2005
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Die Nacht

Es ist ein irrealer Hoffnungsschimmer, den ich nicht erklären kann. Nicht mit dem Kopf. Der Zug hält, zuerst allmählich, dann abrupt. Und ich schaue von meinem Sitzplatz im Oberabteil hinunter auf die Menschen, wie sie herein und hinaus strömen, und denke: Du fährst oft hierher. Was wäre, wenn du jetzt zusteigen würdest, genau hier, in diesem Moment? Dann gehst du auf der Suche nach einem Sitzplatz durch den Gang und siehst mich. Zum ersten Mal seit…
Und sagst mir, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben, und dass du dich freust.
Ein feiner Sonnenstrahl streicht durch deine braunen Haarsträhnen. Die ganze Fahrt über brauche ich nicht mehr aus dem Fenster zu sehen in das kalte Blau eines kalten Morgens, sondern nur zu dir, und ich versuche mir die ganzen Einzelheiten deines Gesichts einzuprägen, die Kleinigkeiten, die ich vermissen werde, schon so bald, weil Zugfahrten nie ewig dauern. Haselnussbraune Augen, blonde Strähnchen, wie Sonnenstrahlen, und dein Lächeln. Und dein Lächeln.

***

Auch auf der Rückfahrt von Berlin, die Hinfahrt am nächsten Morgen, die Rückfahrt, noch einmal. Hin und zurück, weg und fort, oben, unten, ich habe aufgehört zu zählen.
Ich weiß: Nein, hier bist du nicht, und wirst es nie sein, warum suche ich dann trotzdem dein Lächeln in der trüben Suppe der traurigen Gesichter da draußen?

***

„Glauben Sie an Gott?“
Etwas irritiert wache ich auf, aus dem Tagtraum Realität, und schaue in das Gesicht einer älteren Dame.
„Ich kann an nichts glauben, das ich nicht definitiv weiß“, antworte ich selbstsicher.
An dieser Station kann ich meinen Blick nicht vom Fenster abwenden. Nicht hier. Ich glaube daran. Ich weiß es nicht. Definitiv.
„Es gibt keinen Gott“, füge ich hinzu ohne sie anzusehen.
Nicht hier.

***

Kiefern, Buchen, Eschen, Ahorn, Linden. Alles grüne Schlieren, die am Fenster kleben. Zusammen mit einem großen Klecks Himmelsblau entsteht daraus eine morgendliche Portion Melancholie. Eine Zutat fehlt. Irgendetwas, es fällt mir nicht ein…

***

„Wegen eines Personenunfalls verzögert sich unsere Fahrt voraussichtlich um fünfzehn Minuten“, tönt es teilnahmslos aus den Zuglautsprechern. Wegen eines falschen Wortes zur falschen Zeit verzögert sich Ihr Glück um eine Zeitreise in die Vergangenheit, denke ich und schließe die Augen.
Wenn es keine Züge gäbe, würde das Verlieren aufhören? Ich würde dann zur Uni laufen und dich auf einer Parkbank sehen. Hinter dir leuchten goldene, rote, braune Blätter, die hinabsegeln, in Zeitlupe.
Du klopfst mit der flachen Hand auf den freien Sitzplatz neben dir.
Ich setze mich.
Wir reden, den ganzen Nachmittag hindurch, die ganze Nacht hindurch.
Am Morgen stehe ich auf und laufe zur Uni und weiß, dass du morgen wieder hier sein wirst. Dass du immer da sein wirst.

***

Alles nicht wirklich, so unwirklich, wie das Leben. Ich möchte aufwachen, nur, um wieder einzuschlafen und zu träumen. Ich möchte aussteigen, mich beobachten, vom Bahnsteig aus, und mir selbst zurufen:
„Morgen, bestimmt…“
Doch ich höre es nicht. Es ist nicht deine Stimme.
Die Wirklichkeit wird vom Glas verzerrt, gedehnt, gebogen, gebrochen, wie die Gedanken in meinem Kopf, mit denen dasselbe geschieht, nur anders herum, um die kaputte Wirklichkeit wieder auszugleichen, einigermaßen.
Draußen fliegt eine Schwalbe.

***

Das Radio im Café spielt „Die Nacht“ von den Helden. Draußen ist es stockfinster und gedimmtes Licht pulsiert im Takt des Kerzenflackerns.
„Kannst du mir etwas versprechen?“
„Was denn?“
„Hört sich bestimmt bescheuert an, aber versprich mir bitte, dass wir für immer Freunde bleiben. Für immer.“
„Für immer, versprochen.“
„Für immer immer?“
„Für immer immer“, lächelst du in die Nacht.

 

Hallo Nephelyn,
gerade habe ich mir die fast fertige Kritik an deiner Geschichte weggehauen, aber ich werde versuchen, noch alles zusammenzukriegen:

Deine Geschichte hat mich angerührt. Ich finde die Ebenen (Stimmung und Gedanken einerseits, Realität andererseits) gut verwoben. Im Anfang habe ich noch auf einen Zufall gehofft, vergebens. Aber im Grunde sagst du das ja von von Anfang an:

Es ist ein irrealer Hoffnungsschimmer

Deine Farbsymbolik hat mir gefallen. Warme Farben bei der/dem Ersehnten
deine braunen Haarsträhnen - Haselnussbraune Augen, blonde Strähnchen, wie Sonnenstrahlen - Hinter dir leuchten goldene, rote, braune Blätter
und kalte in der Realität:
das kalte Blau eines kalten Morgens
Toll finde ich auch die Analogie:
„Wegen eines Personenunfalls verzögert sich unsere Fahrt voraussichtlich um fünfzehn Minuten“, tönt es teilnahmslos aus den Zuglautsprechern. Wegen eines falschen Wortes zur falschen Zeit verzögert sich Ihr Glück um eine Zeitreise in die Vergangenheit

Jetzt noch Kleinkram:

ch schaue von meinem Sitzplatz im Oberabteil herunter auf die Menschen, wie sie hinein und hinaus strömen
du im Zug bist der Bezugspunkt, deshalb hinunter auf die Menschen, herein und hinaus
Was wäre, wenn du jetzt zusteigst, genau hier, in diesem Moment.
Fragezeichen
in der trüben Suppe der traurigen Gesichter
da weiß ich noch nicht so genau, ob ich es für genial oder kitschig halten soll; ich glaube, es gefällt mir eher nicht

Gruß, Elisha

 

Eine Situationsbeschreibung, eine Skizze. Vermischung von Gedanken, Träumen und realen Beobachtungen. Für mich ist das keine Geschichte.

Und ganz am Rande geht es wohl darum, ob etwas, dessen Existenz unbeweisbar ist, existieren kann, oder nicht. Deshalb wohl die kurze Episode, in der ein anderer Fahrgast wissen will, ob der Protagonist an Gott glaubt. Ließe sich wohl ein wenig besser herausarbeiten.

Insgesamt hat mich der Text nicht überzeugt. Ich vermisse eine Handlung, vermisse auch Charaktere.

  • Der Zug hält, zuerst allmählich, dann abrupt. - Allmähliches halten? Vielleicht besser "wird zunächst allmählich langsamer, hält dann abrupt".
  • im Oberabteil - heißen die so? Kommt mir merkwürdig vor
  • Und ich schaue [...] und denke: - Eines der beiden "und" ist streichbar.
  • Was wäre, wenn du jetzt zusteist - "zustiegst" oder "zusteigen würdest". Zugegeben, überall den Konjunktiv zu gebrauchen, klänge schnell gestelzt, unnatürlich. Hülfe dem Leser aber, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden.
  • streichelt durch deine braunen Haarsträhnen - entweder "streicht durch deine" oder "streichelt deine
  • Die ganze Fahrt über brauche ich nicht mehr aus dem Fenster zu sehen in das kalte Blau eines kalten Morgens - Eine Umstellung der Konstruktion wäre vielleicht besser. Und möglicherweise auch hier "bräuchte".
  • ich versuche mir die ganzen Einzelheiten in deinem Gesicht - Einzelheiten in deinem Gesicht? Schmuck? Pickel? Kriegsbemalung? Oder "Einzelheiten deines Gesichts"?
  • die ich vermissen werden - "werde"
  • das ich nicht definitiv weiß - merkwürdige Konstruktion
  • den ganzen Nachmittag hindurch, die ganze Nacht hindurch - Wortwiederholungen, vermutlich beabsichtigt
  • Draußen fliegt eine Schwalbe. - Und macht doch noch keinen Sommer? Soll das die Andeutung sein?
  • gedämmtes Licht - "gedämpft" oder "gedimmt"

 
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Hi Elisha und cbrucher,
danke für eure ausführliche Kritiken. Die meisten Textbezogenen Anmerkungen habe ich direkt in den Text übernommen, einige andere hingegen würden die Geschichte, wie sie von mir gewollt war, kaputt machen. Und danke für dein Lob, Elisha. Wie cbrucher schon angemerkt hat, steckt vielleicht etwas wenig "Geschichte" in der Geschichte, wenn man solche nach Handlungssträngen, Figuren und Dialogen beurteilt, jedoch werden sich hoffentlich noch weitere Leser finden, denen die Geschichte zusagt. Ich finde ebenfalls, dass sie eine Existenzberechtigung hat (naja als Autor ist das leicht gesagt ;) ).

"Im Anfang habe ich noch auf einen Zufall gehofft, vergebens"
- Ich habe zwar schon eine Idee, aber trotzdem: Was genau meinst du hier?

"Draußen fliegt eine Schwalbe. - Und macht doch noch keinen Sommer? Soll das die Andeutung sein?"
- War eigentlich gar nicht so gedacht, aber jetzt wo du es sagst: Es passt natürlich gut in die Geschichte.

""zustiegst" oder "zusteigen würdest". Zugegeben, überall den Konjunktiv zu gebrauchen, klänge schnell gestelzt, unnatürlich. Hülfe dem Leser aber, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden."
- Auch wenn es uneindeutiger ist, lasse ich die ganze Passage, bis auf den Einstiegssatz, im normalen Präsens, stilistisch so gewollt, und Konjunktiv klünge hier wirklich nicht gut ;)

Danke nochmals,
Neph

 

"Im Anfang habe ich noch auf einen Zufall gehofft, vergebens"
- Ich habe zwar schon eine Idee, aber trotzdem: Was genau meinst du hier?
na, auf ein Happyend

 

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