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Die Nebenrolle
Die Nebenrollen
"Oh Mann! Warum mache ich das hier", fragte er sich und bevor er den neuen gelben Wagen startete, pustete er sich noch mal in die Hände. Der Dampf seines Atems umhüllte ihn. Er fuhr zwölf Meter weiter. Handbremse. Motor aus. Tasche öffnen. Vorgepackte Stapel schnappen. Raus. Er wusste, dass er zu Fuß schneller wäre, doch bezahlten sie ihn schließlich dafür. Es war ihm auch egal, dass der Motor diese Kaltläufe hassen müsste. "Ich könnte auch wichtigere Dinge erledigen. Kein Mensch interessiert sich dafür, was ich hier tue. Es ist kein Traumjob und nur, weil das Geld pünktlich kommt, na ja, ich weiß nicht so recht! Irgendwann schmeiß ich es hin und hau ab. Wollt schon immer mehr Verantwortung." Er warf einen Brief nach dem anderen in die Kästen.
Zwei Etagen über ihm stand eine alte Frau hinter dem Fenster. Bei dem Wetter schmerzten die Gelenke am schlimmsten. Doch mehr Schmerzen hatte sie woanders. Ein dreiviertel Jahr ist es her, dass sie der Frau ihres Sohnes schrieb. Der verdammte Unfall hat alles verändert. Sie wusste, dass das Verhältnis mit Schwiegertöchtern und -müttern nicht einfach ist. Es kostete sie auch viel Kraft, sich nicht einzumischen, doch fehlten ihr nicht nur der Sohn, sondern auch die Enkel. Und auch der Streit mit Schwiegertochter Doris wäre eine Abwechslung. Die Beerdigung des Sohnes war vor neunzehn Monaten.
Nachdem alles eingeworfen war, begann das Spiel von vorn. Tür auf. Hände reiben. Hauchen. Motor an. Diesmal einhundertzehn Meter fahren. Laue Luft kam aus den Schlitzen. Motor aus. Tasche öffnen. Stapel schnappen. Raus. "Wer braucht mich schon hier als Postbote. Werbung…Kataloge…Oh, eine Gewinnbenachrichtigung! Klaus hat es auch geschafft. Der macht jetzt den Macker im Hauptlager. Ist das ´ne Kälte hier!"
Seine Hände gewöhnten sich an die Temperaturen. Motor an. Fahren. Bremsen. Handbremse. Motor aus. Tasche öffnen. Briefe schnappen. "Oh! Ein Packet....mpfhgh... Ich muss mit Frau Spange reden. Es macht mich krank... „Wenn der Postmann zweimal..“ haha.... Ich hab noch nie mehr als einmal geklingelt... Vielleicht ist irgendwo im Blauen-Haus was frei. Immerhin bin ich schon zweiundzwanzig Jahre dabei. Dass sich mal was ändern lässt, hat ja Klaus (unser toller Klausi) bewiesen. Es muss ja nicht gleich als Abteilungsleiter sein (obwohl, es sind 22 Jahre!), aber mal etwas mehr Verantwortung oder dass mal jemand sagt „DU?!“ oder so….
Warum mache ich das hier?"
In hundertzehn Meter Entfernung stand eine alte Frau nicht hinter dem Fenster, sondern am Briefkasten und hatte Tränen in den Augen. Sie hielt den Brief von Doris in den Händen. Zwei, der sieben verschickten, Fotos sind ihr durch die Finger gerutscht und zeigten die Gesichter lachender Kinder. Verschwommen las sie, dass sie am Wochenende kämen. Sie dachte an den Postboten und erinnerte sich, dass sie so ein Gefühl hatte, heute gäbe es etwas anderes als Kataloge, Werbung und (Oh,) Gewinnbenachrichtigungen.
Am Samstag liest sie ihren Enkeln aus dem Buch vor, welches ihr Sohn als Kind geliebt hat. Doris hat das Album mit denvergilbten Fotos auf dem Schoß liegen und schaut verträumt durch das Fenster in die Ferne.