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Die Odyssee der Angsthasen
Die Odyssee der Angsthasen
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Es war an einem Freitag nach dem Mittagessen, als ich Andreas zum ersten Mal sah. Er kam begleitet von Jean, dem breitschultrigen Schokopfleger gerade aus der Geschlossenen. Ich erinnere mich noch an das Essen dieses Tages. Klöschen und Braten mit Sauce. Als Beilage gab es grüne Bohnen. Ich weiss auch noch, wie Theresa, Dr. Doolittle, ab dem Anblick des Bratens zu weinen begann, sie glaubte noch das Gesicht des toten Tieres zu sehen, das zu ihr redet. Es war eine Auflockerung gewesen, an diesem bis dahin eher unspektakulären Freitag. Normalerweise sind Freitage sehr aufregend. Freitag, der Tag vor dem Wochende. Viele haben Urlaub und die die keinen haben, wollen welchen und rebellieren. Deswegen mag ich diesen Tag so, man weiss nie, was passiert. Einmal hat Tommy, die Kreissäge, versucht aus alten Lacken ein Band zu machen, mit dem er sich aus dem Fenster hinabhangeln wollte. Natürlich kam es nie soweit, spätestens als er Marie, die Fluchschwester, um ein paar weitere Bettlacken bat, wurden sie misstrauisch. Genau deswegen blieb Tommy in der Halboffenen, er versuchte so oft zu aus zu brechen, aber ihm fehlte dermassen die Intelligenz, dass er nie auch nur in die Nähe eines Erfolges gekommen wäre. Natürlich gab es auch genau die umgekehrten Fälle, diese die durchdrehten, weil sie in Urlaub durften oder sogar mussten. Da ist Benji, die Bowlinkugel, jeden Freitag kommt ihn seine 72jährige Mutter abholen. Er will nicht raus. Er fleht jedesmal regelrecht hier bleiben zu dürfen. Manchmal kommt es zu richtigen Kämpfen zwischen ihm und Pflegern. Aber die Ärzte sagen, er muss diesen Schritt gehen, für seinen Heilungsprozess. Ich kann Benji verstehen und genau deswegen habe ich ihm auch schon versucht Tipps zu geben. Ich sagte ihm, er solle, wenn er draussen ist, einen Selbstmordversuch unternehmen. Tabletten oder so. Er müsste es nur clever genug machen, damit er nicht dabei draufgeht, aber jeder glaben würde, er wollte sich umbringen. Die würden ihn ne ganze Weile nicht mehr in den Urlaub entlassen. Aber das war dann Benji doch zu heikel. Ich glaube ja eigentlich, er will schon gehen, er braucht nur diese theatralischen Abgänge hier. Das haben glaub ich viele hier so. Die mögen einfach ihre Rolle des Verrückten zu sehr, als ob sie überhaupt wirklich gesund werden wollen würden.
Krissi, die Blutkonserve, hat mal zu mir gemeint, sie wolle unbedingt hier raus und fragte mich, womit sie das alles verdient hat. Während sie mich das fragte, schnitt sie sich nette kleine Kerben in ihren Unterarm. Ich mag sie. Wir waren lange Zimmergenossinnen. Ich gab ihr immer Tipps, was sie sich das nächste Mal in die Haut einritzen könnte. Ich sagte ihr einmal, wenn du dich schon schneidest, dann mach doch nicht immer nur gerade Kritze, mach Kreise oder irgendwelche Symbole. Inzwischen ist sie richtig gut geworden. Das grösste Werk, nach meiner Einschätzung, war bisher der Adler, den sie geritzt hat.
Ich will aber wieder zurück zum Ausgangspunkt kommen. Also Freitage sind meist sehr verrückt und aufregend, bis auf jenen Freitag damals, als Andy, der Strohkopf, von der Geschlossenen kam. Ich bin von Natur aus sehr neugierig und als da dieser Neue kam, war ich ziemlich aus dem Häuschen. Viele von uns sehen auf den ersten Blick eigentlich ziemlich normal aus, aber die Wenigsten sind es. Das merkst du meist erst, wenn du ihnen nahe kommst. Wenn sie dich plötzlich anschreien, oder dich einfach mit so einem abgrundtief durchgeknallten Blick anstarren. So einer, der sich durch die Haut und Eingeweide, bis zwischen deine Knochen hineinfrisst. Dann gibt es die, wo man gleich sieht, die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. Die, welche sowieso geistig behindert sind, oder meist auch die Schizophrenen, die mit der Luft zu sprechen scheinen oder die Tablettos, welche zugedämmert, wie geschrumpfte Zombies herumstehen oder dasitzen. Meist mit offenem, sabber unterlaufenen Mund. Klar gibt es auch die eher introvertiert Verrückten. So wie ich, Krissi, die Blutkonserve, oder eben Andy, der Strohkopf.
Er kam also in Begleitung von Jean, dem Schokopfleger, den Gang entlang. Er trug dunkelblonde, recht lange, strohige, ungepflegte Haare, die ihm bis zu den Schultern reichten. Ich schätzte ihn auf anfang zwanzig, also etwa so alt wie ich. Er hatte kleine Augen, oder vielleicht war er auch nur mit Medikamenten vollgepumpt –wer weiss. Sein rundes Kinn fiel mir zuerst auf. Es hatte so ein Grübchen am Kinn, so eine heikle Stelle bei der morgendliche Hygiene. Ich fand, es sah sehr süss aus. Er hatte einen ganz dunklen Blick und sein Mund war klein und irgendwie schlaff. Seine Lippen ganz farblos. Überhaupt war sein Teint blass und wenig reizvoll. Er trug ganz unpassende Kleider, so ein gehäckelter Pulli in rosa-grünen Farben und braune Wollhosen. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass da Schwester Monika, die Liebe, ihre Hände im Spiel gehabt hatte. Sie hatte das unglaubliche Bedürfniss allen Menschen zu helfen. Nur schon wie sie mit einem sprach. Ich wünschte mir schon längst, wir bekämen bald wieder mal so nen richtigen gewaltitigen Fall rein, so nen Hyperaggressiven, der sie mal aus Versehen erwürgt oder so ähnlich. Ich behaupte, seit sie hier ist, sind mindestens zwanzig Prozent der Entlassenen, nicht kuriert gewesen, sondern nur vor ihr geflohen. Da lebt man doch lieber mit Verfolgungswahn und 1001 Stimmen, als von so einer bemuttert zu werden.
Kaum hatte ich an diesem Nachmittag Andy gesehen, freute ich mich darauf seine Geschichte zu erfahren und machte mich mit ein paar gezielten Handfahrten durch mein widerspänstiges Haar schick. Doch der Strohkopf, Andy, machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. Mit dem Blick auf den Boden gerichtet, lief er an uns allen vorbei.
Jean brachte ihn direkt in sein Zimmer, das er mit Kolera Georg teilen musste. Das war meine Chance, dachte ich. Georg mag mich, na ja, er mag alles Weibliche und so hoffte ich zumindest über ihn etwas über den Neuen heraus zu kriegen. Unglücklicherweise, führten die Beiden keinen SmallTalk, es war schon verwunderlich, dass Kolera Georg überhaupt etwas von Andys Anwesenheit mitbekommen hatte. So verbrachte ich die nächsten Tage damit den Neuen während den Essenszeiten oder Gruppenaktivitäten zu beobachten, wo er sich nicht verstecken, aber so bewies er, sich noch immer von allen abkapseln konnte. Sein trüber Blick veränderte sich die ganze erste Woche nicht und ich hörte ihn nie auch nur ein Wort reden. Selbst bei Gruppengespräch blieb er stumm mit seiner eisernen Miene. Ich meine die Gruppengespräche. Die grösste LiveComedyshow überhaupt und er verzog keine Miene, während ich mich meist vor lachen kaum einkriegte.
„Eliane.“, pflegen dann die Schwestern oder Pfleger immer ganz ernst mahnend zu sagen, wenn ich kurz vor dem Losbrüllen bin.
Trotz all meiner Connection brachte ich es nicht zu Stande irgendetwas über ihn heraus zu finden.
„Sei doch nicht so neugierig, Eliane.“, massregelte mich Dr. Berger, das Granitmännchen. Dabei hasse ich es so, wenn man mich Eliane nennt. Ich fühl mich dann so gar nicht angesprochen. Ich bin Eli, aber das wollen die nicht kapieren. Und was heisst da, sei nicht so neugierig. Sie sagen doch immer, man müsse sich selbst akzeptieren. Und ich selbst bin jetzt eben neugierig.
Es ist ja kaum zu glauben, wie oft ich mich an der Brust von Herbie, dem Gasballon, in diesen zwei Wochen ausgeheult habe. Herbie ist unbeschreiblich dick. Wirklich ein Berg von Rundungen und Puddingartigen Erhebungen. Aber ich mag ihn von Herzen gern. Er ist ein dufter Kerl. Viel mehr als sein Reichtum an Fettpölsterchen, stört ihn seine Glatze. Er würde sich so gerne einen dicken Wuschel auf dem Kopf wachsen lassen. Denn er hat von der oberen Schedeldecke, über den Hinterkopf bis zum Genick hinunter eine dicke, hässliche Narbe von einer Operation, die er vor langer Zeit mal hatte machen müssen. Wie gesagt er ist ein ganz Lieber. Ich könnte stundenlang meinen Kopf in seinem Bauchberg vergraben, der so schön weich ist und angenehm warm gibt und ihm von meinen Gedanken erzählen. Herbie ist nämlich ein toller Zuhörer. Und die sind selten. Ich weiss, dass er zuhört, auch wenn er nur ganz selten etwas sagt. Doch wenn er was sagt, dann ist es was richtig Tolles und man sollte es sich am Besten gleich aufschreiben.
So sagte er mir in der etwa zweiten Woche nach Andys Ankunft, wo ich wieder darüber klagte, wie gerne ich mehr über ihn wissen würde: „Frag ihn doch.“, sagte er so ganz plötzlich und verstummte darauf wieder abrupt. Und so tat ich es. Beim Abendessen darauf, nahm ich mir vor ihn zu fragen. Andy sass immer ganz hinten, weit weg von allen anderen, ass seine Mahlzeit und verschwand dann wieder geräuschlos. Er erschrack nicht schlecht, als ich plötzlich ihm gegenüber Platz nahm. Selbst mir lief es kalt den Rücken runter, wie er mich plötzlich so mit riesigen Augen ansah und seine Gabel in den Teller fallen liess.
Ich stellte prall gefülltes Tablett hin und begann gemütlich zu essen. Ich dachte mir, so ein Gespräch musst du ganz nebenbei anpendeln. Doch er ass einfach nicht mehr weiter, sondern starrte mich die ganze Zeit über mit den selben riesigen Augen an. So funktioniert das nicht, dachte ich und lächelte ihm breit und freundlich entgegen. Es war wirklich mein bestes Lächeln. Doch er stand auf und lief einfach weg. Liess sein Essen liegen und verschwand. Da sprang ich auf und folgte ihm. Doch er lief immer schneller. Hin und wieder blickte er nach hinten und lief dann noch schneller. Schlussendlich rannten wir beide. Und ich wusste nicht mal wohin. War ich aus der Puste, als ich vor seinem Zimmer zu stehen kam und er mir die Zimmertür vor dem Gesicht zu schlug. Also klopfte ich an. Doch der tat keinen Wank, als wäre er gar nicht da. Dabei ist er ja vor meinen Augen reingegangen. Zum Glück bin ich mir einiges gewohnt und nehme solche Dinge nicht persönlich. Ich ging also schnur stracks zu Schwester Beate, der Kreuterhexe, und bat sie um einen Stift und ein paar Zettel. Mein Wunsch wurde erfüllt und ich kehrte zu Andys Zimmer zurück. Ich kritzelte los: „Ich bin Eli, wie heisst du?“, schrieb ich auf den ersten Zettel und schob ihn unter der Tür durch. Dann wartete ich. Nach einer Weile, mir war inzwischen langweilig geworden und bekam richtigen Hunger, schrieb ich einen neuen Zettel: „Wenn du verrückt bist, das macht nichts.“ Und schob ihn unten durch. Dann wartete ich wieder. Man, bekam ich einen Kohldampf. Dann schrieb ich noch einen Zettel: „Ich hab Hunger und geh essen, falls du auch Lust hast. Ich sitz am selben Platz.“, schob ihn unten durch und ging zurück mein kaltes Essen hinunterschlingen. Ich war schon beim Verdauungskaffe, sass da ganz alleine, als er plötzlich wie so ein verwaschener Pudel gelaufen kam, sich an den Tisch setzte und zu essen begann.
„Bist du stumm?“, fragte ich nach einer Weile, wo ich ihn nur beobachtet hatte.
„Nein.“, antwortete er ohne mich anzusehen.
Es war gut, hatte ich gefragt, irgendwie kam mir das alles schon recht merkwürdig vor. Doch irgendwann passierte es dann. Etwas von historischer Bedeutung. Er schluckte runter, legte die Gabel weg und sagte was:
„Warum bist du hier?“
Ich erschrack ja richtig, als er plötzlich zu reden anfing.
„Ich habe Angst.“
„Vor was?“, wollte er wissen.
„Vor dem da draussen.“, antwortete ich.
„Und warum bist du hier?“
„Ich habe auch Angst.“
„Vor was?“
„Vor dem hier drin.“.
Und noch einmal geschah was Verrücktes. Er grinste. Ja er grinste mich breit an und seine matten Augen begannen plötzlich zu leben, sein Gesicht bekam Fältchen und Grübchen, nicht nur am Kinn.
Das war der Anfang unserer Geschichte.