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Die Orange

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21.07.2025
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Anmerkungen zum Text

Erster Beitrag, bin sehr gespannt auf eure Kritik. Das ist eine Kurzgeschichte die ich noch in der Klinik geschrieben habe. Ich bin früher tatsächlich selbst als Zauberkünstler/Mentalist aufgetreten, soviel zum sonstigen Hintergrund...

P. S. : mit den Tags bin ich mir noch nicht so ganz sicher 😅

Die Orange

Die Orange
von J. B. Weber, 2025

„Sehr geehrte Damen und Herren und alle dazwischen sowie alle anderen Wesenheiten, die sich am heutigen Abend hier mit uns eingefunden haben mögen, ich heiße Sie willkommen zu den nächsten zwei Stunden voller obskurioser, suspektakulärer Groteskalation zum einmaligen Kammerspiel zu Ihrem Vergnügen, präsentiert von Dr. hc Viktor Wunderlich. In einigen Minuten wird die Darbietung beginnen, seien Sie gespannt.“

So war es der Conférencier, der uns mit bedächtiger Stimme und kaum merklicher Ironie darüber in Kenntnis setzte, was uns in jenem spärlich ausgeleuchteten Kellertheater, in das ich mich aufgrund des draußen wütenden Unwetters verirrt hatte, erwarten würde.

Eine leise Musik setzte ein, kaum mehr als ein Hintergrundrauschen, doch von eigentümlicher Wirkung – ein wenig unheimlich, mit einer melancholischen Schwere, die sich nicht erklären ließ. Woher die Musik kam, blieb unklar; der Raum selbst schien sie hervorzubringen.

Von einem Dr. Wunderlich war die Rede, der – wie beiläufig vermerkt – unter anderem als Gedankenleser auftrat. Ich musste kurz schmunzeln, als ich dies einem Zettel entnahm, der halb zerknüllt und mit mehreren runden Wasserrändern überzogen auf dem kleinen Holztisch lag, an dem man mich bei meiner Ankunft rasch und ohne weitere Erklärung oder einer Geste der Begrüßung platziert hatte.

Ja, die geisterhafte Erscheinung der Parodie eines Platzanweisers – eine auf positive Art groteske Person – hatte mir keine Zeit gelassen, mich zu orientieren. Ich saß schon und wusste nicht, ob ich zu früh war oder zu spät.

Um mich: ein breit gefächertes Publikum von etwa fünfzig Menschen – ein Drittel das, was man an bunt gemischten Individuen an einem Donnerstagabend erwarten würde, zwei Drittel „Gestalten“: die Art von Menschen, die sich nirgends zugehörig fühlen und darum überall erscheinen.

Die Bühne war noch leer. Oder vielmehr: leer gemeint.
Ein Hocker, eine halb geöffnete Arzttasche aus braunem, rissigem Leder, ein windschiefer Tisch – fast zu bewusst aus dem Gleichgewicht geraten –, darauf ein Messer und eine einzelne Orange.

Meine Kehle begann sich eng anzufühlen. Meine Handflächen wurden feucht. Mein Bein begann, wie selbstständig, nervös zu wippen, denn mit dem bloßen Anblick dieser Orange, dieser einen, still daliegenden Frucht, brach es über mich herein.

Sie müssen wissen, werte Leserinnen und Leser, dass ich selbst seit meiner Kindheit mit der Fähigkeit geschlagen bin, in die Köpfe meiner Mitmenschen hineinzublicken – wahrhaftig hineinzublicken, wie durch einen Riss im Schleier der Welt.

Es war kein Talent, das mir bewusst beigebracht wurde, sondern ein Zustand, der mir von Anfang an vertraut war.

In meiner Jugend versuchte ich – anfangs naiv, dann zunehmend verzweifelt –, andere davon zu überzeugen, sie verstehen zu lassen, was ich sah, was ich wusste, was ich zu tragen hatte.

Ich suchte Anerkennung, vielleicht auch Mitleid – oder wenigstens ein Zubrot.

Eine Zeit lang glaubte auch ich, dies durch Vorführungen gewinnen zu können – halb schüchterner Vortrag, halb zaghafte Darbietung.

Die Übung, mit der ich begann, war stets dieselbe: die Orange.
Ein Prüfstein, ein Spaltöffner, wenn man so will, um das innere Auge meines Gegenübers zu ertasten.
Denn gibt man den Menschen die schlichte Anweisung, sich eine Orange vorzustellen, so zeigen sich grob drei Arten der Einbildung – Spielarten der Imagination:

Die erste – die zahlreichste – ist jene der gänzlichen Verweigerung. Meist nicht aus Unvermögen, sondern aus Prinzip.
Ihre Vorstellungskraft flackert auf wie ein defekter Lichtschalter, ein flüchtiger Funke, der nicht zündet.
Vielleicht streift ein schemenhaftes Bild ihr waches Bewusstsein, doch es verweht, noch bevor es Farbe oder Gestalt annehmen kann.

Andere hingegen – weniger verschlossen, doch nicht freier – erzeugen in ihrem Geist ein Bild, zweidimensional, blass, wie eine Skizze auf rauem Papier.
Die Orange erscheint hier als Idee, nicht als Vision. Schraffiert, mit der bloßen Andeutung von Körperlichkeit.
Die Farbe – dieses satte, strahlende Orange – wird nicht gesehen, sondern gedacht.
Der Intellekt reicht sie nach, als Erklärung, nicht als Erfahrung.

Und dann gibt es sie – die wenigen, die seltenen Seelen –, deren Vorstellungskraft nicht gehorcht, sondern frei fliegt.
Sie schließen die Augen nicht, um zu fliehen, sondern um tiefer zu sehen,
und mit jedem Atemzug öffnet sich ihnen eine Welt.

Zunächst erkennen sie einen Ast – kräftig, gerade, eng umwachsen von dichten, sattgrünen Blättern.
Der Ast wirkt stabil, ruhig, unaufgeregt, aber von einer gewissen Präsenz,
als sei er nicht nur Teil eines Baumes, sondern Teil eines Gedankens, der sich immer fester verankert.
Wenn der Blick weiterwandert – oder vielmehr: wenn das innere Bild sich entfaltet –, erscheint an diesem Ast besagte Orange.

Sie hängt einzeln, schwer und voll, fast leuchtend in ihrer Farbe.
An ihrer feinporigen Schale haften zwei Tautropfen – klar, ohne Spiegelung und ohne Zier.

Sie setzen sich ganz zögerlich in Bewegung und gleiten langsam die Rundung hinab,
bewegen sich in elegantem Tanz aufeinander zu,
bis sie sich berühren, miteinander verschmelzen und gemeinsam zu Boden fallen.

Nicht laut, nicht bedeutungsvoll –
Sie verglühen einfach, kurz von Sonnenstrahlen zu einem funkelnden Stern verwandelt,
im unendlich schwarzen Schatten des Orangenbaums.

Würde nun die betrachtende Seele ihre Hand ausstrecken – nicht in der äußeren, sondern in der inneren Welt –,
die Frucht berühren, ihr Gewicht spüren, sie vielleicht sogar sanft bereiben, so wäre sie, auch noch nach dem Öffnen ihrer Augen, dazu imstande,
einen Hauch von dem süßlich-fruchtigen, einen unbeschwerten Sommertag versprechenden Duft wahrzunehmen,
der an ihren Fingern haften geblieben sein würde.

Kind müsste man wieder sein.
Nicht, um alles zu glauben –
Sondern um wieder alles sehen zu können.
Nur jene, die noch staunen können,
haben sich gegen die Vernunft der Welt
einen winzigen Garten bewahrt.

Von diesen, das wurde mir in jenem Moment klar, war niemand hier.
Niemand – außer mir und dem Doktor selbst,
der nun, leise und scheinbar müde, die Bühne betrat.

Er sah mit jenem leeren Blick,
der jeden Abend dasselbe sieht
und doch jedes Mal etwas anderes verliert,
über den windschiefen Tisch und die Orange hinweg
und mir direkt in die Augen.

Als hätte er in diesem Moment meine Gedanken gelesen, zerbrach er daran –

Doch ich wusste, wir fühlten uns nun beide
Weniger allein.

 

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