Die Prüfung
Wer hat nicht schon einmal Angst gehabt, in einer entscheidenden Situation zu versagen? Als Unterprimaner brachte ich diese Zeilen 1992 zu Papier.
Die Prüfung
Die Zettel werden ausgeteilt. Mein Herz schlägt rasend. Ich bekomme mein Aufgabenblatt. Es liegt rückseitig auf dem Tisch. Ich darf es nicht hochheben. Alle warten gespannt. Zumindest glaube ich das. Weißes Papier auf einem dunkelbraunen Tisch. Es riecht streng nach Matrizenflüssigkeit. Im ganzen Klassenraum wird getuschelt. Nun dürfen wir es ansehen. Ich sehe die Aufgaben. Ich lese die Wörter. Ich lese sie dreimal durch. Alles ist leer in meinem Kopf. Die Wörter selbst sind leer. Ich verstehe nichts. Ich begreife nichts. Die Wörter haben keine Bedeutung. Sie sind leer. Ich bin leer. Viel Mühe hat er sich gegeben mit der Schreibmaschine. Ich sehe die Wörter an. Sie grinsen hämisch zurück. Zwei verschmolzene Buchstaben. Die Wörter sagen gar nichts. Ich habe keinen Anhaltspunkt. Ich drehe mich vorsichtig um. Alle schreiben. Alle sehen sorglos aus. Sie können es. Ich nicht. Ich weiß gar nichts. Ich spüre nur meinen Atem. Er ist stark. Er geht durch Mark und Pfennig. Mark und Bein. Ich schreibe eine Zahl. Weiß nicht, welche. Egal. Nein, nicht egal. Wieviel Zeit habe ich noch? Die anderen schreiben ganze Romane. Ich habe noch gar nichts. Ich verstehe das nicht. Ich habe doch soviel gelernt. Tag für Tag. Was soll ich schreiben? Wie löse ich das jetzt? Und die anderen schreiben. Sie machen mich rasend. Die tun doch nichts! Woher können die das bloß? "Noch fünf Minuten!" höre ich von vorn. Oh, nein! Ich habe doch noch gar nichts! Gar nichts! Was jetzt? Die Zeit fließt weg wie Wasser. Ich kann nicht denken. Zu Hause gibt´s Tränen. Junge! Wofür schicken wir Dich aufs Gymnasium? Die anderen werden alle lachen. Sie werden tuscheln. Sie wissen es alle. Sie glotzen mich an. Jetzt schon. Als wüßten sie es im voraus. Nein! Der Gong! Mein Herz zerspringt fast! Ich zittere. Mein Füller macht einen Klecks auf das Papier. Und nun? Die anderen stehen auf. Ich zittere. Der Lärm stört. Ich kann nicht denken. Ich halte das Blatt fest. Ich starre wie hypnotisiert darauf. Es ist aus! Die anderen sind lustig. Die haben es ja auch geschafft. Plötzlich wird mir das Blatt von oben entzogen. Er hat es! Ich sehe gebannt auf den leeren Tisch. Er sieht das leere Blatt. Das glaube ich wenigstens. Alle haben es mitbekommen. Die letzten verlassen den Raum. Ich kann nicht aufstehen. Soll ich nach draußen gehen? Draußen stehen sie. Sie werden dumme Kommentare abgeben. Was ist das? Es schellt, aber der Gong ist es nicht. Es schellt noch immer. Ich werde wach. Ich habe die Arbeit in den Sand gesetzt. Es ist alles so schlimm. Oder? Moment! Ich liege ja noch zu Hause im Bett? Habe ich die Arbeit etwa noch gar nicht geschrieben? Es ist zehn nach sechs. Das kann ja nicht sein. Dann habe ich alles nur geträumt? Ein sehr intensiver Traum; das muß ich schon sagen! In keinem Augenblick, in dem ich träumte, habe ich auch nur den geringsten Zweifel an dieser scheinbarenRealität, die mir alle nur erdenklichen Schwächen und Mißstände, die eine geradezu vorherbestimmte Beeinträchtigung menschlicher Schaffenskraft hervorrufen, gehegt, wobei mich die nunmehr einsetzende Bewußtwerdung mit einer tiefen inneren Zufriedenheit und einer lang vorhaltenden Fröhlichkeit erfüllt und sie mir eine ungeahnte Ruhe einflößt, was mich in dem Gefühl bestärkt, diesen Tag nicht erfolglos abschließen zu können.