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Die Prophezeiung

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02.06.2001
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Die Prophezeiung

Wann immer sich die Gelegenheit hierzu bot, trug er Erfahrungen oder Bemerkungen in sein schwarzes Notizbuch ein. Über den Daumen gepeilt mochten es zweihundert Seiten sein, die mit seiner winzigen, fast kryptischen Schrift gefüllt waren. Er war sich sicher, dass niemand außer ihm selber diese Schrift entziffern konnte. Deshalb lagerte er das Buch arglos in einer der Schubladen des alten Schreibtisches, nicht, ohne sich die Position, in der er das Buch in die Lade gelegt hatte, zu merken. So konnte er später feststellen, wenn ein Unbefugter sich Zugang zu seinen Gedanken verschaffen hatte wollen.
Tatsächlich war dies wohl einige Male der Fall gewesen. Er vermutete seine Mutter oder seinen jüngeren Bruder hinter diesen niederträchtigen Anschlägen auf die Privatsphäre eines 16jährigen. Nie hatte er auch nur anklingen lassen, dass er davon wusste. Er behielt dieses Wissen für sich, wie fast alles, das er in Erfahrung gebracht hatte - und das war eine ganze Menge.
Vielleicht wäre er heute einer der vielen gelangweilt-frustrierten Jugendlichen auf dem halbherzigen Sprung zum Erwachsensein, wenn nicht sein Bruder Ted nur drei Jahre nach seiner Geburt gleichsam das trügerische Licht dieser Welt erblickt hätte.
John hatte sich plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses seiner Eltern und Verwandten befunden. Ted hatte ihm den Rang abgelaufen. Das war noch nicht einmal die schlimmste Lektion gewesen, die Jahre später folgen sollte.
John hatte in der Grundschule die für ein Kleinkind rätselhaften Mysterien des Lesens und Schreibens entschlüsselt und versucht, seine Eltern mit selbsterdachten Gedichten zu beeindrucken. Anfangs hatten seine Eltern den Anschein erweckt, über den Fleiß ihres ältesten Sohnes erfreut zu sein, doch allmählich hatte sich John mehr und mehr zurückgesetzt gefühlt.
Immer noch stand Ted im Zentrum des familiären Geschehens.
John war verärgert und verbittert, und seither hatte er es tunlichst vermieden, Aufsehen erregen zu wollen. Entscheidender für seine Wut war das Auffinden mehrerer seiner Zettel mit Gedichten im Abfalleimer gewesen.
Da war ihm klar geworden, was er seinen Eltern bedeutete. Nichts.
Und so entwickelte sich John zu einem introvertierten Jugendlichen. Er sprach kaum etwas, und wenn, dann bedeutungsschwangere Sätze oder blasphemische Flüche. Was Wunder, dass ihn seine Lehrer stets für einen apathischen Jungen hielten (was sie in den Beurteilungen in abgeschwächter Form bekundeten), während seine Klassenkameraden einen notorischen Langeweiler in ihm sahen?

Er ¬schlug das Notizbuch auf, blätterte, bis er die letzten Eintragungen fand, und nahm den Kugelschreiber zur Hand. Aus den Lautsprechern des Radios quoll nostalgisch-verklärt ein alter Marvin Gaye-Song.
Unwillkürlich musste John leise lachen. Es war einfach köstlich, wie er sie alle zum Narren hielt! Seit mindestens acht Jahren bekleidete er die Hauptrolle eines Theaterstückes, das er selber geschrieben hatte und noch mindestens zwei Jahre wegen des großen Erfolges fortzusetzen gedachte.
Niemand hatte ihn je unkostümiert und ungeschminkt gesehen. Für die meisten war er der lethargische oder schlichtweg verblödete Junge vom alten Decker. Ein paar Menschen, darunter sein Bruder Ted, hatten eine andere Facette Johns am eigenen Leibe verspürt; jene dunkelste Seite, die er zu zeigen bereit war. Einstweilen.
Es war der Cousin seines Vaters gewesen, der ihm endgültig die Augen geöffnet hatte, indem er beiläufig einmal folgendes erwähnt hatte: "Die meisten Menschen sind nichts anderes als Maschinen. Wenn man die richtigen Knöpfe an ihnen drückt, erlangt man Kontrolle über sie."
Dieses Zitat war John wichtig genug erschienen, um es in sein Buch aufzunehmen. Und in jedes neue, wenn das alte voll geschrieben war.
Und wirklich konnte man Menschen manipulieren, wenn man imstande war, die richtigen Knöpfe zu drücken. Sein Grundsatz lautete seit jeher: „Zeige dich niemals so, wie du bist. Zeige erst dann Stärke, wenn es angemessen ist.“
Nun, dachte er, bis dahin würde es noch ein weiter Weg sein, aber er würde es schaffen. Dieses Land, das gesamte Erdenrund, wartete auf den, der die Knöpfe drücken würde. Und das würde er, John, sein. Er wusste es einfach.
„Nietzsche schrieb vom Menschen der Zukunft, der den Willen frei machen und der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgeben würde. Und weiters schrieb er: ‚Dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen.’ Bin ich töricht in meiner Anmaßung zu behaupten, dass mein germanischer Seelenfreund meine Gestalt in seinem Verstande trug, als er dies zu Papier brachte? Nietzsche war ein Seher seiner Zeit, denn er sah meinen Triumph voraus. Er sah mich! Ich werde es sein, der dieser kranken Welt Lebensatem einhauchen wird; ich werde es sein, der den Sklaven dieser Welt ihre Ketten zerschlägt; ich werde es sein, der den Hungrigen dieser Welt Brot kredenzen wird. Ich. Ich! Meine Macht wächst, ich spüre es. Sie wächst, und ich mit ihr. Warte, Welt, warte auf deinen Befreier. All jene vor mir, die es versprachen, sind gescheitert, denn sie waren verblendet, selbstgefällig, tumb und schwach. Der Starke muss nur einmal beweisen, dass er stark ist. Der Schwache muss es immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen. Ich bin stark. Erwachet, ihr Rechtlosen, erwachet und kommt zu mir, der ich euch Schutz gewähren werde, der ich stark bin. Erzittert, ihr, die ihr euch in Wohlgefallen ergeht, denn ich werde euer Schlächter sein. Und so sage ich: Welt, hier naht dein Befreier!'
Nachdenklich brütete er über den letzten Sätzen. Hier war Wahrheit gesprochen worden, ging es ihm durch den Kopf. Seine Wahrheit, die bald jene der ganzen Welt sein würde.
Sollten diese Dummköpfe ruhig glauben, er sei depressiv, es könnte ihm nur recht und billig sein.
Sollten sie ihn nur weiterhin unterschätzen, er würde sie in ihrer Meinung sogar bestärken. Ted wusste, dass mit seinem vom Schicksal zu großen Taten auserkorenen Bruder nicht zu spaßen war, doch er würde es nicht verraten. Er hatte zu viel Angst vor John.
Und damit war er nicht alleine, wie der gute alte Timmy bestätigen hätte können, wurde er nicht ebenfalls Angst vor John haben. Timmy, der John auf dem Gehweg das Bein gestellt hatte, woraufhin dieser in eine schmutzige Pfütze gefallen war und das Gelächter und den Hohn der nachkommenden Schüler über sich ergehen lassen hatte müssen. John hatte nichts gesagt, war einfach nach Hause gegangen, als wäre nichts geschehen. Wenige Tage später war Timmy mit blutiger Nase, aufgeschlagenen Lippen und blauen Augen heimgekehrt. Er hatte sich beharrlich geweigert, den Namen desjenigen zu nennen, der ihm dies angetan hatte. Eine Sache der 'Ehre' hatte Timmy hartnäckig behauptet. Jedenfalls war er danach Konfrontationen mit John aus dem Weg gegangen und hatte gut daran getan.

Kathie war vermutlich jene Person, die John am Nähesten stand. Sie wusste, dass John absichtlich nur durchschnittliche Arbeit in der Schule leistete, was sich auf die Zensuren negativ auswirkte. Manchmal dachte sie, dass John der intelligenteste, nichtsdestotrotz Furcht einflößendste Mensch war, der jemals ihren Lebensweg gekreuzt hatte.
Anfangs hatte sie angenommen, er würde ihr echtes Interesse entgegenbringen. Doch schon bald hatte sie begreifen müssen, dass er sie als Spielstein auf einem Spielfeld herumschob, ohne dass sie sich dessen erwehren konnte. Er ließ sich nur dann herab mit ihr zu sprechen, wenn er gerade Lust danach verspürte, was reichlich selten eintrat.
Aber gerade dann brachte sie jene seltsame Hass-Liebe auf, die sie an ihn band. Sie hing an einer Art Gummiseil, dessen loses Ende in Johns Händen lag. So oft sie ihm zu entfliehen versuchte, es gelang ihr nie. Stets riss sie das gedehnte Gummiseil zurück zu John.
Er genoss diesen Zustand völliger Macht über einen Menschen. Das wusste Kathie.
Was sie nicht wusste war, dass John lediglich die richtigen Knöpfe gedrückt hatte, wie er es später bei vielen anderen Menschen tun würde. Jahrelang hatte er Kathie genauestens beobachtet und studiert, bis ihm die Mechanismen der Macht auch in der Praxis klar geworden waren
DAS war das Problem vieler Menschen: Sie brauchten jemanden der ihnen sagte, was sie zu tun hätten. Zu ihrem Glück war dieser Jemand nur noch wenige Jahre davon entfernt, Befehle zu erteilen.
Selbstverständlich war sich Kathie bewusst, dass John sie akzeptierte, mehr nicht. Entsetzt wäre sie gewesen, hätte sie von seinem grenzenlosen Hass gewusst, der niemanden aussparte.
Er hasste alle Menschen dieses Planeten.
So darbte Kathie in der naiven Hoffnung, er würde sie wenigstens mögen. Seine Seele sprach eine andere Sprache und deshalb war der Wunsch, sein Herz zu erobern, absurd und fatal. John konnte nicht lieben, denn Hass brannte wie loderndes Feuer in ihm, das jene, die sich ihm anschlössen, verzehrte.
Seine Seele war zwar genährt von Hass, doch seine Worte waren geduldiger.
Sein Talent, labile Persönlichkeiten in seinen unheilvollen Bann zu ziehen, war ihm schon mit fünfzehn gegeben gewesen.

Er war kein verträumter Spinner, er war entschlossen und tatkräftig. Dies war es, das erfolgreiche Menschen auszeichnete: Entschlossenheit und Mut zur bitteren Konsequenz.
Und so geschah es, dass John seine eigene Prophezeiung erfüllte. Er konnte es nicht ahnen, doch sein Triumph war nicht ihm alleine zuzuschreiben. Eine Macht, deren Existenz ihm völlig unbekannt war, hatte ihn wesentlich geprägt. Eine Macht, der Seelenschwarze vertraut war und immer sein würde.
Eine Macht, die Johns inneres Feuer schürte und hoffte, diese Welt würde dereinst darin verglühen.
Und so geschah es. Damals, in der fernen Zukunft, unter den glühenden Sternen der ewigen Nacht die uns verschlang.

 

Liest sich wie die Geschichte eines Psychos, der sich einbildet, der Untergang der Menschheit hätte irgendetwas mit ihm zu tun. Ein machtbesessener - außerhalb seines eigenen kleinen Universums - Machtloser . Wenn nicht der Schlussabsatz wäre, der eine übergeordnete Instanz in die Geschichte einbringt, die mir als Leser so vorkommt, als sollte sie die Geschichte aus eben dem vorher beschriebenen Plot retten. Leider reicht der Absatz mE nicht, um die Geschichte soweit aufzuwerten, dass ich sie nicht als eine deiner schwächsten bezeichnen würde. Ist sie wirklich neu, oder hast du sie aus einer Schublade gezogen? Ersteres würde mich sehr erstaunen.

 

Ja, die ist tatsächlich eine meiner älteren Geschichten! Entstand im Kontext eines Romans (nein, der ist nicht für die schwachen Augen der Menschheit bestimmt). Ich fand den Text ganz interessant, weshalb ich ihn hier reinsetzte. Doch sei unbesorgt: Das soll nicht bedeuten, dass ich alle meine Storys tatsächlich poste! Die wirklich Miesen wurden/werden gelöscht bzw. verstauben in der Schublade. :)
Danke fürs Lesen.

 

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