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Die Puppe
Es war dunkel, als Tanya die Augen aufschlug. Dunkel und still. Tanya wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten und versuchte herauszufinden, was sie geweckt hatte. Kein Geräusch klang aus dem alten Haus, und auch durch das leicht geöffnete Fenster war kein Laut zu vernehmen. Das Fenster… sollte sich das Fenster hinter den Vorhängen nicht langsam als hellerer Fleck gegen die Dunkelheit abheben? Am Abend, als Tanya nach einem langen und anstrengenden Tag zu Bett gegangen war, hatte noch alles auf eine klare und kalte Nacht hingedeutet, in der die vielen Sterne viel deutlicher am Himmel zu sehen waren, als sie es aus der Stadt gewohnt war.
Doch die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Wie eine Decke aus Schwärze, die sich über das Zimmer gelegt hatte. Einengend. Erstickend. Eine düstere Masse massiver Dunkelheit, die sich am Fuß des Bettes zusammenballte. Und die mit kalten, klammen Fingern über ihren Nacken glitt. Mit einen erstickten Keuchen fuhr Tanya zum Nachtisch herum und tastete blind nach dem Schalter der kleinen Lampe, die darauf stand. Ein eisiger Lufthauch fuhr über Tanyas nackte Arme, und ein kalter Schauer lief ihr dem Rücken hinunter, während sich die feinen Haare in ihrem Nacken aufstellten. Plötzlich war sie sich absolut sicher, dass außer ihr noch jemand im Zimmer war und sie in der Dunkelheit anstarrte.
Mit einem leisen Klicken legte sich der Schalter um, und die kleine Nachttischlampe tauchte das Zimmer in warmes Licht. In einer Ecke standen noch die unausgepackten und einige leere Umzugskartons, dem Bett gegenüber der große dunkle Kleiderschrank und neben dem Fenster der altmodische Sekretär. Ansonsten war das Zimmer leer. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen war jetzt das fahle Licht des Mondes zu sehen. Tanya rutschte bis zum Fußende des Bettes, setzte die Füße auf den Boden vor dem massiven Fußteil und stand auf. Dann ging sie einige Schritte in Richtung des Fensters, ließ sich auf die Knie sinken und sah unter das Bett. Nichts. Seufzend stand sie auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Nichtmal eine Woche allein im neuen Haus und ich drehe durch. Na, das kann ja noch schön was werden“, murmelte sie.
Nach einem weiteren prüfenden Blick durch das Zimmer trat sie auf die Tür des angrenzenden kleinen Badezimmers zu. Sie zögerte kurz, drückte dann aber auf den Lichtschalter, öffnete die Tür und sah in den Raum. Auch hier war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. In der Duschwanne saß noch immer die alte Puppe, die sie zum Trocknen hineingelegt hatte, und in der Ecke neben dem Waschbecken stand auch hier ein noch nicht ausgepackter Umzugskarton.
Tanya trat an das Waschbecken heran und sah in den Spiegel.
„Du solltest Dich wirklich an das Alleinsein gewöhnen“, sagte sie zu ihrem blass und ziemlich zerzaust aussehendem Spiegelbild. „Und Dir die Selbstgespräche ganz schnell wieder abgewöhnen.“
Sie drehte den Wasserhahn auf, schöpfte sich mit den Händen das kalte Wasser ins Gesicht und trank einige Schlucke. Mit einem weiteren Seufzen tastete Tanya nach dem Handtuch und richtete sich wieder auf. Und blickte in ein Paar boshaft funkelnder Augen, die sie aus einem blassen Gesicht neben ihrem eigenen Spiegelbild anstarrten.
Mit einem leisen Schrei fuhr Tanya herum. Hinter ihr war das Badezimmer leer. Mit wildem Blick suchte sie alle Ecken des Raums ab. Nichts. Mit rasendem Herz drehte sie sich wieder zum Spiegel um. Doch als sie hineinsah, war das einzige, was sie daraus ansah, ihre eigenen panischen Augen.
„Ich drehe durch“, murmelte Tanya.
Wieder sah sie sich nervös um. Nichts. Den Blick auf den Spiegel gerichtet wich sie langsam zur Tür zurück. Aus den Augenwinkeln glaubte sie eine Bewegung in der Duschwanne zu sehen und drehte sich ruckartig dorthin. Nur die Puppe saß noch immer regungslos in der Wanne und sah sie mit einem hämischen Grinsen auf dem Porzellangesicht an.
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Am Morgen zuvor
Die aufgehende Sonne tauchte den Morgenhimmel in ein Meer aus flammenden Rottönen und blassem Rosa als Tanya aus der Haustür trat. Nebelschwaden lagen dicht über dem Boden und ließen die Landschaft wie ein Bild aus einem Märchen erscheinen. Tanya atmete tief ein und genoss die frische Luft.
In der Stadt, wo sie zuletzt gewohnt hatte, lag morgens auch ein Schleier über den Straßen, dieser kam allerdings von den vielen Abgasen und schien sich schon am frühen Morgen wie eine Schicht aus Dreck über die Stadt zu legen, die alles Leben ersticken wollte. Die Vorstellung daran erinnerte sie an den Grund, aus dem sie aus der Stadt weggegangen war und sich hier ein altes Landhaus gekauft hatte, in dem die Zeit irgendwann in den frühen Jahren des vorherigen Jahrhunderts stehen geblieben zu sein schien. Martin, ihr Freund. Exfreund. Auch die Beziehung mit ihm hatte sich im Laufe der Zeit zu etwas entwickelt, das Tanya mit seinem Druck den Atem nahm und jede Zufriedenheit in ihr zu ersticken drohte. Nun hatte sie es endlich geschafft, einen Schlussstrich zu ziehen und hatte beschlossen, ein neues, ein eigenes Leben zu beginnen.
Und hier stand sie nun. Vor ihrem eigenen Haus am Rande eines kleines verschlafenen Dörfchens, in dem sie in etwas mehr als einer Woche ihren neuen Job antreten würde. Ihre Freunde hatten sie für verrückt erklärt, als sie ihnen gesagt hatte, wo dieser neue Job und dieses neue Leben sein würden, und als die Mitarbeiter der Umzugsfirma wieder weg waren, als Tanya zum ersten Mal allein in dem alten Haus war und aus dem Fenster über den kleinen Ort sah, da hatte sie sich auch gefragt, was in aller Welt sie sich nur dabei gedacht hatte hierher zu ziehen. Aber als sie nun an diesem Morgen auf die stille und friedliche Landschaft in all ihrer märchenhaften Schönheit blickte, da war sie sich sicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Um wirklich ein neues Leben beginnen zu können, musste man schließlich auch das alte hinter sich lassen.
Das Geflatter eines Vogels, der aus dem Nebel emporstieg, riss Tanya aus ihren Gedanken. Sie hatte noch viel vor, es waren noch viele Kisten und Kartons auszupacken, aber zuvor wollte sie sich ein wenig die nähere Umgebung ansehen.
Am Ende des verwilderten Gartens grenzte eine dichte Wand aus Büschen und Gestrüpp das Grundstück von den umliegenden Wiesen ab. An den kahlen Ästen hingen Tautropfen, die das frühe Morgenlicht wie funkelnde Diamanten reflektierten. Durch das Gestrüpp konnte Tanya Nebenschwaden sehen, die über dem Boden lagen, und die dichter erschienen als hinter ihr im Garten. Ein leises, fast unhörbares Plätschern drang an ihre Ohren, ein Geräusch, als würde sich Wasser im leichten Wind kräuseln und Wellen an ein flaches Ufer schwappen. Sie ging ein Stück an den Büschen entlang, bis sie schließlich zu einer Lücke im Gestrüpp kam. Im Sommer, wenn die Büsche und Bäume im vollen Laub standen, wäre diese Lücke wahrscheinlich nicht zu sehen gewesen, aber jetzt schien sie ihr gerade groß genug um hindurchzuschlüpfen.
Als Tanya sich vorsichtig durch die Büsche schlängelte, immer darauf bedacht, nicht irgendwo mit der Jacke hängen zubleiben, glaubte sie plötzlich ein Wispern zu hören, wie Stimmen aus weiter Ferne. Sie blieb stehen und sah zum Haus zurück. Vor ihr lag der Garten, hinter dem das Haus wie ein Motiv aus einem Gemälde aufragte. Ein nicht besonders großes Haus, aus groben grau-braunen Steinen gebaut, mit einem grauen Schieferdach und weißen Fensterrahmen. Einladend, gemütlich, irgendwie heimelig. Ihr Haus. Ihr neues Zuhause. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie lauschte noch einmal, aber jetzt war das Geräusch nicht mehr zu hören. Tanya zuckte mit den Schultern und suchte sich dann weiter ihren Weg durch die Büsche.
Nach einigen Schritten war sie auf der anderen Seite des Gestrüpps angekommen und sah wenige Meter vor sich einen Teich, über dessen ruhiger Oberfläche dichte Nebenschwaden trieben. Ein Teich direkt vor ihrer Haustür! Er gehörte zwar streng genommen nicht mehr zu ihrem Grundstück, aber es hätte bestimmt niemand etwas dagegen, wenn sie sich an warmen Sommerabenden einen Tisch und einen Liegestuhl hier draußen hinstellen würde.
Tanya ging am Ufer des Teichs entlang, als eine Bewegung im flachen Wasser am Ufer ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Etwa einen Meter vom Ufer entfernt lag etwas am Grund des Teiches. Eine dunkle Form mit einem hellen Fleck an einem Ende. Darüber schwebte etwas an der Wasseroberfläche, das auf den ersten Blick wie Algen aussah. Vorsichtig trat Tanya näher an das Wasser heran und beugte sich vor, um die Form besser betrachten zu können. Bei näherem Hinsehen wurde der helle Fleck zu einem Gesicht und die Algen erwiesen sich als Strähnen dunklen Haares, die sich in der sanften Bewegung des Wassers wiegten.
Mit einem erschrockenen Keuchen wich Tanya zurück. War das etwa ein Mensch, der dort leblos im Wasser lag? Sie wollte sich gerade umdrehen um zum Haus zurückzulaufen, als ihr klar wurde, dass die Form viel zu klein war für einen Menschen. Zögernd trat sie einen weiteren Schritt an das Wasser heran. Auf den zweiten Blick konnte sie nun sehen, dass es tatsächlich kein Mensch war, der dort am Grund des Teiches lag, sondern eine Puppe.
Neugierig beugte sie sich noch weiter vor und tastete nach der Puppe. Schließlich gelang es ihr, diese mit den Fingerspitzen so weit an sich heranzuziehen, dass sie sie packen und aus dem Wasser ziehen konnte. Es war eine alte Puppe. Kein Kinderspielzeug, sondern eine Puppe mit einem Kopf aus Porzellan, wie man sie heute für viel Geld in Antiquitätengeschäften kaufen konnte. Die Farben des Gesichtes waren verblasst, an einer Stelle des Kopfes fehlten die dunklen Haare, und das elegante dunkelrote Kleid der Puppe war an einigen Stellen eingerissen und löchrig. Trotzdem war sie in einem erstaunlich guten Zustand, was darauf hindeuten mochte, dass sie nicht lange im Wasser gelegen hatte. Das Gesicht der Puppe war völlig unbeschädigt und hatte, anders als moderne Puppen, nicht die Gesichtszüge eines Babys, sondern die einer erwachsenen Frau. Tanya meinte sich erinnern zu können, dass solche Puppen früher teilweise als ein Abbild ihrer Besitzerin geschaffen und sogar mit deren echtem Haar gestaltet worden waren. Auch das Haar dieser Puppe schien echt zu sein, soweit Tanya das beurteilen konnte.
Ob diese Puppe wohl aus ihrem Haus stammte? Das Kleid schien genau zum Stil des alten Mobiliars zu passen. Die meisten Einrichtungsgegenstände waren noch dieselben, mit denen die ursprünglichen Erbauer das Haus ausgestattet hatten. Vielleicht hatte ja auch diese Puppe fast ein Jahrhundert lang im Schrank des Wohnzimmers gesessen, bis irgendwann ein Kind sie mit hinaus genommen hatte und sie beim Spielen in den Teich gefallen war.
„Na, es wäre ja wirklich eine Schande, ein solches Prachtstück einfach im Wasser liegen zu lassen“, sagte Tanya, als sie vorsichtig mit den Fingern über das Gesicht der Puppe strich und sich dann wieder auf den Rückweg machte.
Zurück im Haus ging sie in das Badezimmer, das an ihr Schlafzimmer angrenzte und begann vorsichtig, ihren Fund mit klarem Leitungswasser abzuwaschen. Während sie den Dreck und den leicht schleimigen Überzug, der sich während ihres Aufenthaltes im Wasser an der Puppe festgesetzt hatte, abwusch, stellte Tanya immer mehr fest, mit welch beeindruckender Detailgenauigkeit das Gesicht der Puppe gefertigt worden war. Die eleganten, aber trotzdem leicht asymmetrischen und nicht ganz perfekten Gesichtszüge ließen sie vermuten, dass die Puppe tatsächlich einer lebenden Person nachempfunden und nicht einfach nur ein Spielzeug oder ein schlichtes Sammlerstück war. Schließlich trocknete Tanya die Puppe so gut wie möglich mit einem weichen Handtuch ab und setzte sie dann in die Duschwanne.
„Du machst es Dir hier am besten mal schön gemütlich, während ich mich weiter um mein Umzugschaos kümmere“, sagte sie leise und kam sich nur ein klein wenig albern vor, dass sie mit einer Puppe sprach.
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Mit einem fassungslosen Aufschluchzen wich Tanya vor dem grotesken Gesicht der Puppe zurück. Dabei rutschte sie mit dem linken Fuß mit dem Badteppich weg und kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht. Nach wenigen Augenblicken hatte sie sich wieder gefangen und blickte zur Puppe hinüber, voller Angst und Entsetzen, was sie dort erwarten würde. Die Puppe saß noch immer in der Duschwanne und blickte aus ihren dunklen Glasaugen im unbewegten Porzellangesicht in die Unendlichkeit.
Am nächsten Morgen wusste Tanya nicht, wie sie die Nacht überstanden hatte. Sie hatte beim warmen Schein der Nachttischlampe mit angezogenen Beinen und an das Kopfende des Bettes gedrängt im Bett gesessen und hatte angestrengt auf jedes Geräusch gelauscht. Immer wieder hatten ihr die Schatten in den Ecken des Raumes Bewegungen vorgegaukelt, und mehrfach hatte sie geglaubt, ein leises Kichern aus dem Badezimmer zu hören.
Schließlich war sie doch irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen, und als sie aufwachte, drang zwischen den Vorhängen helles Tageslicht in das Zimmer.
Wie in der Nacht zuvor kletterte Tanya über das Fußende aus dem Bett und ging zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen. Warmes Sonnenlicht durchflutete den Raum, und durch die geöffneten Fenster drang das Zwitschern der Vögel an ihre Ohren. Irgendwo bellte ein Hund.
Die Aussicht aus dem Fenster bot ein so idyllisches und friedliches Bild, dass die Geschehnisse der Nacht ihr plötzlich sehr unwahrscheinlich vorkamen. Eine unsichtbare Präsenz in ihrem Zimmer. Ein geisterhaftes Gesicht im Spiegel. Eine dämonische Puppe, die sie voller Bosheit anstarrte. Wahrscheinlich hatte sie am Abend zu spät und zu schwer gegessen, und höchstwahrscheinlich hatten sie nun endgültig diese unheimlichen Bücher und Fernsehserien eingeholt, die sie so gerne mochte.
Trotzdem zögerte sie, als sie vor der Tür zu dem kleinen Badezimmer stand. Schließlich drehte sie sich um und ging stattdessen in das große Badezimmer auf dem Flur, um zu duschen und sich für den Tag fertig zu machen.
Während des ganzes Vormittags, als sie Sachen aus ihren Umzugskartons auspackte, ertappte sich Tanya immer wieder dabei, hinter geöffnete Türen und in die dunklen Ecken der Zimmer zu schauen, bevor sie dort mit dem Einräumen begann, und auf verdächtige Geräusche zu lauschen.
„Verdammt, das kann ja wohl nicht wahr sein! Da habe ich endlich mein eigenes Haus und ich will nur noch schreiend hinauslaufen und mich irgendwo verstecken!“, schimpfte sie schließlich und warf wütend ein Kissen in die Ecke. „Das ist mein Haus! Mein ruhiges und stinknormales Haus!“
Irgendwo im Obergeschoss knallte eine Tür.
Nach einer weiteren Stunde angespannten Auspackens entschloss sich Tanya schließlich, etwas an die frische Luft zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Als sie mehr oder weniger ziellos durch ihr neues Heimatdorf wanderte, fand sich Tanya irgendwann vor der öffentlichen Bibliothek wieder. Es kam ihr erstaunlich vor, dass ein so kleiner Ort überhaupt eine solche Einrichtung hatte, aber dann erinnerte sie sich gelesen zu haben, dass es hier früher mal ein wichtiges Kloster gegeben hatte, und dass in der Bibliothek auch das Archiv mit den historischen Dokumenten und Unterlagen untergebracht war.
Neugierig betrat sie das alte Haus, das die kleine Bibliothek und das historische Archiv beherbergte. Hier konnte sie ein bisschen über die Geschichte des Ortes nachlesen, und vielleicht würde sie auch etwas Interessantes über ihr Haus erfahren.
Dank des Hinweises des älteren Herrn, der als Bibliothekar und Archivar tätig war, fand sie sehr schnell die Reihe mit Büchern und Unterlage, die sich mit der allgemeinen Geschichte des Ortes auseinandersetzen. Sie hätte ihn gerne direkt befragt, aber Mr Collins, wie sein Namensschild verriet, war voll und ganz damit beschäftigt, gemeinsam mit einer etwas entnervt wirkenden Lehrerin eine Bande von Kindern unter Kontrolle zu halten. Oder es zumindest zu versuchen. Nach einem kurzen Hinweis, wo die Bücher, die Tanya suchte, zu finden waren, wurde er sofort wieder von einem kleinen Mädchen in Beschlag genommen, das unbedingt wissen wollte, warum denn die Brüder im Kloster damals nicht reden konnten.
Obwohl sie viele interessante und auch teilweise etwas skurrile Dinge über ihren neuen Heimatort erfuhr, fand Tanya in den alten Büchern keine Informationen über das Haus, das sie vor kurzem gekauft und in dem sie gerade erst eine so erschreckende Nacht verbracht hatte.
Sie war gerade dabei, gedankenverloren eine vergilbte Zeitung durchzublättern, als ihr ein Foto darin auffiel. Es zeigte einen vornehm aussehenden älteren Mann, der hoch aufgerichtet neben einem Stuhl stand, eine Hand auf der Stuhllehne, die andere in der Tasche seines eleganten dreiteiligen Anzuges. Auf dem Stuhl saß eine Frau mittleren Alters mit eleganten, aber leicht asymmetrischen Gesichtszügen. Das dunkle Haar war zu einer kompliziert aussehenden Frisur hochgesteckt, und die dunklen Augen schienen über die vielen Jahrzehnte hinweg direkt in die Augen des Betrachters zu blicken.
Plötzlich war Tanya wieder hellwach. Diese Frau auf dem Bild war das genaue Abbild der Puppe, die sie am Tag zuvor im Teich hinter ihrem Grundstück gefunden, und die nun in der Duschwanne ihres Badezimmers saß. Oder vielmehr war die Puppe das genaue Abbild dieser Frau.
Das Foto war anscheinend in besseren Zeiten aufgenommen worden, denn der Artikel darunter berichtete, dass Mrs Sorensen nach dem Tod ihres Mannes dessen Schulden nicht bezahlen konnte, und deshalb ihr Haus zwangsversteigert werden sollte.
Dem Bericht zufolge weigerte sich Mrs Sorensen, das Haus zu verlassen und schoss sogar mit einem Revolver ihres verstorbenen Mannes auf die Polizisten und den Gerichtsvollzieher, die gekommen waren, um sie zum Verlassen des Hauses zu zwingen. Augenzeugen zufolge rief sie immer wieder „Das ist mein Haus! Hier darf niemand wohnen außer mir!“ Schließlich war es den Beamten gelungen, bis zum Haus durchzudringen und die Tür aufzubrechen. Bevor sie die tobende Frau unter Kontrolle bringen konnten, erschoss sich diese mit der letzten Kugel im Revolver. Im Artikel war auch die Adresse angegeben, an der sich die tragischen Geschehnisse vor fast einhundert Jahren zugetragen hatten. Rowan Cottage. Tanyas Haus.
Tanya ließ die Zeitung auf den Tisch sinken. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass die ursprüngliche Besitzerin noch fast ein Jahrhundert über ihrem Tod hinaus keinen anderen Bewohner in ihrem Haus dulden konnte? Dass ihr Geist für all die Angst einflößenden Geschehnisse verantwortlich war, die Tanya in der letzen Nacht hatte erdulden müssen?
Diese Gedanken gingen ihr noch immer durch den Kopf, als sie die Bibliothek schon längst hinter sich gelassen hatte und wieder auf dem Weg nach Hause war.
Vor sich sah sie den kleinen lokalen Supermarkt. Sie war sich nicht sicher, was der Grund war, ob sie tatsächlich Hunger hatte oder einfach nur unbewusst die Rückkehr in ihr Spukhaus hinauszögern wollte, aber wenige Augenblicke später fand sie sich mit dem Vorsatz, einen Snack kaufen zu wollen, in dem kleinen Geschäft wieder. Dies war noch ein Laden der alten Sorte, mit wenig Selbstbedienung und stattdessen mit einem großen Tresen, hinter dem verschiedene Sorten von frischen und verpackten Lebensmitteln und allerlei andere Dinge des täglichen Bedarfs angeboten wurden.
Eine Frau mittleren Alters stand hinter dem Tresen und hantierte an der altmodischen Kasse herum, während eine weißhaarige Dame im Regal dahinter Gläser einsortierte. Beim Klang der kleinen Glocke, die am Türrahmen befestigt war und Tanyas Eintritt mit einem leisen Bimmeln verkündete, sahen beide zu ihr hinüber und lächelten sie an.
„Hallo! Ist es nicht ein wunderschöner Tag heute?“, sagte die jüngere der beiden Frauen und sah Tanya erwartungsvoll an.
Nach einem kurzen Austausch über das sonnige und für die Jahreszeit recht milde Wetter und einer kurzen Vorstellungsrunde fragte Beth, die jüngere der beiden Frauen und Eigentümerin des Geschäfts: „Sie sind doch die Dame, die kürzlich Rowan Cottage gekauft hat? Wie gefällt es Ihnen?“
„Sehr gut, es ist zwar eine ziemliche Umstellung von der Stadt, aber bei der wunderschönen Gegend hier muss es einem ja gefallen, nicht wahr?“, antwortete Tanya etwas ausweichend.
Der älteren Dame, Val, war Tanyas etwas zögernde Antwort und ihr Tonfall anscheinend aufgefallen, denn sie fragte: „Sie sehen etwas müde aus, mein Kind. Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Schlafen in Ihrem neuen Zuhause?“
Bevor Tanya antworten konnte tadelte Beth: „Mutter, das geht uns doch nichts an. Und warum sollte es Probleme in dem Haus geben?“
Ungeachtet ihrer eigenen implizierten Warnung, nichts Negatives über das neue Domizil ihrer Kundin zu sagen, erzählte sie dann selber einiges über die letzten Bewohner des Hauses und seine recht wechselhafte Geschichte. Nachdem das Haus nach dem Selbstmord der ursprünglichen Eigentümerin zwangsversteigert worden war, hatten sich die Eigentumsverhältnisse relativ häufig geändert. Teilweise waren die Bewohner schon nach wenigen Monaten oder sogar nur Wochen wieder ausgezogen. Irgendwann in den siebziger Jahres des letzten Jahrhunderts hatte das Haus eine längere Zeit leer gestanden, nachdem sich der damalige Eigentümer bei einem Sturz die Treppe hinunter das Genick gebrochen hatte. Nur das ältere Ehepaar, das das Haus vor Tanya bewohnt hatte, schien dort über einen längeren Zeitraum gewohnt zu haben, bis der Ehemann einen Schlaganfall erlitt und mit seiner Frau in ein Pflegeheim in der nächst größeren Stadt zog.
Über die Gründe, warum es die meisten Bewohner nicht lange in dem alten Haus ausgehalten hatten, sagte Beth allerdings nichts, und als ihre Mutter auf eine entsprechende Frage von Tanya antworten wollte, unterbrach sie sie mit einem scharfen Blick und dem Hinweis auf die Brötchen, die dringend aus dem Ofen geholt werden mussten und beendete damit unvermittelt das Gespräch über Rowan Cottage und eventuelle seltsame Vorkommisse.
„Hmm, das war ja jetzt etwas eigenartig“, dachte Tanya, fragte aber nicht weiter nach.
Während Val mit den Brötchen beschäftigt war, nahm ihre Tochter Tanyas Bestellung entgegen. Außer dem Snack waren es dann doch noch ein paar Sachen mehr geworden. Schließlich hatten sie alles beisammen und Val, die inzwischen von den Brötchen zurückgekommen war, packte alles in eine große Papiertüte. Als sie diese Tanya in die Hand drückte, schenkte sie ihr ein freundliches Lächeln und einen Blick, den die jüngere Frau nicht interpretieren konnte.
„Bis zum nächsten Mal. Passen Sie gut auf sich auf, Tanya“, sagte die freundliche alte Dame, während sie die Tür aufhielt.
Als Tanya wieder vor ihrem Haus stand, zögerte sie kurz, bevor sie hineinging. Nach allem, was sie heute gelesen und gehört hatte, war sie sich immer mehr sicher, dass sie sich die Ereignisse der letzten Nacht nicht eingebildet hatte. Es fiel ihr zwar schwer, sich damit abzufinden, dass es so etwas wie Geister und übernatürliche Phänomene wirklich geben sollte, aber ihre bisherigen Informationen ließen kaum einen anderen Schluss zu. Trotzdem war sie fest entschlossen, sich nicht durch irgendeinen Geist aus ihrem Haus und aus ihrem neuen Leben vertreiben zu lassen.
Auch um sich selbst in diesem Beschluss zu bestätigen, ging sie nach einem kurzen Abstecher in das Wohnzimmer direkt zum Badezimmer, in dem sie die Puppe zurückgelassen hatte. Obwohl sie sich dabei selber etwas albern vorkam, nahm sie im Wohnzimmer den Schürhaken aus seinem Ständer neben dem Kamin. Solchermaßen bewaffnet atmete sie nur einmal tief durch, bevor sie die Tür zum Badezimmer öffnete. Und direkt in die leere Duschwanne schaute.
Für einen kurzen Moment stockte Tanya der Atem und sie stand fassungslos in der geöffneten Tür. Dann ließ sie, den Schürhaken zum Schlag erhoben, den Blick durch den Raum schweifen.
Erschrocken wich sie einen halben Schritt zurück, als sie das, was sie suchte, direkt vor sich auf dem Boden sah. Die Puppe saß an die Wand gelehnt direkt neben der Tür. Ihr Porzellangesicht war unbewegt und zeigte nur den neutralen Gesichtsausdruck, den sie getragen hatte, als Tanya sie aus dem Teich gefischt hatte, und nicht das dämonische Grinsen der letzten Nacht. Aber wie zum Teufel war sie bloß aus der Duschwanne durch den halben Raum hier zur Tür gekommen? Tanya machte einen Schritt zur Seite und stieß die Puppe mit dem Schürhaken an. Keine Reaktion.
„Natürlich nicht, es ist eine Puppe! Du hast zuviel Horrorfilme gesehen…“, murmelte sie, bevor ihr einfiel, dass diese Puppe das letzte Mal, als Tanya sie gesehen hatte, noch in der Duschwanne auf der anderen Seite des Raumes gesessen hatte.
Den Blick ständig auf die reglose Puppe gerichtet, nahm Tanya das Duschtuch vom Haken an der Wand und warf es über die Puppe. Schnell legte sie den Schürhaken zur Seite und wickelte die Puppe in das Tuch ein. Das Bündel fest in beiden Händen haltend, ging sie zurück in ihr Schlafzimmer, wo sie es in einen der leeren kleinen Umzugskarton legte, den sie noch nicht weggeräumt hatte. Diesen verschloss sie mit dem Paketband, das sie tags zuvor ordentlich in den alten Sekretär gelegt hatte. Für einen kurzen Moment war sie versucht, einfach mit dem schweren Schürhaken auf den Karton einzuschlagen, beschloss dann aber, erst noch einige Nachforschungen anzustellen, bevor sie entschied, was sie mit der unheimlichen Puppe machen sollte.
Mit dem Karton unter dem Arm ging Tanya in das Wohnzimmer im Erdgeschoß, wo sie ihn in einen der schweren alten Schränke stellte, mit denen das Zimmer möbliert war, und den sie bisher noch nicht eingeräumt hatte. Gerade als sie die Schranktür schließen wollte, fiel ihr Blick auf einen kleinen flachen Gegenstand, der in einer Ecke des Schrankes an die Wand gelehnt stand.
Neugierig griff Tanya in den Schrank und nahm den Gegenstand hinaus. Es war ein dünnes Kartongebundenes Buch, wie man es für Notizen oder als Tagebuch verwendete. Als sie es öffnete, sah sie schnell, dass es sich tatsächlich um eine Art Tagebuch handelte. Die Einträge waren einige Jahre alt, woraus Tanya schloss, dass das Buch aus der Zeit des älteren Ehepaares stammen musste, das vor ihr in diesem Haus gewohnt hatte. Für eine für dieses ganz besondere Haus ungewöhnlich lange Zeit, nach dem, was Beth erzählt hatte. Vermutlich hatten sie das Tagebuch in der Sorge um den kranken alten Herrn und später im Umzugsstress einfach hier vergessen.
Neugierig blätterte Tanya durch die Einträge. Erst hatte sie ein schlechtes Gewissen, so in die Privatsphäre eines Anderen einzudringen, aber sie stellte schnell fest, dass es hier weniger um die intimen Gedanken und Gefühlen des Schreibers ging, als vielmehr um eine Beschreibung von unheimlichen Vorkommnissen im Haus. Unerklärliche Geräusche in der Nacht. Erscheinungen im Spiegel.
„Na sowas, nicht sonderlich einfallsreich, die gute Mrs Sorensen“, murmelte Tanya, als sie einen entsprechenden Eintrag las.
Offenbar waren solche Dinge über einen längeren Zeitraum immer wieder vorgekommen, und der Verfasser des Tagebuches – anscheinend die Ehefrau, da zwischendurch immer wieder von einem Robert die Rede und der Rest in der ersten Person geschrieben war – äußerte mehrmals den Wunsch, endlich „dieses verfluchte Haus“ zu verlassen. Bis Robert einem Eintrag zufolge irgendwann feststellte, dass alle Ereignisse eines gemeinsam hatten. Nämlich die Porzellanpuppe, die wohl noch von den ursprünglichen Eigentümern des Hauses stammte, und die zusammen mit dem meisten Mobiliar von Besitzer zu Besitzer weitergegeben worden war.
Die nächsten Einträge berichteten von verschiedenen Versuchen, die Puppe loszuwerden. Tanya lief es kalt den Rücken herunter, als sie las, dass es offensichtlich nichts gebracht hatte, die Puppe einfach nur zu zerschlagen, denn am nächsten Morgen saß sie wieder unversehrt auf ihrem angestammten Platz im Wohnzimmer. Sogar der Versuch sie zu verbrennen hatte sich als vergeblich erwiesen, als sie wiederum am nächsten Tag völlig intakt und ohne eine einzige Brandspur wieder aufgetaucht war.
Fast verzweifelt blätterte Tanya vor, bis sie zum letzten Eintrag des Buches kam.
Es scheint tatsächlich zu funktionieren. Zwei Wochen ist es nun her, dass Robert das grässliche Ding in einer Holzkiste verpackt in den Teich geworfen hat. Was auch immer für gotteslästerliche Mächte diese Puppe haben mag, so ist sie scheinbar nicht imstande, aus einer zugenagelten Kiste am Grund eines Teiches zu entkommen. Dem Himmel sei Dank.
Aus dem Datum, das fast drei Jahre zurücklag, und den fehlenden weiteren Einträgen schloss Tanya, dass ihre Vorgänger tatsächlich endlich ihre Ruhe gehabt hatten, nachdem die Puppe im Teich versenkt worden war. Erst der Schlaganfall des Mannes hatte das Ehepaar dann gezwungen, das Haus zu verlassen und in das Pflegeheim zu ziehen.
Die vielen früheren Bewohner des Hauses, die sich durch die erschreckenden Vorkommnisse hatten vertreiben lassen, hatten vermutlich nie auch nur vermutet, dass eine auf den ersten Blick völlig harmlose Puppe der Grund für all den Spuk war.
Und nachdem Verbrennen und Zerschlagen erfolglos geblieben waren, hatte das einfache Wegwerfen dann endlich die erwünschte Wirkung gehabt. Zumindest für eine gewisse Zeit. Allein die Tatsache, dass Tanya die Puppe ohne Kiste am Ufer des Teiches gefunden hatte, schien zu zeigen, dass auch eine solche Einkerkerung nur eine befristete Lösung sein konnte. Es wäre vermutlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Puppe ihren Weg zurück in das Haus gefunden hätte. Was sollte sie also tun?
Tanya beschloss, dort nach Antworten zu suchen, wo heutzutage so ziemlich alles zu finden war, was das Herz begehrte. Im Internet.
Schnell holte sie ihren Laptop aus dem Schrank. Der kabellose Breitband-Internetanschluss war mit das Erste gewesen, was sie nach dem Einzug eingerichtet und fertig gestellt hatte, daher musste sie sich jetzt wenigstens keine Gedanken darum machen, ob der Internetzugang funktionieren würde.
Als der Rechner begann, das Betriebssystem hochzufahren, erinnerte sich Tanya, dass die Einkäufe, die sie bei Beth und Val im Laden getätigt hatte, noch unausgepackt in der Tüte in der Küche standen. Also ging sie in die Küche, um die Sachen schnell in den Schrank zu räumen.
Als alles ausgeräumt war, was sie bei Beth bestellt hatte, stellte sie fest, dass ganz unten in der Papiertüte noch etwas lag. Neugierig nahm sie das schwere Paket aus der Tüte und betrachtete es. Es war eine große Tüte Salz.
„Wo kommt die denn her?“, wunderte sich Tanya.
Dann erinnerte sie sich an Vals Lächeln, als diese ihr die Tüte gereicht hatte und den Blick, den sie nicht hatte deuten können. Anscheinend hatte Val das Salz in die Tüte gelegt. Aber warum?
Die Begrüßungsmelodie des Laptops aus dem Nebenzimmer zeigte an, dass der Rechner hochgefahren war. Tanya beschloss, das Rätsel um das Salz für den Moment zurückzustellen, ging zu ihrem Laptop hinüber und verband sich mit dem Internet.
Nach fast einer Stunde des Suchens war sie noch immer nicht schlauer, was den Umgang mit besessenen oder verfluchten Puppen anging. Zwar gab es bei ebay jede Menge Angebote an verfluchten Puppen, aber wie man sie wieder loswurde, wenn man eine ungewollt am Hals hatte – wieder verfluchte sich Tanya lautlos selbst, so viele Horrorfilme gesehen zu haben, als dieser Gedanke ein recht unangenehmes Bild vor ihrem inneren Auge entstehen ließ – das war nirgendwo zu lesen.
Gerade als sie frustriert die Internetverbindung abbrechen wollte, erinnerte sie sich wieder an das Päckchen Salz, das Val ihr eingepackt hatte und das irgendeine Bedeutung zu haben schien. Dieses Mal wurde sie schnell fündig, als sie entsprechende Begriffe in der Suchmaschine eingab.
Fast alle Beiträge, die sie fand, berichteten davon, dass dem Salz in den meisten Kulturen der Erde eine magische Wirkung zugesprochen wurde. Geister und andere übernatürliche Wesen waren demzufolge nicht in der Lage, eine Linie aus Salz zu überqueren. Andere Webseiten gingen noch weiter ins Detail und beschrieben, dass Salz psychische Energien speichern und an sich binden könne. Tanya lehnte sich verblüfft auf dem Sofa zurück. Anscheinend wusste die freundliche alte Dame aus dem Dorfsupermarkt nicht nur von den Vorkommnissen in Rowan Cottage, sondern sie schien sich auch noch gut mit solchen Dingen auszukennen.
Ein leises Rumpeln riss Tanya aus ihren Überlegungen. Erschrocken setzte sie sich auf und sah sich um. Da war es wieder, ein Geräusch, als würde etwas gegen Karton schlagen und kratzen. Als würde etwas versuchen, sich aus einem zugeklebten Karton zu befreien.
Ruckartig drehte sie sich zu dem Schrank um, in dem sie die Kiste mit der Puppe verstaut hatte. Während sie noch mit weiten Augen auf die Schranktür starrte, erklang das Geräusch wieder, lauter dieses Mal, gefolgt von einem reißenden Laut.
Panisch blickte Tanya durch den Raum. Was sollte sie nur tun? Ihr Blick blieb am Laptop hängen. Das Salz! Geister konnten keine Linien aus Salz überqueren! Sie fuhr herum und rannte in die Küche. Mit zitternden Händen versuchte sie die Tüte Salz zu öffnen. Als es ihr endlich gelang, zitterten ihre Hände so stark, dass ein ganzer Schwall Salz zu Boden regnete.
Mit der Tüte in der Hand lief sie zum Wohnzimmer zurück und blieb dann wie angewurzelt in der Tür stehen. Die Schranktür stand ein Stück weit offen und während Tanya noch ungläubig zusah, schwang sie weiter auf. Der Anblick einer hellen Form im Inneren des alten Schrankes riss Tanya aus ihrer Erstarrung.
Mit einigen großen Sätzen war sie vor dem Möbelstück angekommen und schüttete mit zitternden Händen von der Wand um den Schrank herum einen Halbkreis aus Salz auf den Boden. Dann wich sie zur gegenüberliegenden Wand zurück, den Blick immer ängstlich auf die halb geöffnete Schranktür und die dahinter liegende Finsternis gerichtet.
Ein wütendes Zischen drang aus dem Dunkeln und jagte Tanya einen kalten Schauder den Rücken herunter. Dieses leise Geräusch zeugte von solcher Wut und Bösartigkeit, dass sie fast in blinder Angst aus dem Zimmer und aus dem Haus gestürzt wäre. Dieser Gedanke ließ sie erstarren.
Aus der Panik und Angst, die sie empfand, wurde langsam Empörung und schließlich Wut. Diese verdammte Puppe wollte sie aus ihrem eigenen Haus vertreiben. Sie aus ihrem neuen Leben werfen!
„Du verdammtes Miststück wirst mich nicht aus meinem Haus vertreiben! Bei den anderen hat das vielleicht geklappt, aber nicht bei mir! Das ist mein Haus!“ Tanyas Stimme war immer lauter geworden, bis sie den letzten Teil schrie.
Sie sah eine Bewegung aus dem Augenwinkel und konnte sich gerade noch ducken, bevor eine Vase durch die Luft geschossen kam und an der Wand neben ihr in Tausende kleiner Scherben zerbarst. Hastig wich sie durch die Türöffnung zurück und verschanzte sich auf der anderen Seite, während weitere Einrichtungsgegenstände gegen die Wand krachten, wo sie gerade noch gestanden hatte.
Die Puppe wollte sie also nicht nur aus dem Haus vertreiben, sondern jetzt zertrümmerte sie auch noch die halbe Einrichtung!
Während im Wohnzimmer weitere Gegenstände durch die Luft flogen, überschlugen sich Tanyas Gedanken auf der Suche nach einer Lösung.
Das Salz hinderte die Puppe scheinbar tatsächlich daran, aus dem Schrank herauszukommen, aber nicht daran, irgendwie die Einrichtung des Zimmers zu manipulieren und durch die Gegend fliegen zu lassen. Tanya war hier zwar vor dem Toben sicher, aber während sie sich verschanzte, legte das kleine Monster ihr Wohnzimmer in Schutt und Asche. Bei diesem Gedanken erinnerte sich Tanya daran, dass sogar der Versuch ihrer Vorgänger, die Puppe zu verbrennen, erfolglos geblieben war. Trotzdem hatte sie das Gefühl, kurz vor der Lösung zu stehen. Irgendetwas war da… irgendetwas hatte sie gelesen, war hier von Nutzen sein konnte…
Tanya versuchte angestrengt sich zu erinnern, was sie alles an Informationen gefunden hatte. Die magische Wirkung von Salz…
Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Salz stellte für übernatürliche Wesen nicht nur eine unüberwindliche Barriere dar, ihm wurde auch die Eigenschaft zugesprochen, entsprechende Energien speichern und an sich binden zu können. Das war es!
Mit einem letzten schnellen Blick durch die Tür ins Wohnzimmer drehte sich Tanya um und lief zu der Abstellkammer unter der Treppe.
Nach einigen Suchen fand sie, wonach sie gesucht hatte, nahm die beiden Gegenstände heraus und wandte sich wieder dem Wohnzimmer zu.
Neben der Garderobe zögerte sie kurz, zuckte dann mit den Schultern und nahm den dicken gefütterten Wintermantel mit der Fellkapuze vom Haken und schlüpfte hinein. Ein bisschen Schutz und Polsterung konnten bestimmt nicht schaden. Bei dem Gedanken an das Chaos im Wohnzimmer war sie plötzlich sehr froh, dass sie den Schürhaken im Badezimmer hatte liegen lassen. Dann kam ihr die Idee, dass er bei dem, was sie vorhatte, sicherlich sehr nützlich sein könnte. Also lief sie schnell die Treppe hinauf und holte den Schürhaken, bevor sie zurück zum Wohnzimmer rannte.
Dort war es inzwischen wieder ruhig geworden. Vorsichtig blickte Tanya um die Ecke der Tür in das Zimmer. Als nichts geschah, zog sie sich die dicke fellgefütterte Kapuze ihres Mantels über den Kopf und ging langsam auf den Schrank zu. Dort angekommen, stellte sie sich leicht links von der Tür auf und zog sie, den Schürhaken stoßbereit in der rechten Hand, ruckartig ganz auf.
Die Puppe lag direkt vor der Türöffnung des Schrankes am Boden und starrte sie aus boshaft funkelnden Augen an. Im nächsten Moment traf ein harter Schlag Tanya in den Rücken, als wieder irgendein loser Gegenstand von seinem normalen Platz im Wohnzimmer gerissen und durch die Luft geschleudert wurde, und ließ sie einen halben Schritt nach vorne taumeln. Dies erwies sich sofort als ein Vorteil, denn der Schürhaken, den Tanja im gleichen Moment nach vorne gestoßen hatte, glitt durch die verstärkte Vorwärtsbewegung fast ohne Widerstand durch den weichen Körper der Puppe.
Ein helles Kreischen erschütterte das eben noch ruhige Haus. Tanya widerstand der Versuchung, beide Hände auf ihre Ohren zu pressen und zog den Schürhaken mit der aufgespießten Puppe mit einem heftigen Ruck aus dem Holzboden des Schrankes, in das die Spitze einige Millimeter weit eingedrungen war. Fast in der gleichen Bewegung fuhr sie herum und rannte dann, den Schürhaken vor sich haltend und in einem Hagel von Kissen – scheinbar waren die harten Gegenstände bereits vorher verschossen worden, so ein Glück! – zur Haustür, riss diese auf und stürmte in den Vorgarten. Sie kam schlitternd auf dem feuchten Rasen zum Halten, holte kurz aus und rammte den Schürhaken dann mit aller Kraft in den Boden, wo er stecken blieb. Sie zog die Tüte Salz, die sie mit den beiden anderen Gegenständen aus der Abstellkammer in die großen Taschen des Mantels gesteckt hatte, heraus und schüttete dann eine großzügige Portion auf die aufgespießte Puppe. Als nächstes nahm sie die Flasche Grillanzünder aus der anderen Tasche und goss ihren gesamten Inhalt ebenfalls hinüber. Dann trat sie einen Schritt zurück, nahm mit zitternden Händen ein Streichholz aus der Schachtel, die sie in derselben Tasche hatte, und zündete es an.
„Fahr zur Hölle, Miststück!“, fauchte sie und warf das brennende Streichholz auf die Puppe.
Dieses Mal presste sie sich tatsächlich beide Hände auf die Ohren, um das schreckliche Kreischen erträglicher zu machen, bis es schließlich erstarb.
Tanya stand noch lange im Vorgarten und sah zu, wie die flackernden Flammen gierig wüteten, wie das Porzellan in der Hitze zerbarst, und erst, als schließlich nur noch Asche und ein kleines Häufchen einer unförmigen Masse von der Puppe übrig geblieben war und das letzte kleine Flämmchen ohne Nahrung erlosch, drehte sie sich um und sah das Haus an.
„Mein Haus“, sagte sie leise, bevor sie über die Türschwelle trat und behutsam die Tür hinter sich zu zog.