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Die Pyramide
Was mochte in der Großen Ameise vorgehen, fragte sich David. Je näher die Konditionierung rückte, desto dringlicher erschien es ihm, darüber Klarheit zu gewinnen.
David lebte nun schon über zwei Monate in der Pyramide. Er genoss es zwar immer noch, durch die Labore zu schlendern, sich ins Getümmel der Einkaufspassagen zu stürzen oder mit dem Lift einen Abstecher zu den hydroponischen Gärten von Utopolis zu unternehmen. Er suchte auch noch hin und wieder die mathematische Fakultät auf, und unterhielt sich mit seinen zukünftigen Kollegen. Er traf sich mit Johanna, in die er sich verliebt hatte.
In letzter Zeit zog er es jedoch vor, allein zu sein.
Er saß in der kleinen Cafeteria des Parks, der die oberen drei Etagen des Bauwerkes einnahm, und schaute auf den Stillen Ozean, der sich rings um die Pyramide bis zum Horizont erstreckte. Von hier oben konnte man die Wellen nur ahnen, die etwa zweitausend Meter weiter unten den Meeresspiegel zerknitterten. Es kamen nur selten andere Besucher und er war ungestört.
„Sie erlauben doch?“, fragte Professor Northon.
David wusste nicht, ob er geschmeichelt oder erstaunt sein sollte. Northon, die lebende Legende auf dem Gebiet der Zahlentheorie, von dem manche meinten, er wäre die Reinkarnation Ramanujans, nahm Notiz von ihm. Hatte Northon sogar nach ihm gesucht?
„Sie waren schon lange nicht mehr im Institut. Hier verbringen Sie jetzt also ihre Zeit“, sagte der Professor.
„Ja, ich ... also ich musste nachdenken. Über die Einbürgerung.“
„Und? Wie haben Sie sich entschieden?, fragte Northon und winkte einem Servobot. Er ließ sich eine Tasse Tee geben und sah David an.
David zuckte die Schultern und lächelte. „Ich bin mir noch nicht ganz sicher“, sagte er.
Northon zog die buschigen Augenbrauen nach oben. „Junger Mann. Ich hatte den Eindruck gewonnen, Sie erkennen eine Chance, wenn sie sich bietet. Nirgendwo anders haben Sie solche Möglichkeiten. Was ist los?“
„Die Konditionierung, Mr. Northon. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einverstanden bin. Werde ich damit nicht zur Marionette?“
„Ach das ist es. Hätte ich mir denken können.“ David beobachtete, wie sich auf dem Tee kleine Wellen bildeten. Die Hand Northons zitterte ja. Aber seine Stimme klang ganz ruhig. „Hatten Sie denn in New York einen freien Willen? Denken Sie mal darüber nach. Die Injektion der Biochips dient einzig der Kommunikation mit der Zentraleinheit. Sie wissen sicher, dass wir sie ‚Die Große Ameise‘ nennen.
„Ja, ich weiß. Ich bewundere den Humor der Utopoliden, Mr. Northon.“ David stellte erstaunt fest, dass er sich gegenüber dem großen Gelehrten einen sarkastischen Ton herausnahm, doch der schien es nicht zu bemerken.
„Ja, und der Vergleich enthält mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Stellen Sie sich einen Ameisenhaufen vor. Jede einzelne Ameise ist recht primitiv. Doch der von zahllosen dieser Ameisen durch Selbstorganisation gebildete Staat ist etwas ungeheuer Komplexes, nebenbei gesagt, eine der erfolgreichsten Erfindungen der Evolution.“
„Und die große Ameise ist so etwas wie ein künstlicher Ameisenhaufen?“
Northon nickte. „So ungefähr, ja. Nur auf einer weit höheren Stufe. Immerhin sind die Ameisen, die im Gehirn der Zentraleinheit herumkrabbeln, Modelle der in Utopolis lebenden Menschen. Außerdem steht die Zentraleinheit in ständiger Wechselwirkung mit dem echten Ameisenhaufen Utopolis. Und damit das Ganze funktionieren kann, brauchen wir die Chips.“
Er rührte seinen Tee um, schwieg einen Moment und fuhr fort.
„Die Dinger schwimmen nach der Injektion über den Blutkreislauf in Ihr Gehirn und lagern sich an den Corpus Callosum an, die Verbindung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte. Fast alle Ihre Gedanken gehen da durch. Auf die Art kann der Rechner ein Modell ihrer geistigen Tätigkeit erstellen und für seine eigenen Denkprozesse nutzen.“
„Aber der Rechner macht noch mehr, nicht wahr?“, sagte David. „Er beeinflusst mich.“
Norhton sagte mit veränderter Stimme: „Gehen Sie ...“ Ein plötzlicher Hustenanfall unterbrach ihn. Dann fuhr er fort: „Gehen Sie davon aus, dass die Große Ameise ständig darüber wacht, ob gefährliche Widersprüche zu anderen Modellen entstehen.“
David beugte sich vor. „Und wenn das der Fall ist ...?“
„ ... greift sie mit Hilfe der Mikrochips korrigierend ein“, ergänzte Northon. Nur so kann jederzeit das harmonische Zusammenspiel aller Modelle und damit auch aller realen Personen gewährleistet werden.“
In den folgenden Tagen musste David immer wieder an das Gespräch mit dem alten Northon denken. Der Professor hatte davon geschwärmt, welche Möglichkeiten die Verschmelzung von drei Millionen Persönlichkeiten im Zentralcomputer der Großen Ameise bot, ja sich sogar dazu hinreißen lassen, von einer geistigen Symphonie zu reden, die schon Erstaunliches bewirkt habe. Kein guter Gedanke gehe verloren. Polizei und Gerichte seien überflüssig.
Wenn er die zufriedenen Gesichter der Menschen um sich herum sah, hatte David durchaus den Eindruck, dass hier eine Symphonie gespielt wurde, die kein Orchester der Welt bewältigen könnte. Und doch – waren alle diese Menschen nicht eigentlich nur Ameisen, die in ihrem Bau herumkrabbelten, gesteuert von einem seltsamen Kunstwesen? Außerdem war irgendetwas an dem Gespräch mit Northon nicht richtig gewesen. Aber was? Er zermarterte sich das Hirn, doch das Gespräch kam ihm wie eine Gleichung vor, die sich nicht lösen ließ.
Nun ermöglichte Prof. Northon ihm trotz seines Kandidatenstatus eine Begegnung mit der Großen Ameise.
Northon schaltete den Holoprojektor ein, und die blauen Augen eines lallenden Babys blickten David an. Northon zuckte mit den Achseln.
„Die Ameise wählt oft diese Gestalt, wenn sie in ihrer eigenen Welt versunken ist und nicht mit Besuchern kommunizieren will“, meinte er. „Vielleicht entwickelt sie gerade ein Gleichungssystem zur Beschreibung von N-Clustern im Jakov-Raum oder sie komponiert ein Violinkonzert, oder denkt über die Raum-Zeit-Struktur in Schwarzen Löchern nach oder macht alles gleichzeitig. Niemand weiß das, doch die Bröckchen, welche die Große Ameise von Zeit zu Zeit ausspuckt, sind einfach phänomenal. Erst vor kurzem hat sie die Physiker in helle Aufregung versetzt, als sie Hinweise darauf lieferte, wie geschlossene zeitartige Kurven praktisch zu realisieren seien.“
Doch David hörte nur mit halbem Ohr zu. Er hatte das Gefühl, als sähen diese blauen Babyaugen ihn abschätzend an und unter diesem Blick war ihm so, als würde jemand mit einem Skalpell in sein Gehirn eindringen.
Am Abend stand David in Johannas Wohnung am Fenster und beobachtete die sinkende Sonne.
„Woran denkst du?“, fragte sie.
Er drehte sich um, betrachtete ihr schmales Gesicht mit den großen Augen. Woran sollte er schon denken? Daran, wieder abzureisen. Aber konnte er Johanna das so einfach sagen? Ihr Gesicht würde erstarren, ihre Finger fahrig über den Tisch streichen. Sie würde den Blick abwenden.
„Ich denke an New York“, sagte er.
Johanna senkte den Blick auf den Tisch, wo ihre Hände nun wie zwei kleine Tiere hin und her wuselten.
„Ich wusste es, du willst weg“, sagte sie.
David griff nach ihren Händen, hielt sie fest. „Das habe ich nicht gesagt. Es ist nur ...“
Johanna sah zu ihm auf und in ihren Augen glitzerten Tränen. Eine weinende Ameise, dachte David.
Nachts träumte er davon, wie Prof. Northon etwas zu ihm sagen wollte, aber von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde. Konnten Ameisen husten? Wenn sie weinen konnten, konnten sie alles. Der Kopf des Professors stak auf dem Leib einer riesigen schwarzen Ameise, die näher kam und ihre Mandibeln schwang.
„Gehen Sie“, krächzte der Professor, „ich kann sie nicht aufhalten.“
David konnte sich nicht rühren. Er spürte, wie Beißzangen sich in seinen Arm bohrten und von dem brennenden Schmerz erwachte er. Im schwachen Mondlicht erkannte David Johanna, die sich über ihn gebeugt hatte.
„Du hast schlecht geträumt“, sagte sie mit sanfter Stimme und David hörte, wie sie etwas auf den Nachttisch legte. Sie wollte ihm über das Gesicht streichen. Er stieß ihre Hand zurück und knipste das Licht an. Auf dem Nachttisch lag ein zylinderförmiges Ding mit einer glänzenden Kanüle.
Bevor David einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er bereits Johannas Hände gepackt. Sie war überraschend stark. Das Gesicht Johannas, sonst so ruhig und beherrscht, verzog sich zu einer Fratze. Sie stieß einen Schrei aus, wie David noch nie einen gehört hatte. Das war nicht Johannas Stimme. Das war überhaupt keine menschliche Stimme, oder vielmehr kam es David so vor, als würden Millionen von Stimmen sich zu diesem Schrei überlagern, der tief und dröhnend aus Johannas Kehle kam und ihn zu lähmen drohte.
Ich muss hier weg, hämmerte es in Davids Kopf, während er Johannas Arme nach hinten drückte. Sie schrie immer weiter, bis der Knebel ihr den Mund verschloss.
Johanna lag mit einem Handtuch im Mund und mit Streifen des Bettlakens an Händen und Füßen gefesselt am Boden. Wieviel Zeit blieb ihm noch, fragte sich David, während er die Wunde am Oberarm aussaugte, die er sich selber mit einem Küchenmesser beigebracht hatte. Er spuckte das Blut aus und saugte weiter. Vielleicht schaffte er es, den größten Teil der Chips zu entfernen. Seine Gedanken rasten. Der Airport. Er musste es schaffen, unbemerkt zum Airport zu gelangen. Aber sicherlich hatte die Zentraleinheit die Bewohner längst alarmiert. Er, David, konnte sich ab jetzt als Freiwild betrachten, dessen Konterfei sich in Millionen von Hirnen eingebrannt hatte. Die Große Ameise würde ihn nicht ziehen lassen. Wieviele Einwohner waren bereits auf diese Art und Weise eingebürgert worden? Denk nach, ermahnte er sich. Es musste einen Ausweg geben. Sein Hirn gegen drei Millionen anderer. Zuallererst musste er hier weg.
Er öffnete die Tür. Der Gang lag verlassen im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung. Nur ein Wartungsrobot surrte vorbei, schien sich aber nicht für ihn zu interessieren. David lief mit weit ausholenden Schritten den Flur entlang in Richtung des Zentralschachtes. Im inneren Ring begegneten ihm einige Passanten, die ihm freundlich zunickten. Sie sahen harmlos aus. So friedlich. Keine Gefahr... was tat er hier eigentlich. David blieb stehen und rieb sich die Augen. Seit wann nachtwandelte er denn? Er drehte sich um, tappte zurück und lächelte.
Wie eine rote Sonne aus dem Morgennebel stieg ein tiefes und warmes Glücksgefühl in David auf.