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Die Rückkehr der Worte
Sanft gleiten seine Finger über Johannas Bauch, schieben sich unter den Pulloversaum, ertasten die kleinen weichen Polster, zwischen denen ihr Bauchnabel eingebettet ist. Sie hat die Augen geschlossen, sitzt entspannt da, genießt seine Berührung. Seine Lippen streifen die ihren, seine Hand gleitet tiefer, nestelt an ihrem Hosenbund. Sie erstarrt. Schlagartig bemerkt sie ihre Schutzlosigkeit, verspannt sich, schiebt ihn sanft, aber bestimmt von sich weg. Aus seinen Augen spricht Enttäuschung und Verletzung, doch er nähert sich ihr nicht wieder. Sie will seine Hand wieder spüren, schmiegt sich an ihn, flirtet, doch zu spät, ihr ablehnendes Verhalten hält ihn nun zurück.
Tim und Struppi und Playmobil. Eine elektrische Eisenbahn über das ganze Zimmer verteilt. Und dieser Geruch, süßlich, ähnlich wie Honig, aber nicht so angenehm. Klebrig, aufdringlich. Tim und Struppi flogen zum Mond, tauchten in den Haifischsee, besiegten Rastapopoulos und befreiten Professor Bienlein. Abends summte sie, ließ nur die schönen Bilder zu, versuchte zwanghaft, den Geruch mit Summen zu überdecken. Doch häufig genug hatte er sich zu tief in ihrer Nase festgesetzt. In solchen Nächten bekam sie zu wenig Schlaf.
Nach Michael kam Timo, dann Hannes, dann Peter. Alle blieben so lange, bis sie mehr als nur Küsse wollten. Dann gingen sie, ohne Verständnis für ihren Widerstand. Als Johanna zweiundzwanzig Jahre alt war, verließ auch Sebastian sie, der letzte in einer langen Reihe. Johanna brach lautlos weinend zusammen, wurde in völlig apathischem Zustand von ihrer Mitbewohnerin gefunden.
Nun sitzt sie hier, in einem Sanatorium, besucht jeden Tag eine andere Therapie. Ihre Hände krampfen sich um die Stifte, als wolle sie sie zerbrechen, jedes Mal, wenn sie ein Bild malen soll. Wenn sie mit Ton arbeitet, presst sie diesen durch die Finger, immer und immer wieder, doch nie ergibt sich eine Skulptur, ein Gefäß, nichts, was gebrannt werden könnte. Die Blicke, die sie den Therapeuten zuwirft, sind messerscharf und voller Wut und Hass, doch ihr Mund bleibt stumm. Kein Wort ihrer Qual dringt nach außen. Während der freien Zeit sitzt sie teilnahmslos in ihrem Zimmer und schweigt. Schweigt, bis die Wände auf sie einzustürzen scheinen, bis sie die Hände auf die Ohren presst und dann endlich schreit, schreit, schreit. Bis sie eine Spritze zur Beruhigung bekommt. Schlafen.
Die Eisenbahn war das Beste. Jedes Mal, wenn sie drüben war, hatten die Jungs sie neu gestaltet, hatten Kurven und Weichen mit Geraden verbunden, hatten Tunnel und Brücken gebaut und einen Bahnhof. Die Playmobilfiguren fand sie eklig, weil er sie oft in die Hand nahm, nachdem er sie angefasst hatte. Auch an ihnen klebte der süßliche Geruch.
Wenn beide da waren, konnte sie ohne Angst spielen und der Nachmittag war gerettet. Dann musste sie abends nicht summen, um einschlafen zu können.
Volle drei Wochen braucht sie, bis sie zum ersten Mal nicht voller Hass in die Therapiestunden geht. Die Abwehrhaltung gibt sie aber erst später auf. Als sie zum ersten Mal mit einem anderen Mädchen spricht, sehen die Umstehenden sie erstaunt, aber auch aufmunternd an. Sie lernt, dass ihr hier keiner etwas Böses will, dass jeder sich über Fortschritte der anderen freut. Aber von einem ersten Satz bis zum Vertrauen ist der Weg hart und steinig. Sie schafft es lange nicht, ihn zu betreten, schutzlos, wie sie sich fühlt.
In der vierten Woche nimmt sie einen Stift zur Hand und hat zum ersten Mal nicht mehr das Bedürfnis, ihn zu zerbrechen. Sie setzt ihn auf das Blatt und beginnt, willenlos Linien auf das Blatt zu zeichnen. Als sie sieht, was es darzustellen beginnt, nimmt sie einen schwarzen Wachsmaler und streicht das Bild mit wilden, hektischen Bewegungen durch. Dann bricht sie erschöpft zusammen und weint mit tiefen verzweifelten Schluchzern.
Die Therapeutin kann auf dem Bild nur noch grob eine Figur erkennen, die Details sind überdeckt.
An manchen Tagen fühlte sie sich stark genug, nicht hinzugehen. Doch wenn Eltern oder Geschwister fragten, ob sie sich gestritten hätten, dann schüttelte sie missmutig den Kopf und machte sich doch auf den Weg nach drüben. Lieber dort sein als sich der Scham stellen zu müssen, lieber den süßlichen Geruch in der Nase spüren, als den Eltern Sorgen bereiten. Die hatten schon genug davon, und Johanna wollte ihnen keine weitere Last sein.
Der Ton scheint ein Eigenleben zu haben. Egal, was sie daraus formen will, es beginnt immer mit einer länglichen Wurst, deren Anblick sie lähmt. Jeder anfängliche Tatendrang erstickt sofort im Keim, und auch in den späteren Wochen landet immer mal wieder ein Klumpen der bräunlichen Masse an Wand oder Fenstern. Die Therapeuten seufzen, erheben jedoch nie die Stimme gegen sie. In den seltenen Momenten, in denen sie es zulässt, nimmt eines der anderen Mädchen sie dann in den Arm. Nur selten kann sie diese Geborgenheit annehmen, zu häufig schiebt sich dieser Geruch mit aller Macht dazwischen, verbunden mit Angst und dem Gefühl der Hilflosigkeit.
Seine Stimme war immer warm und beruhigend, entschuldigend. Weh tun wollte er ihr nie, fragte immer nach, doch sie sank vor Schmerz und Pein in den Boden, wurde starr, schüttelte den Kopf, obwohl sie seine klebrigen, suchenden Finger hasste, so sehr hasste wie nichts sonst auf der Welt.
Aber sie liebte ihre Eltern und wollte ihnen keinen Schmerz bereiten. Lieber ich als sie.
Kathrin bricht schließlich den nächsten Widerstand in ihr. Sie ist neu in der Klinik, scheu, zart vom Äußeren her, zerbrechlich. Johanna hat das Bedürfnis, sie zu schützen, wie sie alles schützen will, was der Welt nicht gewachsen scheint. Sie selber kann alles aushalten, wenn es sein muss, aber Kathrin scheint nicht für diese Welt gemacht.
Das Mädchen lehrt sie eines Besseren. Als Johanna sie mitfühlend fragt, warum sie hier sei, ihr versichert, es sei hier gar nicht so schlimm, erwidert die andere nur kühl, das sei ihr bekannt, sie sei schon zum vierten Mal da. Johanna schluckt. Kathrin sah sie aufmerksam an. Dann nimmt sie ihre Hand und zieht sie mit sich fort in den Park zu einem langen Spaziergang.
Einmal wäre es fast vorbei gewesen. Sein Bruder kam zur Tür herein, als sie gerade ihre Hose herunterlassen wollte. Schnell warf sie sich auf das Bett, versteckte den offenen Reißverschluss unter einem Kissen, tat, als säße sie schon ewig hier. Ein misstrauischer Blick von einem zum anderen und ein Hoffnung gebender und gleichzeitig vernichtender Satz:
„Wenn Mama das erfährt, bist du dran.“ Er könnte sie erlösen, jetzt hier – doch er tat es nicht. Geschwisterliebe hat sogar dort Bedeutung, wo sie an sich kaum vorhanden ist.
Kathrin ist gnadenlos. Wo die Therapeuten Johanna in Ruhe lassen, zurückscheuen vor dem, was sich zaghaft einen Weg an die Oberfläche bahnt, da geht sie mit brachialer Gewalt vor. Es gibt kein Entrinnen. Johanna hasst sie dafür, sucht zugleich immer wieder ihre Nähe, wenn sie sich stark genug fühlt. Und auch, wenn sie sich schwach fühlt. Kathrin schreit und tobt für sie, wütet und kämpft. Nur weinen muss Johanna allein. Wenn die Tränen kommen, nimmt Kathrin sie flüchtig in den Arm, dann sucht sie das Weite. Tränen ist sie nicht gewachsen, sie machen sie hilflos.
Mit dreizehn wollte sie im Unterricht ein Buch vorstellen, eines über Missbrauch. Das Thema war so fern, nie hätte sie für möglich gehalten, dass sie dieses Buch aus einem anderen Grund als aus Mitgefühl für die Opfer und aus Interesse vorschlug. Der Lehrer lehnte ab, die Gefahr, potentielle Wunden bei seinen Schülern aufzureißen, war ihm zu groß. Johanna schüttelte unverständig den Kopf. Wollte er denn seine Hilfe nicht anbieten? Er musste doch wissen, wie viele Opfer es gab.
Sie überlegte, wen es in ihrer Klasse wohl getroffen haben mochte. Auf sich selber kam sie dabei nicht.
Wenn sie Zeit für sich braucht, geht sie zur alten Weide am Fluss, ganz hinten auf dem Klinikgelände. Hier klettert sie auf einen der starken Äste, die über das Wasser hängen, lehnt sich an einem höheren, parallel laufenden Ast an und schließt die Augen. Lange gehört dieser Platz ihr ganz alleine. Kathrin findet sie auch hier, bereits drei Tage, nachdem sie angekommen ist.
Sie fragt nicht, ob sie willkommen sei. Sie setzt sich neben Johanna, bietet ihr eine Zigarette an und schweigt mit ihr, bis Johanna Kraft genug gesammelt hat, um zu reden. Lange sitzen die beiden Mädchen Arm in Arm auf dem Baum, bis der Gong sie zum Essen ins Haus ruft und Johannas Augen leergeweint sind, ihre Erinnerungen aber endlich nicht mehr nur ihr alleine gehören.
Irgendwann hörte es auf. Sie ging nicht mehr hin, und keiner kam, sie zu holen. Ihre Eltern stellten keine Fragen, seine nur sehr allgemeine. Ein Leichtes, diesen auszuweichen.
Und schon bald war die Erinnerung gelöscht, war verdrängt, was nicht sein durfte.
Als sie sechzehn war, wollte er sie fotografieren, für die Schülerzeitung. Sie widersetzte sich ihm und war verwundert, wie leicht es war. Sie war stark, viel stärker als er. Aber die Erinnerung war zurück und ließ sich kein zweites Mal verbannen. Nicht vollständig.
Als sie ihr Schweigen endgültig bricht, kehrt sich alles für sie um. Plötzlich brechen sich die Worte mit aller Macht ihren Weg, nichts und niemand kann sie mehr aufhalten. Sie berichtet in der Gesprächstherapie von den Qualen, von seinen Fingern, von allem, was sich angestaut hat.
Kathrin ist für sie da, hält sie fest und weicht endlich den Tränen nicht mehr aus. Nicht Johannas Tränen, nicht ihren eigenen.
In der Zeit, in der alle anderen Mädchen begannen, sich zu schminken, als beim Sport kichernd berichtet wurde, wie der eigene Körper sich langsam veränderte, da zog sie sich zurück. Die anderen trugen enge Tops und kurze Röcke, ihre Shirts waren weit, die Hosen lang und die Pullover groß und gemütlich. Wenn das Thema Sex angesprochen wurde, war sie wissenschaftlich distanziert, machte auf die Mitschüler einen unglaublich erfahrenen Eindruck. Sie war die erste, die einen Freund hatte, die erste, die mit der Zunge küsste, die erste, die bei einem Jungen übernachten durfte. Doch bei all dem blieb ein schaler Geschmack, den sie sich nie erklären konnte. Ihr Innerstes blieb sogar ihr selbst verborgen.
Als Johanna entlassen wird, geht sie erhobenen Hauptes und lässt ihr altes Leben hinter sich zurück.
Den Geruch von Honig mag sie noch immer nicht, und ihre Kinder werden ohne Playmobil aufwachsen müssen, aber sie kann sich endlich ihren Ängsten stellen. Sie ist sich sicher, dass es irgendwann einen Mann geben wird, den sie nicht von sich stößt, in dem sie niemand anderen sehen wird als den, der er ist.
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Juli 2003