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Die Rache der 47 Samurai
Die Rache der 47 Samurai
Ich bin auf dem Weg zum Sengaku-Tempel in Shinakawa. Dorthin unterwegs nehme ich die Yamanote-Schnellbahn von Tokyo, danach muss ich noch einige hundert Meter Fußweg zurücklegen. Unter lautem Quietschen hält der Zug im Bahnhof und ich habe Mühe, mich durch die drängelnden Massen nach draußen zu kämpfen. Als ich den Bahnhof verlasse, ist das Wetter sehr schön. Die Sonne hat den heutigen Zenit bereits überschritten und hüllt nun den wolkenlosen Himmel in ein malerisches Orange. Mein Weg führt mich durch kleine Seitenstraßen, an verschiedenen Geschäften und Dôjôs vorbei, bis zu einem kleinen Torbogen, der den Eingang zum Sengaku-Anwesen darstellt. Ich besichtige den Tempel ausgiebig, er ist sehr interessant, dieses Interesse scheinen aber nicht viele mit mir zu teilen, denn das Gebäude ist fast menschenleer. Beim Verlassen bemerke ich einen kleinen Aufgang zur Anhöhe hinter dem Tempel. Immer wieder sehe ich Menschen, die vom Hügel kommen oder ihn gerade betreten. Ich schließe mich einer kleinen Gruppe von Touristen an, die gerade ihren Aufstieg beginnen. Oben angekommen steigt mir die von Räucherstäbchen duftgeschwängerte Luft in die Nase. Vor mir liegt eine Grabstätte. Sie sieht friedvoll und einladend aus und ich beschließe eine Zeichnung von ihr zu machen. Ich setze mich unter einen Kirschbaum, der hin und wieder eine seiner kleinen, rosa Blüten auf mich herabfallen lässt.
„Das ist die Ruhestätte der 47 Samurai. Kennst du die Legende, die sich um jene 47 Namen rankt?“
Erschrocken drehe ich mich zur Seite und sehe, dass sich ein alter Mann neben mir niedergelassen hat. Auf seine Frage hin schüttele ich den Kopf. Der Mann zündet sich in Ruhe eine Pfeife an und beginnt zu erzählen.
„Der Daimyo von Akô hatte im April 1701 aufgrund einer öffentlichen Beleidigung das Schwert gegen den Zeremonienmeister Kira Yoshinaka, einen der höchsten Beamten des Shogunats gezogen. Da dies im damaligen Edo ein schweres Vergehen war, wurde Asano, so der Name des Daimyôs, aufgefordert, sofort Seppuku zu begehen. Daraufhin wurde das Lehen Akô eingezogen, Asanos Gefolgsleute wurden zu Rônin und verloren ihr Einkommen. Unter der Führung von Asanos ehemaligem Hauptvasallen Oishi pochten diese Rônin insgeheim auf Vergeltung. Im Dezember 1702 stürmten die 47 Samurai die Residenz von Yoshinaka, enthaupteten diesen und brachten seinen Kopf an das Grab ihres Herren. Diese Tat wurde damals in ganz Japan bewundert und gerühmt, denn auf Grund der ungerechten Behandlung des Daimyos erschien dieses Handeln durchaus legitim, legal war es allerdings nicht. Zwei Monate später wurde den 47 Samurai befohlen Seppuku zu begehen. Sie waren dieses Risiko wissentlich eingegangen und stellten die Ehre ihres Herren über die Interessen des Shôgun“.
Die Pfeife des Alten ist ausgegangen. Er macht eine Pause und zündet sie sich erneut an.
„Hier in Japan kennt diese Geschichte jedes Kind, denn im Verhalten der 47 Samurai erkennt man Mut, Besonnenheit, Loyalität und Opferbereitschaft einer Person oder einer Sache gegenüber. Das Sein des Kollektives, der bedingungslose Zusammenhalt der Gruppe und der Konflikt zwischen Legalität und Legitimität machen diese Legende zu einem wichtigen Teil jeden Japaners. Der Historiker Kato sagte, diese Geschichte drückt die Grundstruktur der japanischen Gesellschaft in verdichteter Form aus“.
Noch mit den letzten Worten steht der Mann auf, lächelt mir zu und verlässt darauf hin die Anhöhe. Ich fühle mich von neuer Inspiration erfüllt. Die Grabstätte erscheint mir in einem ganz neuen Bild. Meine Zeichnung wird rechtzeitig zum Einbruch der Nacht fertig und ich mache mich auf den Weg zum Hotel. Ich merke, ich muss noch viel lernen.