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Die rote Katze

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11.09.2003
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Die rote Katze

*) Ich werde die rote Katze nie vergessen, und ich werde mich immer fragen, ob ich damals das Richtige getan habe.
Es begann an einem grauen Tag im Oktober 1946. Ich saß auf dem Schutthaufen, der früher einmal unser Haus gewesen war, und dachte darüber nach, wie es mit meiner Familie weiter gehen sollte. Währenddessen kaute ich an einem harten Stück Brot. Der Bäcker davon war ein Freund von meinem Vater gewesen, und deshalb bekamen wir das Brot vom Vortag ganz billig. Immer, wenn wir den Laden mit dem vollen Einkaufskorb wieder verließen, flüsterte meine Mutter mir zu: „Siehst du, es gibt doch noch gute Menschen auf dieser Welt“.

Plötzlich ließ ich ein Stück Brot fallen. Gerade, als ich mich danach bücken wollte, fuhr eine rote Pfote aus den Brennnesseln hervor und angelte sich das Brot. Ich sprang auf und sah eine Katze, rot wie ein Fuchs und so mager, dass man die Rippen sehen konnte. Sie verschlang mein Mittagessen mit einem einzigen Bissen.
“Verdammtes Biest!“, rief ich und warf einen Stein nach ihr.
Ich hätte nie gedacht, dass ich treffen würde, ich wollte der Katze eigentlich nur Angstmachen und sie vertreiben, damit sie uns nie wieder das Essen klauen würde. Die Katze wurde zu Boden geschleudert und blieb reglos liegen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, denn schließlich lag es in ihrer Natur, um ihr Essen zu kämpfen, und letztendlich war dies eine bewährte Methode gewesen.
Ich kroch näher zu der Katze heran. Sie starrte mich böse an. „Komm mir nicht näher, ich kann kratzen und beißen,“ schien sie mir zu sagen.
„Wenn ich dich hier lasse, stirbst du,“ flüsterte ich.
Ich versuchte, sie zu streicheln, aber die Rote fuhr sofort ihre Krallen aus und verpasste mir einen Hieb mit ihrer Pfote, die unglaublich groß wirkte, weil der restliche Körper so mager und klein war. Mein Handrücken brannte schrecklich und langsam begann der schmale Kratzer sich rot zu färben. Ich beobachtete, wie sich das Fell der Katze vor Blut noch roter färbte. Die Wunde sah gefährlich aus, und ich wusste, dass die Katze sterben würde. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, denn schließlich hatte ich ihr etwas viel Kostbareres genommen als sie mir, denn im Krieg hatten wir gelernt, dass nichts mehr Wert ist als das Leben.

Ich hob die Katze auf und trug sie bis zu der Baracke, in der wir zu der Zeit lebten. Das Vieh war für das kleine Mädchen, das ich damals war, wirklich schwer. Ich setzte sie ein paar mal ab, aber schließlich erreichten wir die Küche. Dort war meine Mutter dabei, den Boden zu scheuern. Sie schaute verwundert auf. „Was willst du hier mit dem Streuner?“ wollte sie wissen, und ich erzählte, was passiert war. Mutter legte den Kopf schief. Eine Haarsträhne löste sich aus dem strengen Knoten und fiel ihr ins Gesicht. „Dann wollen wir mal sie verarzten, hm? Aber, du weißt ja, dass wir sie nicht behalten können. Die Katze ist ein Tier der Straße, ein Krieger, der gegen uns kämpft. Er wird nicht nahe seinem Feind sein wollen, auch nicht, wenn dort das Lazarett ist.“
Ich schenkte ihren letzten Worten nicht viel Aufmerksamkeit, nickte und freute mich. Ich wollte schon immer Krankenschwester werden. Als ich klein war, verarztete und umsorgte ich immer meine Maispuppe, und alle sagten, ich hätte das von meinem Vater. Der war nämlich Arzt. Außerdem wollte ich den verletzten Leuten helfen. Ich hasste es, tatenlos dabei zu stehen. Aber jetzt konnte ich helfen, auch, wenn es nur eine Katze war.

Meine Mutter wusch ihr ein bisschen das Fell aus, nicht zu arg, sagte sie mir, weil die Katze sonst zu viel Blut verlieren würde. Anschließend zerschnitten wir ein altes Hemd von Vater, das niemand hatte kaufen wollen, und wickelten die Stoffstreifen um die Schulter der Roten. Ich hatte mehr erwartet.
„Ich weiß nicht, was man sonst noch tun könnte,“ sagte Mutter und ich nickte. Ich wusste auch nicht, was zu tun war. Also sagte ich leichthin: „Schade, dass Vater nicht da ist. Der war ja Arzt.“
Mutters Gesicht verschloss sich. Sie wendete sich ab und begann, lautlos zu schluchzen. Ich hasste dieses tränenlose Weinen und ich hasste mich selbst, weil ich Vater erwähnt hatte. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten konnte. Er war doch nun schon so lange tot. Ich selbst hatte ihn erst kennen gelernt, als er aus dem Krieg kam. Verletzt und irgendwie gebrochen. Die Nachbarschaft hat uns gemieden, weil er nicht für den Führer gestorben war, und ich glaubte, das hatte ihm ziemlich zu schaffen gemacht. Er starb zwei Monate nach seiner Ankunft. Das war zu diesem Zeitpunkt über zwei Jahre her. Ich verstand früher nicht, warum Mutter ihm immer noch nachtrauerte.
Ich fragte meine Mutter also, warum sie weinte. Das war ihr eigenes Konzept: Das Problem bei der Wurzel anpacken.
„Nicht wegen Vater. Nicht nur wegen Vater,“ schniefte sie. Sie machte eine ausschweifende Handbewegung und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ordnete ihren Haarknoten.

Die Katze kämpfte tagelang ums Überleben und hatte die ganze Zeit nur einen Gedanken: Weg von hier. Ein Feind im gegnerischen Lazarett. Sie starb elend und langsam. Tagelang weinte ich, obwohl ich sie nicht lange gekannt hatte und sie mich nicht ausstehen konnte. Ich weinte nicht um sie, nicht nur um sie- ich weinte um den Krieg. Dazu gehörte alles: der Tod meines unbekannten Vaters, unser zerbombtes Haus, dass die Nachbarsfamilie mit meiner besten Freundin weggezogen war, dass die einst so schöne Stadt in Schutt und Asche lag, dass so viele Menschen sterben mussten, dass das Ausland nichts mehr von uns wissen wollte und dass wir auf hartes Brot angewiesen waren. Letztendlich zählte aber nur, dass wir überlebt hatten.

Ich beerdigte die Rote fünf Straßen weiter in einer zerschmetterten Mauer unter einer großen Eiche und hoffte, dass das Tier hier gerne in kalten Nächten gesessen hätte und zu Haus begraben war. Das Wichtigste bei der Wahl ihrer Grabstätte war mir aber, dass sie so weit wie möglich weg von unserer Baracke war entfernt war.
Das ist meine Geschichte über die rote Katze- über die Zeit, in der ich zu begreifen begann.


*) Ausgangssituation inspiriert von Marie Louise Rinser

 

Hallo Tanjah und herzlich Willkommen auf KG.de!

Eine schöne Geschichte die mich zum Nachdenken bringt. Die rote Katze als "Angelpunkt" zu nehmen und den Krieg, die Situation, die Verluste mit einzubringen sind Dir sehr gut gelungen.
Also für mich ein guter Einstieg hier. Du hast einen guten Schreibstil.
Was mir noch aufgefallen ist:

Mein Handrücken juckte schrecklich und langsam begann der schmale Kratzer sich rot zu färben.
(brennt es nicht erst und juckt dann, wenn es heilt?)

Das Vieh war wirklich schwer
(wenn die Katze so mager ist, wie kann sie so schwer sein? Oder ist es noch ein sehr kleines Mädchen? Ansonsten sollte das vielleicht erwähnt werden, oder ich würde den Satz weglassen)

LG Joker

 

Hallo Tanjah,

ich finde auch, dass die Geschichte gut ist. Sie ist nachvollziehbar und man kann sich in das Mädchen hineinversetzen. Ein paar Sachen kamen mir ein wenig "holprig" vor.

"Ich werde die rote Katze nie vergessen, und ich werde mich immer fragen, ob ich damals das Richtige getan habe."

Finde ich als Einstieg ein bisschen zu dicke, ist aber wohl Geschmackssache...

"Ich saß auf dem mit Brennnesseln überwucherten Schutthaufen..."
Hört sich an als ob sie sich wirklich in die Brennesseln setzt...

"Wenn Mutter in dem Laden war, sagte sie immer, sie sei so unglaublich dankbar dafür."
Klingt ein wenig hölzern, Vielleicht eher: Mutter war immer sehr dankbar dafür...

"Blut hatte für mich das Erschreckende verloren, ich hatte mich im Krieg daran gewöhnt, dass Menschen bluteten, schrieen und starben."
Glaube nicht das ein Kind das so "nüchtern" betrachten kann. klingt so abgebrüht...

"Also dachte ich, die Katze würde auch sterben, und sie begann mir leid zu tun. Ich hatte ihr etwas viel Kostbareres genommen als sie mir. Im Krieg hatten wir gelernt, dass nichts mehr Wert ist als das Leben."
Passt nicht zu dem Satz davor. Da hat sie sich ja schon so halbwegs mit dem Sterben von Menschen abgefunden..

"Ich selbst hatte ihn erst kennen gelernt, als er aus dem Krieg kam. Verletzt und irgendwie gebrochen."
Wenn sie ihn erst nach dem Krieg kennengelernt hat, kann das Mädchen ja noch nicht so alt sein. Glaube nicht dass sie dann sowas wie "irgendwie gebrochen" denkenn würde....

Lieben Gruss, Andrea


 
Zuletzt bearbeitet:

@ Joker
"Das Vieh war wirklich schwer"
Stimmt, ich wollte damit ausrücken, wie klein das Mädchen noch ist. Vielleicht sollte ich das noch an anderer Stelle erwähnen...

@ Andrea
Danke für die Hinweise, ich habe jetzt einige Forumlierungen verändert (hoffentlich verbessert).
Mein Prot. schreibt über seine Kindheit in der Nachkriegszeit und ich finde es natürlich, dass ein Erwachsener die Worte "Irgendwie gebrochen" benutzt. Du hast aber insofern recht, dass ein kleines Mädchen mit dieser Formulierung nicht anfangen könnte :)

MfG Tanjah

 

Hallo Tanjah!

Auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen, Kompliment! Spwohl sprachlich als auch inhaltlich gut gelungen, ansprechend und bildhaft.
Gelegentlich verbindest Du meiner Meinung nach die Sätze ein bisschen zu häufig durch "und", aber das ist sicher Geschmackssache.

Einen kleine Tippfehler habe ich noch gefunden:

und wickelten die Stoffstreifen um die Schulter der Roten.

Was mich noch interessieren würde: Ist der erste Satz von Marie-Luise Rinser oder von Dir? Bis wohin ist die Geschichte von ihr inspiriert? Reine Neugier...

Liebe Grüße

chaosqueen

 
Zuletzt bearbeitet:

Die Geschichte von Marie Luise Rinser beschreibt die gleiche Ausgangssituation, also dass ein Mensch auf einem Schutthaufen sitzt, sich über sein Leben Gedanken macht und dabei hartes Stück Brot isst. Plötzlich taucht eine rote Katze auf und schnappt sich das Brot. Und von da ab stammt alles von mir.
Ich habe den Anfang komplett umgebschrieben, Teile weggelassen und neue hinzugefügt, z.B. die Geschichte mit dem Brot vom Vortag. Das Mädchen gehört auch ganz alleine mir, denn in der Originalgeschichte handelt es sich um einen halbstarken Jungen :)
Ich weiß ehrlich gesagt überhaupt nicht, wie die Geschichte von Marie-Luise weitergeht...

MfG Tanjah :cool:

PS. Ich glaube, der erste Satz ist von mir

 

Hallo Tanjah,
Ich bins nochmal...
"Immer, wenn wir den Laden mit dem vollen Einkaufskorb verließen, flüsterte sie mir zu: „Siehst du, es gibt doch noch gute Menschen auf dieser Welt“."
Wird gar nicht klar wer sie ist, bzw. wer da was flüstert...
LG, Andrea

 

Oh ja, stimmt... Danke für den Hinweis :)
Das kommt davon, wenn man eine Geschichte so oft verändert und Teile weg lässt...

MfG Tanjah

 

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