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Die Ruhe vor dem Tod

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16.03.2008
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Die Ruhe vor dem Tod

„Die Ruhe vor dem Tod“

Stellen Sie sich eine Wiese vor.
Saftig grün, das Gras ist schon eine Zeit lang nicht mehr gemäht worden, so dass sich der Löwenzahn und die Gänseblümchen überall breit machen konnten. Sie sehen wie kleine weiß-gelbe Augen aus, die zu blinzeln scheinen, wenn der Wind über die Wiese fegt. So als würde die Wiese sich die Menschen anschauen, die zu ihr kommen, nicht anders herum.
Die Wiese ist leicht abschüssig und an ihrem unteren Ende von einem schmalen Sandstreifen begrenzt. Danach folgt ein noch schmalerer gepflasterter Streifen und daneben breitet sich ein mittelgroßer, künstlich angelegter See aus. Der gepflasterte Weg und der Sandstreifen laufen um den ganzen See herum, damit sich die Einwohner der nahen Stadt hier beim Spazieren am Wochenende erholen können, wenn Sie denn wollen. Normalerweise ist der Uferweg voll von Fußgängern, Radfahrern, Skatern und Hunden, die Herrchen oder Frauchen an der Leine hinter sich her schleifen. Aber es ist noch nicht ganz Wochenende, es ist Freitagmittag, und noch sind nur wenige Leute hier unterwegs.
Der See eignet sich aufgrund der schlechten Wasserqualität nicht zum schwimmen, die Abwassereinleitungen aus der Stadt haben zu unberechenbarem Algenwuchs geführt. Selbst ein erfahrener Schwimmer könnte sich in Ihnen mit den Beinen verheddern, und würde riskieren, langsam von ihnen auf den Grund gezogen zu werden. Deshalb sitzen die Menschen zwar auf der Wiese und schauen auf seine glatte Oberfläche, wagen sich aber nicht ins Wasser.
Die Wiese dehnt sich fast bis zur Hälfte um den ganzen See herum aus, um dann zunächst in ein unbepflanztes Stück Feld, und danach in den Stadtpark über zu gehen. Man kann selbst aus der Ferne erkennen, dass die vielen Wochenendtouristen einen Trampelpfad hinterlassen haben, der quer über das Feld führt und im Wald verschwindet.

Doch bleiben Sie bei dem Stück Wiese mit dem Löwenzahn und den Gänseblümchen. Hier riecht es nach Gras, Sonne, Wasser und einem Hauch Sonnenmilch. Vereinzelt liegen Pärchen im Gras, dösen, hören Musik auf dem Walkman, dem Ipod, dem MP3-Player, spannen einfach mal aus. Manche erzählen sich auch etwas, streicheln dabei verliebt über den Rücken der Partnerin oder des Partners. Hier und da erklingt ein Lachen, ab und zu steht einer auf, um am nahen Kiosk etwas zu trinken zu kaufen. Bei einigen steht auch eine Kühlbox, damit die mitgebrachten Colaflaschen oder Sandwiches nicht warm oder matschig werden.
Man hört zwar den Lärm der nahen Stadt, aber alle Geräusche kommen nur gedämpft hier an, weil das Waldstück sie filtert: das Rauschen der Autos auf den Straßen, das Bimmeln der Straßenbahn, sogar ein fernes Rumpeln kann man hören; das kommt vom Bahnhof.

Aber vor allem hört man hier das Vogelzwitschern in den Bäumen, ein leises Summen der Fliegen und Bienen, das Rauschen des Windes im Gras und einigen Bäumen, die am oberen Rand der Wiese stehen. Manche stehen auch auf der Wiese und spenden ein wenig erholsamen Schatten. Heute ist es wunderbar warm, locker 27 Grad.

Einige Grundschulkinder sind mit ihrer Lehrerin aus dem stickigen Klassenzimmer hier auf die Wiese ins Freie gekommen. Als erstes organisiert die junge Frau eine Runde Eis vom Kiosk für ihre Schützlinge. Beim Verteilen ermahnt sie die Kleinen, bloß nicht ans Wasser zu gehen, sondern brav zusammen auf der Wiese zu bleiben. Die meisten von ihnen tun das auch und sitzen im Halbkreis zusammen. Ein paar jedoch laufen auf der Wiese umher, stören ihre Klassenkameraden beim Eisessen und rennen auch noch fast den kleinen Grill um, den eine türkische Familie mitgebracht hat und gerade dabei ist, ihr Mittagessen zu sich zu nehmen. Der Familienvater hält den Grill im letzten Moment fest, lacht dabei die Kinder an, sagt etwas zu ihnen. Die junge Lehrerin ist schon zur Stelle, zieht die Ausreißer vom Grill weg, entschuldigt sich bei dem Mann und schiebt die Kinder zurück zur Gruppe. Der Vater lacht wieder, schließlich ist ja nichts passiert, er bietet der jungen Frau sogar etwas von den mitgebrachten Getränken an. Man versteht sich, ohne Probleme, bald lacht auch die junge Lehrerin.
Es herrscht Ruhe, es ist friedlich hier. Keine Spur von Stress oder Hektik, endlich mal Ruhe von den Alltagssorgen.

Doch sehen Sie mal genauer hin.
Unter einem der Bäume am Rand der Wiese sitzt eine junge Frau, noch fast ein Teenager, mit grell bunt gefärbten, abstehenden Haaren. Sie trägt ein Nietenband um den Hals, ein schwarzes Top mit einem verwaschenen Motiv auf der Vorderseite, schwarze aufgekrempelte Jeans, hohe schwarze Schnürstiefel. Auch ihr Make-up ist schwarz, zumindest die Reste, die man sehen kann, wenn man ihr ins Gesicht schaut. Schwarze Lippen, bleiche Wangen, ein mageres, kränkliche Gesicht. Die Augen hat sie geschlossen, auch sie hört Musik auf ihrem Walkman, einem älteren Modell.
Neben ihr steht eine Tasche, aus der eine Wasserflasche und eine halbvolle Flasche Cola ragen. Ab und zu zieht sie die Colaflasche heraus und nimmt einen Schluck. Würden Sie neben ihr sitzen, würden Sie den Geruch von Alkohol wahrnehmen, denn die Cola ist mit Rum gemischt. Ziemlich stark sogar.
Jedes Mal, wenn sie einen Schluck getrunken hat und die Flasche anschließend absetzt, öffnet die junge Frau die Augen und blickt auf die Wiese, die umher tollenden Kinder, die Pärchen im Gras, die grillende Familie beim Essen, dann weiter, auf die ruhige Wasseroberfläche. Ihre Augen werden trüb, ihr Blick wird tiefer, als ob das dunkel erscheinende Wasser sie anzieht.
Ihr Kopf ruckt dabei ein wenig vor, so als würde das Wasser einen unsichtbaren Sog auf ihn ausüben, so als wolle sie sich im nächsten Moment erheben und auf den See zugehen. Aber sie steht nicht auf, sondern schließt die Augen wieder, wiegt sich ein wenig zum Takt der Musik, die nur sie hören kann, fällt dann in eine Starre und blickt aufs Gras vor sich, ohne wirklich irgendwas sehen zu können.

Vor ihren Augen läuft in diesen Momenten immer der gleiche Film ab. Es sind grausame Bilder, die sie sieht, traurige Gesichter, die sie anblicken. Gesichter von anderen Jugendlichen, die genau wie sie auf der Straße leben, die genau wie sie den nächsten Schuss finanzieren müssen, die genau wie sie anschaffen gehen auf dem Straßenstrich.
Heute hat sie sich allein aufgemacht, ist ziellos am Stadtrand entlang gegangen, bis sie diese Wiese erreicht hat.
Unter den Bäumen ist sie kurz stehen geblieben, hat sich umgeschaut und sich schließlich für einen von ihnen entschieden.
Hier. Heute.
Sie ist mager, ihre Arme und der Teil ihrer Beine, der zu sehen ist, sind bleich. Mit dem schmalen Rücken lehnt sie am Baum, fühlt seine harte, kühle Rinde. Sie könnte sich auch im warmen Graus ausbreiten, doch stattdessen drückt sie sich noch mehr an den harten Baumstamm und gräbt die Stiefel in den Boden. Sie ist dankbar für den Halt, den der Baum ihr gibt. In der rechten Hand hält sie das Fixerbesteck, das Feuerzeug liegt in ihrem Schoß. Alles ist vorbereitet.

Keines der Paare auf der Wiese nimmt Notiz von ihr. Die Kinder sind mit sich selbst beschäftigt, die Familie sitzt viel zu weit entfernt, als dass sie die junge Frau sehen könnte. Niemand bemerkt sie.

Sie jedoch kann von ihrem Platz aus den Rest der Wiese gut überblicken. Sie hört das Lachen der Kinder, die Unterhaltungsfetzen um sie herum, das Vogelgezwitscher über ihr. Doch sie ist in einer anderen Welt.
Sie holt tief Luft. Dann zündet sie das Feuerzeug an, hält es unter einen Löffel, auf dem ein kleiner weißer Klumpen liegt und jetzt schnell schmilzt. Ganz in Ruhe nimmt sie die Nadel und zieht sie auf. Dann holt sie einen Lederriemen aus der Tasche neben ihr und bindet sich den Arm ab.
Noch einmal blickt sie auf die grüne Wiese, auf das Leben um sie herum. So friedlich sieht es aus. Sie sehnt sich nach Frieden. Doch ihr Leben ist voll von Grausamkeit, Härte und Gewalt.
Sie will das nicht mehr. Nicht mehr sehen, wenn ihre Augen nachts geschlossen sind, nicht mehr erleben, wenn sie in die Stadt geht, zu ihren Freunden. Freunde, die gar keine sind, höchstens Schicksalsgefährten. Die sie aber auch nicht beschützen können.
Sie hat einfach keine Kraft mehr, zurück auf den Strich zu gehen und irgendeinen von diesen spießigen, verlogenen Familienvätern zu befriedigen. Sie hat keine Kraft mehr, ihren Dealer anzubetteln, um dann schließlich ihr ganzes so brutal erarbeitetes Geld für ein kleines weißes Päckchen hergeben zu müssen.

Sie setzt sich den Schuss und schließt die Augen. Augenblicklich ist es, als ob sie abheben würde. Dabei ist ihr Körper jetzt zur Seite gekippt, halb liegt sie im Gras unter dem Baum. Mühsam öffnet sie noch einmal die Augen. Sie sieht das grüne Blätterdach über sich, durch das manchmal die Sonne blitzt. Ein Stück blauer Himmel, weiße Wolken, die ganz langsam vorüberziehen. Keine Eile mehr.
Die Geräusche der Menschen ringsherum werden leiser. Das letzte, was sie empfindet, ist tatsächlich so was wie Frieden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Traeumerle,

erst mal herzlich willkommen auf KG.de.

Deine Geschichte ist gut geschrieben, angenehm flüssig zu lesen, und fast fehlerlos -

Sie könnte sich auch im warmen Graus ausbreiten
ist das Einzige, was mir momentan, und vielleicht, dass ich einem Menschen eher zusprechen würde, sich auszustrecken als auszubreiten.

Trotzdem stößt mich etwas an Deiner Geschichte ab.
Zum einen der Erzähler, der die Szene wie ein Sozialpädagoge vorführt: sieh mal, da ist das arme Mädchen, das sich den lezten Schuss setzt. Wenn ich, der Erzähler, Dich nicht explizit darauf hinweisen würde, würdest Du es, genau wie all die anderen Ausflügler, nicht bemerken.
Es steckt was unterschwellig Anklagendes, Betroffenheit weckendes in diesem Erzählton, der mir aber keine Wahl lässt, ob ich betroffen sein will oder nicht, sondern es mir moralisch aufzwingt. Damit verscherzt der Erzähler sich meine Sympathie.

Dann, wieder ein aufdringlicher Erzähler: vieles wird berichtet, distanziert beobachtet, aber ich kann es nicht mitempfinden. Einzig an dem Innenleben der Drogenabhängigen versuchst Du mich teilhaben zu lassen, doch auch sie bleibt mir fremd. Ekel, Demütigung und Hoffnungslosigkeit werden in den Raum gestellt, ohne dass ich sie wirklich nachempfinden kann.

Außerdem, doch dazu kenne ich mich in der Szene nicht genug aus, frage ich mich, ob ein Dealer sich tatsächlich anbetteln lässt - schließlich hat er selbst ein Interesse daran, den Stoff zu verkaufen. Und ob gutbürgerliche Familienväter tatsächlich zu einer sichtlich drogenabhängigen, punkig gestylten Gelegenheitsprostituierten aus dem Obdachlosenmilieu gehen, wenn es am Straßenstrich genug halbwegs gesund aussehende, ansprechender gestylte käufliche Damen gibt.

Ich wünsch Dir trotzdem noch viel Spaß beim Schreiben, Veröffentlichen und Kommentieren im Forum!

Gruß, Pardus

 

Hallo Träumerle,

deine Geschichte hat mir nicht gefallen. Gestört hat mich zum Einen die Anrede des Lesers. Zum anderen hatte ich das Gefühl, dass es sich nicht um eine richtige Geschichte handelt. Mehr um einen dieser plumben Versuche, "uns" die Augen zu öffnen.

Da ist die Schulklasse, und dort das Mädchen, und durch die ganze Geschichte hinweg ändert sich nichts daran. Am Anfang der Geschichte schaut ein runtergekommenes drogensüchtiges Strichmädchen desinteressiert auf eine umhertollende Horde Schulkinder. Am Ende auch, wenn auch aus toten Augen. Letzterer Fakt ist für die Kinder egal, die werden wahrscheinlich irgendwann nach Hause gehen und finden, das war ein toller Wandertag. Ich meine, wenn ich davon ausgehe, dass keinem Parkbesucher irgendwann die Tote auffällt und dadurch die Idylle hin ist. Diese absurde Annahme bewirkt die Geschichte bei mir als Leser, und das ist das Problem.


-- floritiv.

 

Antwort

Hallo Pardus,

danke fuer deinen Kommentar.
Ich studiere gerade literarisches Schreiben und diese Geschichte ist eine meiner Aufgaben. Eigentlich sollte ich eine Landschaftsbeschreibung machen und dann eine Figur erfinden, die in diese Landschaft passt.
Meine Fixerin passt nicht, gell?

Das ist aber beabsichtigt, ich wollte zeigen, dass man im Alltag nicht mitkriegt, wenn sich mitten unter uns eine Tragödie - hier der letzte Schuss - abspielt, während alles um uns rum so "normal" ist.

Der "Sozialpädagogenton" ist beabsichtigt, aber vielleicht zu sehr betont, das stimmt.

Ich weiß auch nicht, ob sich ein Familienvater für eine Fixerin interessieren würde, evtl. um sich selber einen "Kick" zu holen, wer weiss, welche Fantasien dabei eine Rolle spielen. Leider ist es aber so, dass es besagte Familienväter gibt, die sich auf dem Straßenstrich "bedienen"...

Es ist richtig, dass die Geschichte noch nicht ganz "stimmig" ist, der Stil muss noch geübt werden. Trotzdem danke für deinen Kommentar!

 

Hallo Floritiv,
danke für deinen Kommentar!

Die Kinder und deren Tag auf der Wiese sind nicht wichtig, wichtig ist nur der Moment, bevor die Fixerin stirbt. Sie möchte doch genauso wie alle anderen ein wenig Frieden empfinden, und das wollte ich beschreiben.

Ob jemand später ihre Leiche bemerkt ist wieder eine andere Geschichte....

Natürlich wirkt die Geschichte oberlehrerhaft, das gebe ich zu.
Aber auch die direkte Anrede ist gewollt - SCHAUT HIN - soll das heissen.

Das der Stil noch nicht gut ist, habe ich Pardus schon geschrieben.

Vielleicht wird ja die nächste Geschichte besser. Danke jedenfalls!

 

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