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Die Sache mit dem Senf
Am Ende deines Lebens, wenn die Dinge langsam zum Ende kommen, dann überdenkt man nochmal alles, was man getan hat. Man denkt über die schönen Dinge, aber auch über die Fehler nach, die man gemacht hat. Wenn ich zurückblicke, stelle ich fest, dass ich nur einen Fehler gemacht habe. Ich habe wegen einer Frau gelogen. Ivette war ihr Name.
Es war bei unserem ersten Date. Ich hatte sie auf den Jahrmarkt eingeladen. Kein besonders nobles erstes Date, ich weiß, aber sie sagte mir, dass sie Jahrmärkte mochte, und es schien ihr zu gefallen. Am Ende unseres gemeinsamen Abends, packte uns noch einmal der kleine Hunger und wir entschieden uns, eine Grillwurst zu essen. Während wir unsere Wurst aßen, fragte sie mich, ob ich Senf möchte, und ich antworte, dass ich gerne Senf möchte. Als ich sah, dass sie sich schon einen großen Klecks Senf auf ihre Wurst gemacht hatte, sagte ich noch zusätzlich: „Ich liebe Senf!“
Hätte ich das doch nie gesagt.
Es dauerte noch vier weitere Dates, bis wir zusammen zogen. Es war ein großes durcheinander und es dauerte eine Weile, bis sich das Chaos gelegt hatte. Aber trotzdem war in der ersten Zeit zusammen alles sehr schön. Nach drei Monaten änderten sich jedoch ihre Arbeitszeiten, und Ivette hatte auf einmal Zeit, für uns am Abend zu kochen. Und trotz dessen, dass wir mittlerweile so viel gemeinsam erlebt hatten, schien sich nur an das eine Mal zu erinnern, als ich gesagt hatte, dass ich Senf liebe.
Von nun an richtete sie alle unsere Mahlzeiten mit Senf an. So machte sie uns am Montag Schrimps in Honig-Senf Sauce. Am Dienstag gab es Senfeier. Tags darauf Senfeier auf Krabbensalat und Tags darauf Camembert mit Senf-Vinaigrette. Freitag gab es Kabeljau mit Senfsauce. In den darauf folgenden Wochen und Monaten kochte sie nur noch Gerichte, die auf irgendeine Art und Weise mit Senf zu tun hatten. Bratwurst mit Senf, Frikadellen mit Senf, Eier in Senfsauce, Heringssalat in Senfsahnesauce, Schweineschulter mit Senf und Aprikosen, Senf-Kartoffel-Suppe, Hühnchen in Senfsahne und Hawaii-Toast... mit Senf. Jedes Wochenende ging sie los um neue Kochbücher mit immer neuen Rezepten mit Senf zu kaufen. Aber das war noch nicht das schlimmste. Sie gab auch immer mehr Geld für besonders extravagante Senfarten aus, die aus Ländern kamen, von denen ich noch nie gehört hatte. Unser Senf machten Reisen um die ganze Welt, aber wir konnten uns nicht einmal mehr Urlaub am Baggersee leisten.
Kurz darauf war in jedem Winkel unseres Lebens Senf. Das Wohnzimmer wurde senfgelb angestrichen, das Haarschampoo enthielt Senfextrakte, extra angemischt zum passenden Senf-Peeling. Selbst das Mineralwasser war mit kleinen Senfkörnern gewürzt. Zu besonderen Tagen gab es Senfwein, den sie uns einmal im Monat kelterte. Ich war mir bis dahin nicht bewusst gewesen, dass so etwas überhaupt möglich war.
Wahrscheinlich wäre es das einfachste gewesen, Ivette zu gestehen, dass ich Senf nicht so sehr liebte, wie sie glaubte. Vielleicht hätte dies alle darauf folgenden Konflikte vermeiden können. Ich fürchtete, dass sie den Verlust unserer „Senfliebe“, als Säule unserer Beziehung, nicht verkraften würde. Doch vielleicht war ich auch einfach nur zu feige, ihr das zu gestehen.
Noch bevor ich entgültig den Verstand zu verlieren drohte, traf ich zum Glück eine alte Schulfreundin wieder, die vor kurzem ihre eigene psychologische Praxis aufgemacht hatte. Ich erzählte ihr von meinem Problem mit Ivette und sie bot mir an, sich einmal mit mir zu treffen, und darüber zu reden. Wäre ich doch bloß nicht so ein vergesslicher Mensch gewesen, dann hätte ich mir den Termin für unser Treffen einfach gemerkt und nicht auf einen Zettel geschrieben. Diesen fand Ivette natürlich einen Tag später in meiner Jackentasche, was sie natürlich glauben ließ, dass ich sie betrüge. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass sie ein eifersüchtiger Mensch war. Sie klammerte sehr und ließ mich selten mit Freunden alleine weggehen. Aber abgesehen davon, wäre wahrscheinlich jeder Mensch misstrauisch geworden, wenn er einen Zettel in der Tasche seines Freundes findet auf dem steht: Treffen mit Natalie, Freitag um 8.
Ich hatte gehofft, dass Natalie mir irgendeinen Tipp geben könnte, wie ich das Problem mit meiner Ivette lösen könnte. Doch als ich, wie verabredet, am Freitag in ihrem Büro ankam, konnte sie mir nicht mehr helfen. Zuerst wunderte ich mich, denn ich konnte sie nicht finden. Ich fragte mich, ob sie vielleicht schon gegangen war. Hinter ihrem Schreibtisch fand ich sie dann doch. Sie lag in ihrem eigenen Blut. Neben ihrem Kopf lag ein blutverschmiertes Glas Senf. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, wer sie mit diesem Glas niedergeschlagen hatte. Noch bevor ich mich von dem Schreck erholen konnte, spürte ich einen schweren Schlag gegen meinen Hinterkopf, ein klirrendes Geräusch und den intensiven Geruch von frischen mittelscharfen Senf. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich gefesselt an eine Stuhl in unserer Wohnung wieder. Ich saß am Esstisch und vor mir waren alle Senfspeisen aufgebarrt, die sie jemals gekocht hatte. Dies war vielleicht die falsche Gelegenheit, um ihr zu gestehen, dass ich Senf nicht mehr leiden konnte. Ob es nun meine aussichtslose Lage, oder die berauschende Wirkung echten tibetischen Senfs war, aber ich entschloss mich, ihr meine wahre Meinung zum Thema Senf zu geben. Es war definitiv die falsche Gelegenheit, aber durch mein Geständnis wurde es auch die letzte Gelegenheit. Genau wie ich befürchtet hatte, konnte sie mit dieser Zurückweisung nur schwer umgehen, weshalb sie ziemlich verärgert meinen Kopf nahm und ihn tief in die vor mir stehende Schüssel Kürbis-Senf Suppe drückte.
So sitze ich nun am Ende hier, den Kopf in eine große Schüssel voll Suppe gedrückt und lasse mir mein Leben am geistigen Auge vorüber ziehen, während sich meine Atemwege mit einer scharf-süßlich fruchtigen Masse füllen. Für das nächste Leben versuche ich mir einfach diesen einen wichtigen Satz zu merken: Danke, ich habe genug.