Die sanften Riesen der Meere
Da hat Manuel so lange gestrampelt und geboxt, bis der loslassen musste. Und jetzt strampelte er gegen den Wind und die aufgewühlte See. Doch immer, wenn er das Boot ein paar Meter näher zur Insel gesteuert hat, schiebt ihn die nächste Welle wieder zurück.
Dabei ist das gar kein Sturm. Wenn der erste loslegt – Manuel würgt die Angst hinunter. Vielleicht bricht gleich die Sonne noch einmal durch die Wolken. Das gibt es doch, dass Flaute einsetzt. Die Ruhe vor dem Sturm nennen die Fischer das. Und die kennen sich nun wirklich auf dem Meer aus.
Es gibt keine Ruhe, keine Flaute. Der Wind jault Manuel um die Ohren. Das Schlauchboot hüpft wie ein Ball. Das kann man nicht mehr lenken.
Manuel muss sich etwas anderes einfallen lassen. Auch wenn Großvater ihn einen Winzling nennt, unterkriegen lässt sich nicht.
Großvater mit seinem Wetterbein und Mutter mit ihren Ahnungen! Manuel spuckt Salzwasser aus. Er reckt den Kopf so hoch, wie das nur möglich ist. Wo sind bloß die Thunfischkutter? Die Männer lassen sich bestimmt nicht vertreiben, nur weil der Wind aufdreht. Doch so weit Manuel schauen kann, kein Schiff, und immer ferner die Küste.
Verzweifelt lässt er den Kopf sinken. Soll er versuchen zu schwimmen? Aber gegen die Wellen an kraulen ist noch anstrengender als paddeln und man schluckt viel Wasser dabei. In dem Bötchen kann er sich ausruhen, ein bisschen wenigstens. Außerdem - Manuel kommt ein entsetzlicher Gedanke - bei Sturm nähern sich Haie der Küste. Es gibt Hammerhaie vor Madeira. Manchmal reißen sie Stücke aus einem erbeuteten Wal. Manuel hat öfter klaffende Wunden im Speck der toten Riesen gesehen.
Die See brodelte jetzt. Regen klatscht in die Gischt. Manuel klammert sich an den Rand des Schlauchbootes. Eine Wasserwand türmt sich vor ihm auf, rollt heran und schlägt schäumend über ihm zusammen. Als er wieder Luft holen kann, ist das Boot verschwunden.
Manuel schwimmt. Er denkt nicht mehr an die Haie, nicht an die Thunfischkutter, nicht einmal mehr an die Entfernung bis zur Küste. Er schwimmt, reißt den Kopf hoch, schnappt nach Luft, schwimmt weiter, spuckt Salzwasser aus. Die Angst lähmt seine Gedanken. Beine und Arme werden schwer, die Bewegungen langsamer. Manuel merkt es nicht einmal. Schwimmen, Luftholen, Schwimmen – ganz mechanisch führt sein Körper diese Befehle aus.
Er sieht nicht, wie eine kleine dreieckige Rückenflosse neben ihm auftaucht und gleich wieder verschwindet. Auch den grauen Kopf bemerkt er nicht, den geöffneten Rachen, die spitzen Zähne. Da streift etwas an seinem Bauch entlang, seine Füße stoßen auf Festes. Sein müder Arm streckt sich vor – und bleibt liegen. Manuel sieht seine eigene Hand vor sich auf dem Wasser, ohne das sie untergeht. Nun langt er mit dem anderen Arm nach vorne. Dasselbe. Er schwimmt nicht mehr. Das Meer tobt undschäumt und trotzdem geht er nicht unter.
Werde ich verrückt? Oder vielleicht ist das Schlauchboot.... Unmöglich, das ist grell orange. Das müsste ich sehen. Um ihn herum ist alles grau, das Meer, der Regen, der Himmel. Neben ihm springt ein Fisch. Der ist auch grau. Ein dicker grauer Fisch, größer als er selbst. Und da ist gleich noch einer. Haie?
Nein, denkt Manuel trotz seiner Verwirrung nun doch ganz klar, Haie springen nicht. Das sind überhaupt keinen Fische. Das sind Delphine!
Direkt vor seinem Gesicht ist ein grauer dicker Kopf. Manuel spürt es jetzt deutlich. Er wird getragen. Er liegt auf dem Rücken eines Delphins. Wie ein Gummistiefel fühlt der sich an, wie ein riesiger nasser Gummistiefel. Und jetzt nimmt Manuel wahr, dass um ihn herum noch mehr Delphine schwimmen. Vielleicht sind es fünf oder acht, zehn, elf? Er kann sie nicht zählen. Sie springen, tauchen recken den Kopf hoch. Manchmal sieht er nur die Rückenfinne. Wie die steil aufgerichtete Flosse der Haie, denkt er.
Der Delphin, der Manuel trägt, springt nicht. Ruhig gleitet er durch das Wasser, dicht unter Oberfläche. Manuel hält sich an der Finne fest. In dem aufgewühlten Wasser kann er keinen Blas erkennen, aber jedes Mal, wenn der Delphin die Luft ausstößt, hört sich das an wie das Pusten einer Fahrradpumpe.
Jetzt, da Manuel nicht mehr um sein Leben kämpft, sonder sich nur noch festhält, packt ihn die Angst noch mehr als zuvor. Ich drehe durch, denkt er, das bilde ich mir nur ein. Delphine, die einen Ertrinkenden retten, gibt es nur in Märchenbücher. Die können doch gar nicht wissen, dass ich in Seenot geraten bin. Wo sind die überhaupt so schnell hergekommen?
Aber es ist wirklich ein Delphin unter ihm. Der will bloß mit mir spielen denkt Manuel. Gleich schlägt er mit seiner Flunke um mich wieder loszuwerden. Großvater hat oft erzählt, dass Wale mit ihren starken Schwanzflossen Schiffe zertrümmert können. Und Delphine sind schließlich auch Wale.
Trotz seiner Angst klammert er sich an die Finne wie an einen Haltegriff. Seine Finger sind steif vor Kälte.
...
©by hannes500