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Die Schokoladenfabrik
Das Mädchen läuft Hand in Hand mit ihrer Mama die Straße entlang. Sie gehen an dem Gebäude vorbei, in dem Kakaobohnen geröstet werden, woraus man später Schokolade herstellt. Sie weiß das, weil der Name auf dem Gebäude auch auf der Packung Schokoladestreusel zu Hause steht. Sie nennt das Gebäude die "Schokoladenfabrik." Ein rauchiger, süßer Geruch reizt ihre Nase.
"Mama, kann ich später ein Eis haben?", fragt sie.
"Es ist jetzt ein bisschen kalt für ein Eis", meint Mama.
"Aber wenn wir zu Hause sind, bekommst du einen Bonbon, okay?"
Zufrieden nickt sie und hüpft neben Mama her.
Sie betreten den Altbau über eine große, breite Treppe. Wenn sie eintreten, riecht es unheimlich, nach Desinfektionsmitteln. Mamas Hand hält sie fest umklammert.
Mama geht weiter und bleibt in einem Raum stehen, in dem nur Stühle und ein paar Tische platz haben.
"Geh und such dir einen Stuhl, ich sage ihnen, dass wir da sind", sagt Mama zu ihr.
Sie geht über die schwarz-weißen Marmorfliesen zu zwei Stühlen, auf denen niemand sitzt. Als sie sich hinsetzt, legt sie ihre Hand auf den leeren Stuhl neben sich. Für Mama.
Mama kommt schon auf sie zu und setzt sich neben sie.
"Wir sind schnell dran", sagt Mama beruhigend.
Als sie sich umschaut, sieht sie die roten, weinenden Gesichter anderer Kinder. Sie wird unruhig.
"Ich bin doch nicht krank, oder, Mama? Ich habe keine Schmerzen."
"Nein, Schatz, es ist nur Kontrolle. Alles, was der Arzt tun muss, ist in deine Ohren zu schauen. Dann gehen wir nach Hause", antwortet Mama leise.
Eine Stimme ruft ihren Namen.
"Das sind wir", sagt Mama und steht auf.
"Komm schon."
Als sie den Raum betreten, reicht der Arzt den beiden die Hand.
"So, du kannst dich auf den großen Stuhl setzen und Mama auf den Stuhl da beim Fenster", sagt der Arzt mit seiner tiefen Stimme.
Sie kennt ihn von anderen Besuchen. Er rollt seinen Bürostuhl auf sie zu und steckt ihr ein Gerät in die Ohren.
"Nun, da ist Flüssigkeit hinter dem Trommelfell, die müssen wir entfernen."
"Nein, nicht doch! Sie hat keine Beschwerden, also dachte ich, es wäre alles in Ordnung", sagt Mama ein wenig erschüttert.
"Die Flüssigkeit ist jetzt nicht entzündet, aber um das zu verhindern, will ich sie trotzdem lieber entfernen." "Du wirst nichts spüren. Wir geben dir eine leichte Narkose und dann ist es vorbei", sagt der Arzt beruhigend zu ihr.
"Gehst du mit der Schwester und Mama kann im Wartezimmer platz nehmen."
Die Krankenschwester erscheint schon und nimmt sie bei der Hand.
"Komm, es wird nicht lange dauern."
Verängstigt schaut sie Mama an.
"Ich sehe dich gleich", nickt Mama ihr aufmunternd zu.
Dann geht sie Hand in Hand mit der Schwester in ein anderes Zimmer.
Dieser Raum ist klein, weiß und enthält nur einen schmalen Tisch, einen Hocker und einen Schreibtisch mit verschiedenen Instrumenten.
"Leg dich schon mal auf den Tisch", sagt die Schwester.
Über eine kleine Treppe neben den Tisch, klettert sie hoch.
"Was für ein schönes Armband du trägst!" sagt die Schwester bewundernd.
Stolz zeigt sie alle kleine Anhänger, die an dem Armband baumeln, und sie zählen schnell, wie viele es sind.
Dann ergreift die Schwester die Maske für die Narkose und stülpt sie ihr über Mund und die Nase. Sie beginnt sich zu wehren, fängt an zu zappeln und versucht die Maske mit ihren Händen vom Gesicht weg zu schieben.
"Nein, nein, nicht wegschieben!"
Sie möchte nach Mama rufen, kann aber wegen der Maske nicht.
Die Maske riecht nach Teer. Ihr wird übel und schwindlig, sie fängt an zu weinen. Sie will nur ihre Mama!
"Jetzt sei mal tapfer", fordert die Schwester sie auf.
Du bist schon ein großes Mädchen, zähl einfach mal bis 10, das kannst du bestimmt schon, oder?" meint die Schwester.
Eins, zwei, drei, vier, fünf .....
Als sie aufwacht, liegt sie auf einem schmalen hohen Bett in einem weißen Raum. Mama sitzt auf einen Stuhl neben ihr.
"Ah, gut, bist du wieder wach", sagt Mama erleichtert.
"Es ist vorbei. Wir fahren gleich schön nach Hause. Unser Taxi habe ich erst vor fünf Minuten bestellt, weil ich schon dachte, du wärst bald wach."
Das Taxi bringt sie nach Hause, wo sie von Mama ins Bett gebracht wird.
Sie ist müde und ihr ist ein bisschen übel von der Narkose.
Als sie die Augen wieder öffnet, betritt Mama gerade ihr Zimmer mit einer Tasse Tee und Keksen.
Die Frau geht die Straße entlang. Sie kennt den Weg, ihre Füße folgen ihm intuitiv. Die Schokoladenfabrik gibt es schon lange nicht mehr.
Das Krankenhaus ist abgebrochen, hat bereits zweimal einen neuen Namen und eine neue Adresse erhalten.
Trotzdem riecht sie immer noch den rauchigen, süßlichen Geruch von gerösteten Kakaobohnen.
Wie sie beim Geruch von frisch geteertem Asphalt, sich sofort wieder in das Mädchen verwandelt, das mit den Händen versucht, die Maske vom Gesicht weg zuschieben.
Ihre Mama ist längst ergraut. Sie hat sie mal gefragt, wie sie es schaffte, im Krankenhaus immer so ruhig zu bleiben.
Mama sagte ihr dann, dass sie lieber mit ihr geweint hätte, es täte ihr so leid. Aber sie unterdrückte dies, weil sie Angst hatte, sonst nicht bei der Behandlung dabei sein zu dürfen, wie es anderen Müttern manchmal passierte.
Als sie die Augen schließt, sieht sie, wie Mama mit einer Tasse Tee und Keksen in ihr Zimmer kommt.