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Die schreitenden Toten
Der Lange Mann erreichte ein Fischerdorf am grauen Meer, das sich wie ein Schwarm Möwen in die Hügel drückte. Obwohl der Tag bereits fortgeschritten war, hob sich der Nebel nicht, wie es oftmals am grauen Meer der Fall ist. Wie nasse Baumwolle hing er zwischen den Häusern.
In einer Bäckerei erstand er etwas Brot und einen Topf Schmalz. Dabei fiel ihm eine Frau in ärmlicher Kleidung auf, die ebenfalls dort einkaufte. Der Bäcker schien bemüht, eine Berührung mit dieser Frau zu vermeiden; er zog sich dicke Wollhandschuhe über, bevor er ihr die Backwaren gab. Als die Frau den Laden verließ, legte er die Handschuhe wieder ab.
"Verzeiht", sagte der Lange Mann, "ich habe bemerkt, dass Ihr diese Frau nicht berühren wolltet."
"So ist es." Der Bäckermeister nickte. "Denn sie ist eine schreitende Tote, und ich fürchte, mich mit ihrem Übel zu infizieren, wenn ich ihr zu nahe komme."
"Ich verstehe nicht. Mir erschien sie recht lebendig."
Der Bäcker beäugte ihn mißtrauisch.
"Ich komme von weit her", erklärte der Lange Mann.
"Es ist eben so, dass die schreitenden Toten wirken wie die Lebenden. Sie essen, laufen und atmen wie wir. Sie sprechen genauso und erinnern sich so gut an ihr voriges Leben, als hätten sie es noch. Dennoch sind sie nur tote Dinge, wie ein Fels oder eine Scheune. Lediglich erscheinen sie lebendig, so wie ein Uhrwerk oder eine Lokomotive auf uns lebendig wirken mag."
Der Lange Mann nickte. "Das leuchtet mir ein. Wie aber wisst ihr sie dann von den Lebenden zu unterscheiden?"
Der Bäcker seufzte. "Herr, fragt nicht mich. Ich bin nur ein Handwerker, solche Dinge müsst ihr den Landarzt fragen."
Der Lange Mann verließ die Bäckerei, sein Brot und den Schmalztopf unter dem Arm. Viele Menschen waren unterwegs, und nun, wo seine Aufmerksamkeit geweckt war, fielen ihm etliche auf, die von den anderen gemieden wurden. Immer wichen sie diesen etwas zerlumpten Gestalten aus, wie Wasser einem glühenden Eisen.
Eine dieser Unglücklichen, es war die Frau aus der Bäckerei, hielt der Lange Mann an. Auch er achtete darauf, sie nicht zu berühren.
"Frau", rief er sie an, "es heißt, Ihr seid tot, doch sehe ich Euch umhergehen, wie alle anderen auch."
Sie nickte und sah ihn traurig an. "Das ist wahr. Eine schreitende Tote bin ich seit nunmehr einem Jahr."
"Wie aber ist es dazu gekommen?"
"Eine Berührung bewirkt es. Ist man nicht rein und stark genug im Geist, und wird man von einem schreitenden Toten berührt, so stirbt man selbst, obwohl man sich weiter bewegt. Man wird zu einem Ding, nur die Erinnerung an das Leben verbleibt einem."
Der Lange Mann schüttelte den Kopf und wollte den Arm der Frau ergreifen, doch hielt er inne. "Aber kann denn nichts dagegen getan werden?"
"Es kann, doch ist die Behandlung teuer und langwierig. Der Landarzt führt sie durch, aber ich kann sie mir nicht leisten."
So fragte der Lange Mann nach dem Haus des Landarztes und fand es am Rand des Dorfes, inmitten eines großen Parks. Prächtig war es verziert mit Schnitzereien, und weiß gestrichen hob es sich gegen die verblassten Häuser der Siedlung ab.
Als sich der Lange Mann vorstellte, wurde er zum Arzt vorgelassen, der ein schmaler Mann mit einem spitzen Bart war. Er lächelte dem Langen Mann zu, doch dieser sah, dass sich seine Augen nicht bewegten.
"Ich habe viel von Euch gehört", begann der Arzt. "Ein Zauberer sollt ihr sein und ein Weiser, sagen manche, doch andere nennen Euch einen Wahnsinnigen und einen Unheilspropheten."
"Und nichts von dem möchte ich ausschließen, denn oft ist ein Ding zugleich sein Gegenteil, wie eine Medizin ein Gift sein kann und ein Arzt ein Mörder."
Wieder lächelte der Landarzt. "Und manchmal kann es falsch sein, von Wahrheit zu sprechen, wie Ihr vielleicht wisst."
Der Lange Mann nickte ruhig, doch ein Unwohlsein befiel ihn. "Aber nicht über mich möchte ich sprechen, sondern von den schreitenden Toten."
Der Arzt wandte sich ab und ging im Zimmer umher. "Ja, es ist ein Fluch. Ein Flüchtling kam von Norden, und er redete wirr vom Riesen aus Metall und der Zerstörung seiner Heimat. Keine vernünftige Antwort gab er, doch alle, die ihm helfen wollten, steckte er an mit Schwermut und Verzweiflung. Ich erkannte, dass er den schreitenden Tod verbreitete, den er vom Riesen empfangen hatte. Nun verstreute er ihn im Dorf. Nur durch einen starken Geist kann man diese Erkrankung überwinden, und einzig ich vermochte die Menschen dazu anzuleiten."
Bei der Erwähnung des Riesen graute dem Langen Mann, doch er überwand das Gefühl, indem er an die unglücklichen Dorfbewohner dachte. "Und Ihr lasst Euch diesen Dienst gut vergelten."
"Sicher, denn auch ich bin meinen Angestellten und zuletzt meinem eigenen Leben verantwortlich."
Dann verabschiedete sich der Lange Mann, denn er hatte erfahren, was er wissen wollte.
Er rief die Dorfbewohner zu einer Versammlung und versprach, den schreitenden Toten zu helfen, wenn man sie auf den Marktplatz bringe. So fand sich am nächsten Tag eine kleine Gruppe der grau Gewandeten dort ein, mit einigem Abstand umringt von einer Schar Neugieriger. Auch der Landarzt war erschienen.
"Seht nun!", rief der Lange Mann. "Diese Unglücklichen nennt Ihr die schreitenden Toten, aber wie erkennt Ihr sie?"
"Wir wissen, dass sie andere berührt haben! Das genügt uns", rief ein Mann aus der Menge, und viele stimmten ihm murmelnd zu.
"Aber", erwiderte der Lange Mann, "fließt denn Wasser in eine lecke Regentonne hinein? Ist es nicht in der Natur so, dass das Übervolle zum Ausgleich mit dem Leeren strebt?"
Erneut erhob sich beifälliges Raunen.
"Diese Menschen sind ihres Lebens entleert. Aber einen gibt es, der so überfließt davon, dass er anderen freigiebig spendet." Mit diesen Worten ergriff der Lange Mann den Arzt und stieß ihn mitten in die Menge der schreitenden Toten, so dass er alle berührte. Entsetzt mühte sich der Mediziner freizukommen, doch griffen immer mehr Hände nach ihm.
"Dort!", wies der Lange Mann. "Er hat sie geheilt, sie leben erneut."
Die zum neuen Leben erwachten wichen nun vor dem Arzt zurück und bildeten einen zweiten Kreis um ihn, wie die Schaulustigen sie umschlossen hatten.
"Doch nun ist er entleert!", schrie eine Stimme aus der Menge.
"Nein!", protestierte der Lange Mann, aber die neu Erwachten und die lebendigen Dorfbewohner vermengten sich zu einem Mob und trieben den Arzt mit Stöcken und Heugabeln vor sich her ins graue Meer.
Der Lange Mann jedoch verließ das Dorf, solange die Bewohner noch an der Küste weilten in Richtung Nordwesten, betrübt über die Trägheit, die ihm auf dem Fuße folgte.