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Die schreitenden Toten

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01.06.2005
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Die schreitenden Toten

Der Lange Mann erreichte ein Fischerdorf am grauen Meer, das sich wie ein Schwarm Möwen in die Hügel drückte. Obwohl der Tag bereits fortgeschritten war, hob sich der Nebel nicht, wie es oftmals am grauen Meer der Fall ist. Wie nasse Baumwolle hing er zwischen den Häusern.
In einer Bäckerei erstand er etwas Brot und einen Topf Schmalz. Dabei fiel ihm eine Frau in ärmlicher Kleidung auf, die ebenfalls dort einkaufte. Der Bäcker schien bemüht, eine Berührung mit dieser Frau zu vermeiden; er zog sich dicke Wollhandschuhe über, bevor er ihr die Backwaren gab. Als die Frau den Laden verließ, legte er die Handschuhe wieder ab.
"Verzeiht", sagte der Lange Mann, "ich habe bemerkt, dass Ihr diese Frau nicht berühren wolltet."
"So ist es." Der Bäckermeister nickte. "Denn sie ist eine schreitende Tote, und ich fürchte, mich mit ihrem Übel zu infizieren, wenn ich ihr zu nahe komme."
"Ich verstehe nicht. Mir erschien sie recht lebendig."
Der Bäcker beäugte ihn mißtrauisch.
"Ich komme von weit her", erklärte der Lange Mann.
"Es ist eben so, dass die schreitenden Toten wirken wie die Lebenden. Sie essen, laufen und atmen wie wir. Sie sprechen genauso und erinnern sich so gut an ihr voriges Leben, als hätten sie es noch. Dennoch sind sie nur tote Dinge, wie ein Fels oder eine Scheune. Lediglich erscheinen sie lebendig, so wie ein Uhrwerk oder eine Lokomotive auf uns lebendig wirken mag."
Der Lange Mann nickte. "Das leuchtet mir ein. Wie aber wisst ihr sie dann von den Lebenden zu unterscheiden?"
Der Bäcker seufzte. "Herr, fragt nicht mich. Ich bin nur ein Handwerker, solche Dinge müsst ihr den Landarzt fragen."

Der Lange Mann verließ die Bäckerei, sein Brot und den Schmalztopf unter dem Arm. Viele Menschen waren unterwegs, und nun, wo seine Aufmerksamkeit geweckt war, fielen ihm etliche auf, die von den anderen gemieden wurden. Immer wichen sie diesen etwas zerlumpten Gestalten aus, wie Wasser einem glühenden Eisen.
Eine dieser Unglücklichen, es war die Frau aus der Bäckerei, hielt der Lange Mann an. Auch er achtete darauf, sie nicht zu berühren.
"Frau", rief er sie an, "es heißt, Ihr seid tot, doch sehe ich Euch umhergehen, wie alle anderen auch."
Sie nickte und sah ihn traurig an. "Das ist wahr. Eine schreitende Tote bin ich seit nunmehr einem Jahr."
"Wie aber ist es dazu gekommen?"
"Eine Berührung bewirkt es. Ist man nicht rein und stark genug im Geist, und wird man von einem schreitenden Toten berührt, so stirbt man selbst, obwohl man sich weiter bewegt. Man wird zu einem Ding, nur die Erinnerung an das Leben verbleibt einem."
Der Lange Mann schüttelte den Kopf und wollte den Arm der Frau ergreifen, doch hielt er inne. "Aber kann denn nichts dagegen getan werden?"
"Es kann, doch ist die Behandlung teuer und langwierig. Der Landarzt führt sie durch, aber ich kann sie mir nicht leisten."

So fragte der Lange Mann nach dem Haus des Landarztes und fand es am Rand des Dorfes, inmitten eines großen Parks. Prächtig war es verziert mit Schnitzereien, und weiß gestrichen hob es sich gegen die verblassten Häuser der Siedlung ab.
Als sich der Lange Mann vorstellte, wurde er zum Arzt vorgelassen, der ein schmaler Mann mit einem spitzen Bart war. Er lächelte dem Langen Mann zu, doch dieser sah, dass sich seine Augen nicht bewegten.
"Ich habe viel von Euch gehört", begann der Arzt. "Ein Zauberer sollt ihr sein und ein Weiser, sagen manche, doch andere nennen Euch einen Wahnsinnigen und einen Unheilspropheten."
"Und nichts von dem möchte ich ausschließen, denn oft ist ein Ding zugleich sein Gegenteil, wie eine Medizin ein Gift sein kann und ein Arzt ein Mörder."
Wieder lächelte der Landarzt. "Und manchmal kann es falsch sein, von Wahrheit zu sprechen, wie Ihr vielleicht wisst."
Der Lange Mann nickte ruhig, doch ein Unwohlsein befiel ihn. "Aber nicht über mich möchte ich sprechen, sondern von den schreitenden Toten."
Der Arzt wandte sich ab und ging im Zimmer umher. "Ja, es ist ein Fluch. Ein Flüchtling kam von Norden, und er redete wirr vom Riesen aus Metall und der Zerstörung seiner Heimat. Keine vernünftige Antwort gab er, doch alle, die ihm helfen wollten, steckte er an mit Schwermut und Verzweiflung. Ich erkannte, dass er den schreitenden Tod verbreitete, den er vom Riesen empfangen hatte. Nun verstreute er ihn im Dorf. Nur durch einen starken Geist kann man diese Erkrankung überwinden, und einzig ich vermochte die Menschen dazu anzuleiten."
Bei der Erwähnung des Riesen graute dem Langen Mann, doch er überwand das Gefühl, indem er an die unglücklichen Dorfbewohner dachte. "Und Ihr lasst Euch diesen Dienst gut vergelten."
"Sicher, denn auch ich bin meinen Angestellten und zuletzt meinem eigenen Leben verantwortlich."
Dann verabschiedete sich der Lange Mann, denn er hatte erfahren, was er wissen wollte.

Er rief die Dorfbewohner zu einer Versammlung und versprach, den schreitenden Toten zu helfen, wenn man sie auf den Marktplatz bringe. So fand sich am nächsten Tag eine kleine Gruppe der grau Gewandeten dort ein, mit einigem Abstand umringt von einer Schar Neugieriger. Auch der Landarzt war erschienen.
"Seht nun!", rief der Lange Mann. "Diese Unglücklichen nennt Ihr die schreitenden Toten, aber wie erkennt Ihr sie?"
"Wir wissen, dass sie andere berührt haben! Das genügt uns", rief ein Mann aus der Menge, und viele stimmten ihm murmelnd zu.
"Aber", erwiderte der Lange Mann, "fließt denn Wasser in eine lecke Regentonne hinein? Ist es nicht in der Natur so, dass das Übervolle zum Ausgleich mit dem Leeren strebt?"
Erneut erhob sich beifälliges Raunen.
"Diese Menschen sind ihres Lebens entleert. Aber einen gibt es, der so überfließt davon, dass er anderen freigiebig spendet." Mit diesen Worten ergriff der Lange Mann den Arzt und stieß ihn mitten in die Menge der schreitenden Toten, so dass er alle berührte. Entsetzt mühte sich der Mediziner freizukommen, doch griffen immer mehr Hände nach ihm.
"Dort!", wies der Lange Mann. "Er hat sie geheilt, sie leben erneut."
Die zum neuen Leben erwachten wichen nun vor dem Arzt zurück und bildeten einen zweiten Kreis um ihn, wie die Schaulustigen sie umschlossen hatten.
"Doch nun ist er entleert!", schrie eine Stimme aus der Menge.
"Nein!", protestierte der Lange Mann, aber die neu Erwachten und die lebendigen Dorfbewohner vermengten sich zu einem Mob und trieben den Arzt mit Stöcken und Heugabeln vor sich her ins graue Meer.
Der Lange Mann jedoch verließ das Dorf, solange die Bewohner noch an der Küste weilten in Richtung Nordwesten, betrübt über die Trägheit, die ihm auf dem Fuße folgte.

 

Hallo Naut,

ich habe mich gewundert, warum du die Geschichte nicht unter Fantasy/Märchen gepostet hast, sondern Gesellschaft: der Erzählstil, der Lange Mann ... alles wirkt so fabel-haft. Vielleicht hast du ja auch zwischen den Rubriken geschwankt. Also: Du bist Deutschland goes Fantasy ;)

denn sie ist eine schreitende Tote, und ich fürchte, mich mit ihrem Übel zu infizieren, wenn ich ihr zu nahe käme."
vielleicht zu hochgestochen für die wörtliche Rede eines Bäckers (dann besser komme); andererseits ...dieser märchenhafte Stil ...

Immer wichen sie diesen etwas zerlumpten Gestalten aus, wie Wasser ein glühendes Eisen.
einem glühenden

"Ein Zauberer sollt ihr sein und ein Weiser, sagen manche, doch andere nennen Euch ein Wahnsinnigen
einen

Schaar
Schar

Der Lange Mann jedoch verließ das Dorf solange die Bewohner noch an der Küste weilten
Komma nach Dorf

Hab ich gern gelesen.

"Diese Menschen sind ihres Lebens entleert. Aber einen gibt es, der so überfließt davon, dass er anderen freigiebig spendet."
Die Lösung leuchtet ein und erleichtert, das Ende
die neu Erwachten und die lebendigen Dorfbewohner vermengten sich zu einem Mob und trieben den Arzt mit Stöcken und Heugabeln vor sich her ins graue Meer.
verschreckt und klingt resigniert. Du könntest fast ein Alt-Achtundsechziger sein, aber dazu bist du ja eigentlich zu jung.

Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe, aber es passt ja zu dem Thema der Unberührbaren / Schreitenden Toten. Ein ICQ-Partner meinte letztens: "Indien frisst die EU zum Frühstück, China nimmt sie als Dessert."

Gruß, Elisha

 

Hi Elisha,

danke für's Lesen erstmal.

Fantasy? Jein. "Der Lange Mann" ist eine Serie von mir, und alle Teile passen sowohl unter "Philosophisches", "Fantasy" und "Gesellschaft". Konsequenterweise habe ich daher drei Teile in "Philosophisches", 1,5 in "Fantasy" und einen (diesen) in "Gesellschaft" untergebracht. :)

Die blöden, kleinen Fehler habe ich alle korrigiert. Danke!

Du könntest fast ein Alt-Achtundsechziger sein, aber dazu bist du ja eigentlich zu jung.
:) Aber du verwechselst mich mit meinem Protagonisten.
Unberührbaren / Schreitenden Toten
Die Analogie war mir nicht bewusst, passt aber.
Indien frisst die EU zum Frühstück, China nimmt sie als Dessert.
Das bezieht sich ja (denke ich) eher auf eine Suspension der westlichen Werte und Arbeitsbedingungen. Wäre aber auch mal interessant, das zu behandeln. Als nächstes wollte ich aber erstmal was anderes machen.

Schöne Grüße,
Naut

 

Hallo Naut!

Die schreitenden Toten sind normale Bürger, die von der Trauer des Jungen angesteckt wurden. Der Arzt behandelt nur einzelne Individuen aber nicht das gesellschaftliche Problem, das aber trotzdem für optimal gelöst gehalten wird. Ob er das wider besseren Wissens oder aus Profitsucht tut, bleibt in der Geschichte offen, was ich gut finde. Jedenfalls führt die mit seiner Behandlung einhergehende Brandmarkung dazu, dass die "Kranken" nicht mehr mit der lebensfreudigeren Bevölkerungschicht in Berührung kommen, die ihnen bei der Gesundung helfen könnte, indem sie etwas Lebensfreude investiert. Die Leute schotten sich ab, aus Angst, "so" zu werden.
Die Trägheit am Ende ist vor allem eine geistige, die alte Denkmuster immer und immer wieder abspult.

Ich glaube, das ist die zweite Geschichte vom langen Mann, die ich lese, und sie gefällt mir ausgesprochen gut. Werde später mal Ausschau nach den übrigen Folgen halten.
Der Stil ordnet sich der Geschichte angenehm unter, das ist eine Kunst, die ich noch lernen muss.

Viele Grüße!
Seaman

 

Hallo Kollege auf See,

Deine Interpretation ist sehr nahe an meiner Intention und gefällt mir sehr.

Der Stil ordnet sich der Geschichte angenehm unter, das ist eine Kunst, die ich noch lernen muss.
Da bewundert der Blinde den Lahmen ;) Nein, ernsthaft, das ist nur ein Glückstreffer, freut mich aber sehr, wenn es hier funktioniert hat!

Beste Grüße,
Naut

 

Der Bäcker schien bemüht, eine Berührung mit dieser Frau zu vermeiden, er zog sich dicke Wollhandschuhe über, bevor er ihr die Backwaren gab.
Das sind schon zwei Sätze.
"So ist es", nickte der Bäckermeister
Ich mag mich täuschen, aber nach direkter Rede würde ich nur "Sprechworte" wie "sagen", "erwidern" etc. erwarten.
Dennoch aber sind sie
Das "aber" ist nicht nötig.
Er berief eine Versammlung des Dorfes ein, und er versprach,
Vorschlag: Er berief eine Dorfversammlung ein und versprach,
aber wie erkennt Ihr sie?"
"Ihr" muss klein geschrieben werden.
"Aber", erwiderte der Lange Mann, "fließt denn Wasser in eine lecke Regentonne hinein? Ist es nicht in der Natur so, dass das Übervolle zum Ausgleich mit dem Leeren strebt?"
Als Otto-Normal-Dorfbewohner würde ich mir an dieser Stelle den Kopf kratzen.

Insgesamt wieder so eine Geschichte, die ich gerne gelesen habe und bei der ich nach wenigen Zeilen wissen wollte wie sie endet. :thumbsup:
Der Lange Mann kann einem schon Leid tun. Da gibt er immer wieder sein Bestes und erreicht nie sein Ziel (zumindest scheint es so). Aber der Felsbrocken muss wohl immer wieder den Berg hinaufgeschoben werden ...

 

Hallo HienTau,

danke für die Hinweise. An dem Satz mit der Versammlung war so viel krumm, dass ich ihn komplett umstellen musste. Das "Nicken" habe ich belassen, denn ich finde, man kann gleichzeitig etwas sagen und nicken, und das finde ich dann irgendwie hübscher als "sagte er und nickte" oder "sagte er nickend".
Mit dem "ihr" hast Du vermutlich Recht, Du beziehst Dich auf Regel 409, nicht wahr? Die ist aber ziemlich komisch formuliert.

Der Lange Mann kommt seinem Ziel immer näher, wenn Du Dir die Mühe machst, eine Karte zu skizzieren, bemerkst Du, dass er den fernsten Punkt bereits überschritten hat. Die Hälfte ist geschafft.

Viele Grüße an die Küste,
Naut

 

Das "Nicken" habe ich belassen, denn ich finde, man kann gleichzeitig etwas sagen und nicken, und das finde ich dann irgendwie hübscher als "sagte er und nickte" oder "sagte er nickend".
Ich auch, trotzdem musste ich mich leider eines Besseren belehren lassen, dass diese Formulierung nicht geht. Ich habe es zum Beispiel oft mit "lachte er" oder "lächelte er" gemacht.

Hallo Naut,

eigentlich gehörte dein langer Mann ja schon längst in die Serienrubriken verschoben, gel?
Mein erster Gedanke zu den schreitenden Toten war AIDS. Die Berührungsängste dieser Krankheit gegenüber ähneln denen, die früher Lepra gegenüber gegolten haben. Interessant dabei fand ich aber, dass der Zustand Tot sowohl als Analogie wie auch wörtlich verstanden werden konnte. Gerade der Metallriese könnte ja auch für unsere von Computern regierte Informationsgesellschaft widerspiegeln, die das Leben aus den Leuten saugt, sie vor sich gefangen hält und statt Leben Instanderleben bereit hält.
Die Heilung, die nur der Doktor bewerkstelligen können sollte, wäre durch jeden möglich gewesen, der sich getraut hätte. Aber Ängste und Vorurteile grenzen nun einmal aus.

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,

wie immer findest Du freundliche Worte, das wieder muntert mich auf. Danke!

eigentlich gehörte dein langer Mann ja schon längst in die Serienrubriken verschoben, gel?
Das haben schon andere behauptet, aber in welche Rubrik denn? Was ich (unter anderem) mit diesen Geschichten zeigen möchte, ist, dass Genres nicht existieren, sondern nur ein oft recht willkürliches Ordnungskriterium sind. Wer nur bestimmte Genres liest, beraubt sich selbst einiger Erfahrungen. Zweitens liest kaum jemand in den Serien, und Aufmerksamkeit wollen wir ja alle, dafür sind wir hier.
Ich auch, trotzdem musste ich mich leider eines Besseren belehren lassen, dass diese Formulierung nicht geht. Ich habe es zum Beispiel oft mit "lachte er" oder "lächelte er" gemacht.
Ist diese Belehrung irgendwo nachzulesen? Ich würde das nämlich als Stilmittel auffassen und somit unter dichterischer Freiheit verbuchen. Bin aber für vernünftige Argumente zugänglich.

Deine Interpretation gefällt mir auch, sie umreißt (zusammen mit Mr. Seamans) einen Teil meiner Motive.

:) Naut

 

Hallo Naut!

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen, man kann sie so schön deuten und stilistisch ist sie Dir auch gelungen. :)

Nun ist die Frage, wofür die schreitenden Toten stehen – sie könnten praktisch für fast alle benachteiligten Gruppen in der Bevölkerung stehen, wie zum Beispiel Arbeitslose. Die, denen es gut geht (wie der Bäcker), wollen nichts mit ihnen zu tun haben, man geht auf Distanz. Den Arbeitslosen geht es schlecht, nicht nur finanziell, sondern es wirkt sich auf ihr Leben aus, indem sie nicht mehr jenes führen können, das sie einmal hatten – Kino, Konzerte, Urlaub, etc. können sie sich nicht mehr leisten, sie werden depressiv, laufen herum wie lebende Tote. Die Erwähnung des Lebens, das sie einmal hatten, läßt mich darauf schließen, daß es nicht einfach um Arm und Reich geht, wie man beim Schluß der Geschichte vielleicht annehmen könnte, wo Du ja ganz deutlich darauf hinweist, daß man eigentlich nur von Reich zu Arm umverteilen müßte, das Vorhandene gerechter aufteilen, dann ginge es allen wieder gut.

ergriff der Lange Mann den Arzt und stieß ihn mitten in die Menge der schreitenden Toten
Ein Hinweis darauf, daß die Reichen nie von selbst etwas hergeben werden, sondern die Armen es sich holen müssen?


Wir leben in einer Abschiebegesellschaft, keiner will dem anderen helfen, stattdessen verläßt man sich darauf, daß schon irgendjemand helfen wird, der zuständig ist.
Vielleicht ist der Landarzt ja auch Therapeut, und die schreitenden Toten sind psychisch Kranke mit z.B. Depressionen? Da geht auch der allgemeine Tenor in die Richtung: Erzähl mir nichts von dir, ich will es gar nicht wissen, geh zum Therapeuten…

Viele Menschen waren unterwegs, und nun, wo seine Aufmerksamkeit geweckt war, fielen ihm etliche auf, die von den anderen gemieden wurden. Immer wichen sie diesen etwas zerlumpten Gestalten aus, wie Wasser einem glühenden Eisen.
Gute Beobachtung. Viele Dinge fallen einem erst auf, wenn man darauf aufmerksam (gemacht) wird. Dann stechen sie einem dafür umso mehr ins Auge.

Die restlichen Kleinigkeiten:

Wie ein Gewebe von nasser Baumwolle
Wie nasses Baumwollgewebe - sonst klingt es, als wäre es eine spezielle Baumwollsorte, die eben naß ist.

Auch er achtete darauf sie nicht zu berühren.
Ich würde nach "darauf" einen Beistrich machen (ist aber glaub ich eine Kann-Bestimmung).

"Frau", rief er sie an,
Würde schreiben "rief er ihr zu", anrufen tut man doch eher mit dem Telefon. ;)

"So ist es", nickte der Bäckermeister, "denn sie ist eine schreitende Tote,
Das "Nicken" habe ich belassen, denn ich finde, man kann gleichzeitig etwas sagen und nicken, und das finde ich dann irgendwie hübscher als "sagte er und nickte" oder "sagte er nickend".
Ja, man kann etwas sagen und nicken, aber man kann keine Worte nicken. ;) Vorschlag: „So ist es.“ Der Bäckermeister nickte. „Sie ist eine …“, oder umgekehrt: Der Bäckermeister nickte. „So ist es, denn sie ist eine …“

Mit dem "ihr" hast Du vermutlich Recht, Du beziehst Dich auf Regel 409, nicht wahr?
Da er das zu den Dorfbewohnern sagt, kommt es darauf an, ob er mit ihnen per du ist oder nicht.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,

wie immer hat meine Lieblingslektorin gute Vorschläge. Ich habe das gleich mal nach Deinen Anregungen geändert.

Deine Interpretation liest sich ein wenig, als wollte der Lange Mann zur Revolution aufrufen. Will er das? Ich glaube nicht, er will nur den Einzelnen helfen. Aber wie kann ein gesellschaftlicher Makel entfernt werden, auch wenn er vielleicht nur auf Einbildung beruht - gerade wenn er nur auf Einbildung beruht! Nur durch weitere Einbildung.
Doch nichts bleibt ohne Konsequenz, wo man auf der einen Seite fortnimmt, drängt es auf der anderen Seite in die Lücke.

Außerdem enthalten: Philosophische Zombies - gibt es sie? Kann man diese Frage überhaupt beantworten?

Besten Dank,
Naut

 

Hallo Naut,

beim ersten Blick auf den Titel habe ich "die schreienden Toten" gelesen. Der Titel ruft einige Assoziationen hervor, und ist gut gewählt. Ich muss dabei an in Lumpen gehüllte Zombies denken. :)

Sehr schön fand ich einige Metaphern, zum Beispiel ein Fischerdorf, das sich wie ein Schwarm Möwen in die Hügel drückt. Solche sprachlichen Feinheiten werden mehr und mehr zu besonderen Pluspunkten Deiner Geschichten.

Die erste Szene und der Umgang der Bäcker mit der Frau erinnert mich an die haarsträubenden Theorien zu den Ursachen mancher Krankheiten, die bis vor ein paar Jahrhunderten in Umlauf waren, und soziale Regeln für den Umgang damit, die zur Pflicht werden, obwohl sie wirkungslos sind.
Dem setzt Du die Reaktion des gesunden Menschenverstands entgegen ("Mir erschien sie recht lebendig"). Woraufhin der Bäcker zurückzuckt: Da hat einer eine Regel gebrochen...

Interessant und bezeichnend fand ich, dass die Frau selbst ihren "Zustand" akzeptiert. In den Wissenschaften kommt es (zu) oft vor, dass Leute plausible Erklärungen für Erscheinungen zusammenbasteln, sich einen Namen für dieses Etwas ausdenken, und dann tun, als würde es wirklich existieren. Ich denke da zum Beispiel an das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei Kindern, die Arbeitslosigkeit und Depression.

Das Leiden der schreitenden Toten fällt in dieselbe Kategorie. In Deiner Geschichte schützt Reinheit und Stärke im Geiste. Nun kann man streiten, was diese Wörter bedeuten. Für die meisten Leute bedeuten sie, ihre Meinung zu teilen und vehement zu vertreten. ;) Du meinst vermutlich, dass Leute die innerlich gefestigt sind, eine höhere Widerstandskraft gegen Konformismus und Depression haben.

Witzig: Die Behandlung ist, wie oft in solchen Fällen "teuer und langwierig". Psychoanalytiker und alle möglichen Arten von Beratern (Unternehmensberater usw.) verdienen auch nicht schlecht. Michel Houellebecq hat mal in einem kurzen Text die "überbezahlten, eitlen und dummen" Psychoanalytiker durch den Kakao gezogen.

Der Flüchtling aus dem Norden erlebte die Zerstörung seiner Heimat durch Riesen aus Metall. Mich hat das an die Ungeheuerlichkeiten erinnert, die während des Zeiten Weltkriegs passiert sind, und die Millionen von traumatisierten Menschen, die nachher in Staaten wie Polen, der Sowjetunion, Israel und (vor allem) der BRD normal "funktionieren" mussten.

Dann kommt das Finale und die Massenheilung auf dem Marktplatz durch die Behauptung, man müsse nur den Landarzt berühren und sei geheilt. Jetzt wäre es eigentlich Zeit für ein glückliches Ende, aber die dumme Menschenmasse WILL offenbar, dass irgendjemand leidet. In diesem Fall der Landarzt. Bei einigen Geschichten um den Langen Mann war bisher das Ende so, dass die Leute sehen, was getan werden müsste, und es eben nicht tun. Wie im wirklichen Leben ja auch.

Freundliche Grüße,

Fritz

 

Hallo Fritz,

da bleibt mir nur eine artige Verbeugung vor einem so aufmerksamen Publikum. Dafür lohnt es sich, dafür schreibe ich!

Dankend,
Naut

 

Hallo Naut,

Gibt es denn in den anderen Geschichten Dinge, die etwas erklären, denn so ganz klar ist mir diese Geschichte hier nicht. Da ist also ein Wanderer, er auf ein Dorf Untoter trifft, die nur durch den lebensvollen Arzt geheilt werden können. Der Wanderer stößt ihn in die Menge und alle werden geheilt, aber die anderen denken dann, dass der Preis für ihre Heilung das Ende des Arztes ist und vertreiben ihren Retter. So richtig? Damit würde dann die eigentliche Aussage des Textes auf der Ungerechtigkeit, bzw. dem Wahndenken der geheilten Dorfbewohner liegen. Wenn dem so ist, dann ist dieser Punkt noch auszubauen. Was ist denn mit den anderen Dörflern? Haben die gesunden vielleicht was dagegen, dass man so mit den Untoten verfährt und was hat der eiserne Riese damit zu tun? Eigentlich wirft deine kg mehr Fragen auf, als sie beantwortet und lässt mich als Leser damit recht unbefriedigt zurück. Der Stil ist mir auch ein wenig zu trocken. Er wirkt erzählend, aber so, als hättest du keine große Lust gehabt die Geschichte zu erzählen. Ein paar Details über das Leben im Dorf und vor allem über den Prot würden da Wunder wirken.

Auf der anderen Seite kann man aber genau das auch positiv sehen. So bleibt viel Raum für Spekulationen und der Leser wird während der Lektüre gefordert. Aber vielleicht lässt du ein wenig zuviel Raum. Trotzdem eine kurzweilige Geschichte, die man gut zwischendurch lesen kann.

Einen lieben Gruß...
morti

 

Hallo morti,

meine Schreibabsichten für die Story sind zu komplex, um sie kurz darzulegen (wenn mir das überhaupt gelänge), aber ich denke, vieles ist schon in den vorherigen Postings gesagt worden.
Wenn Du eine kurze Prämisse hören möchtest, dann trifft es vielleicht "Der Versuch zu helfen führt zum Scheitern." Diese Prämisse passt auf fast jede Geschichte vom Langen Mann.

Wenn Du allerdings schreibst, dass der Stil trocken (ich würde sagen distanziert) ist, hast Du sicher Recht. Lustlos ist er sicher nicht, zumindest nicht beabsichtigt, ich möchte eher in Richtung philosophischer Fabeln, Parabeln oder (ja, ich sag das böse Wort!) Kafka gehen.

Letztlich hast Du vielleicht doch einen kleinen Anknüpfungspunkt gefunden, und das ist ja auch was wert.

Danke für die Anmerkungen,
Naut

 

Hi Naut!

Also wenn deine anderen Langer-Mann-Geschichten auch so gut sind wie die hier, dann muss ich sie lesen. Wirklich. :)

Meine Interpretation war, ähnlich der der anderen: Menschen, die in Unwissenheit und Aberglauben leben und dabei von einem Wissenden ausgenutzt werden. Am Ende werden sie von einem bestimmten, schädlichen Aberglauben erlöst, aber das eigentliche Grundproblem, die Neigung zum Aberglauben selbst, bleibt bestehen.

Sehr gut finde ich die Nebelsymbolik am Anfang. Das saugt einen förmlich in die Geschichte hinein. :thumbsup:

Nicht so gut finde ich, dass es dem Langen Mann so leicht fällt, eine Illusion gegen eine andere einzutauschen. Warum sollten die Dorfbewohner auf ihn hören, wo ihn doch keiner kennt?

"Wir wissen, dass sie andere berührt haben!

Du meinst doch, dass andere sie berührt haben, oder? Hab mich ein bisschen daran aufgehängt.

"Aber", erwiderte der Lange Mann, "fließt denn Wasser in eine lecke Regentonne hinein? Ist es nicht in der Natur so, dass das Übervolle zum Ausgleich mit dem Leeren strebt?"
Erneut erhob sich beifälliges Raunen.

Es sollte mich wundern, wenn die einfachen Dorfbewohner diesen Gedankensprung sofort nachvollziehen würden. Hier solltest du sie etwas begriffsstutziger reagieren lassen.
Der Plausibilität halber sollte er noch ein wenig länger brauchen, um die Menge zu überzeugen.

Und, eine Kleinigkeit noch: Wenn schon Eiserner Riese, dann bitte auch die Schreitenden Toten. Das Adverb ist doch Teil der Bezeichnung. ;)

Erzählst du in den anderen Geschichten vom Eisernen Riesen oder kommt das noch? :)

Ciao, Megabjörnie

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Megabjörnie,

freut mich, dass Dir die Geschichte zusagt! :)

Erzählst du in den anderen Geschichten vom Eisernen Riesen oder kommt das noch?
Das kommt noch. Ich habe mal unten einen "Episodenguide" angehängt, soweit mir die Dinge bisher klar sind.

Deine Anmerkungen sind plausibel, insbesondere was die verstrichene Zeit (bis zum Kapieren der Analogie, ein Problem, das in "Die zwei Uhren" noch viel krasser ausfällt) anbelangt, da ich nach Abschluss des Zyklus (auf etwa 15 Episoden angelegt) sowieso eine gesamte Überarbeitung machen muss, verschiebe ich das, okay?

Epsisodenguide "Der Lange Mann":
1 Die zwei Uhren
2 Die denkende Scheune
3 Der freie Würfel
4 Der neue Kantor (unveröffentlicht)
x Spinoff: Die Höhle des Schleiers
5 -- (eine fehlende, bisher unbetitelte Episode) --
6 Das ausgeschlossene Dritte
7 Der Weise
8 Die schreitenden Toten

Beste Grüße,
Naut

 

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