Die Schuhcremewurst
Schon wieder krähte der Hahn um fünf Uhr in der Früh mit seinem ohrenbetäubenden Kikeriki vom Nachbarhof herüber. Franz stellte sich inzwischen immer vor, wie er das gackernde Federvieh eines Tages aus Versehen mit seinem grasgrünen Corsa überfahren würde. Das knackende Geräusch der Knochen unter den Reifen würde ihn innerlich befriedigen. Dann könnte er endlich das Gummihuhn an seiner Stoßstange vorne, gegen den echten Hahn austauschen.
Nachdem sich Franz eine geschlagene Stunde im Bett hin und her gewälzt hatte, klingelte sein Wecker. Nun war es also doch endlich Zeit aufzustehen. Auf dem Weg zum Badezimmer fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er die Schuhcreme nicht vergessen durfte. Sollte er die braune oder die schwarze mitnehmen. Franz entschied sich für die braune Creme. Sie war billiger. Außerdem hatte er alle seine braunen Schuhe vor zwei Wochen in den Altkleidercontainer geworfen. Schwarze Schuhe waren jetzt seine Lieblingsschuhe.
Nach einem hastigen Frühstück in der Küche, überkam ihn plötzlich eine Welle der Freude. Heute würde ein unvergesslicher Tag werden. Seine zittrige Hand glitt vorsichtig in die rechte Hosentasche seiner ausgewaschenen Jeans. Da war sie. Das kühle Blech der Schuhcremetube erregte seine Fingerspitzen. Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn und er befeuchtete seine trockenen Lippen genüsslich.
Schwungvoll ließ er sich in den Autositz fallen. Das dunkelgrüne Dufttannenbäumchen am Rückspiegel wackelte aufgeregt hin und her. Franz atmete den abgestandenen Duft tief ein und startete den Wagen.
Zehn Minuten später parkte er seinen Corsa unter der großen Linde bei der Turnhalle. Franz stieg aus und die glatte Tube in seiner Tasche rutschte ein Stück tiefer. Er schaute zum Baum hinauf. Eine freche Amsel wippte auf einem Ästchen direkt über seiner Windschutzscheibe hin und her. Mit einem lauten "Schuhu" und dem Rasseln seiner Schlüssel verscheuchte er sie. Zufrieden überquerte er den Hof.
Die Schultür geöffnet und das Neonlicht angeknipst, blickte er sehnsüchtig den langen Gang hinunter. Und wieder schoss es ihm durch den Kopf: Heute krieg ich dich! So wahr ich Franz heiße.
Mit großen Schritten stolzierte er los. Seine schwarzen Mokassins quietschten laut auf dem frisch gewischten PVC-Boden. Franz öffnete die Tür zur Knabentoilette. Der Geruch von Reinigungsmitteln drang unangenehm in seine Nase. Sein unruhiger Blick tatstete jedes Objekt der sanitären Anlagen aufs genaueste ab. Nach ein paar Sekunden blieben seine Augen an der weißen Zwischentür zur Kloschüssel stehen. Wie konnte es anders sein? Der Punkt am Türschloss war rot. Rot! Die letzten Nächte hatte er ununterbrochen von diesem roten Kreis geträumt. Manchmal erschien er ihm auch doppelt und verwandelte sich zu den glühenden Augen eines Raubtieres. Dieses sprang dann unvermittelt aus der Tür und er lieferte sich einen grauenvollen Kampf mit dieser Bestie. Am Ende hatte er ein niedliches Mäuschen zwischen den Fingern.
Aber nun war der Moment der Wahrheit gekommen. Umständlich kletterte er über die Türe, ließ sich auf die andere Seite hinunterplumpsen und öffnete das Schloss von innen.
Dann griff Franz nach der Schuhcreme in seiner Hosentasche und er drehte den Deckel vorsichtig ab. Mit dem nötigen Druck presste er eine lange braune Schuhcremewurst auf die obere Kante der offenen Klotür. Am Ende der Kante pupte die Tube ein wenig. Sie war leer und mit einem Seufzer entwich noch das letzte bisschen Luft.
Franz grinste hämisch. Er zog die Klotür hinter sich zu und verließ die Toilette wie ein König. Der Übeltäter, der die Klotür immer von innen versperrte, würde sich bald selbst mit brauner Pampe brandmarken und dadurch verraten.
Noch vor der ersten Schulstunde verkündete er jedem Kollegen seinen ausgefuchsten Schuhcremeplan und bat alle aufmerksamen Lehrer im Laufe des Vormittags nach verschmierten Kinderhänden Ausschau zu halten.
Den ganzen Schulvormittag wartete Franz auf die erlösende Botschaft. Nur halbherzig hielt er seinen Unterricht in der Klasse 4c. Ständig schweiften seine Gedanken zur Schuhcreme auf der Klotüre. Er stellte sich vor, wie die braune Creme von kleinen tintenverschmierten Bubenfingern unachtsam zerdrückt wurde.
Es gongte nach der sechsten Stunde und noch immer kein Lebenszeichen von dem kleinen Kloschlossverbrecher.
Niedergeschlagen schlürfte Franz kurz vor der Nachhausefahrt nochmals zum Tatort des Kinderstreiches. Nur ein kurzer Blick, dachte er. Franz glaubte seinen Augen nicht. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Der rote Kreis auf dem Türschloss fuhr wie ein Blitz durch seinen Körper. Die Toilette war wie alle Tage zuvor, von innen fein säuberlich abgeschlossen worden. Franz streckte sich. Die Schuhcremewurst auf der Tür schimmerte unangetastet im Neonlicht.
Mutlos sackte er in sich zusammen und fiel vor Erschöpfung auf die Knie. Während er mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn tupfte, fiel sein Blick auf die Unterseite der Klotür. Zwischen Boden und Türunterkante war eine Lücke, groß genug, um unten hindurchzukriechen. Franz stöhnte laut und ballte seine Hände zu Fäusten. Wutentbrannt kletterte er über die Türe, um das Schloss auf der anderen Seite wieder zu öffnen. Aber erst als er mit seinen eleganten Mokassins auf der anderen Seite hart aufschlug, spürte er die schmierige Schuhcreme an seinen Händen. Unachtsam wischte er über sein Gesicht. Auch sein Hemd und seine Hose waren besudelt. Wie ein tosender Wirbelwind raste er aus dem stillen Örtchen hinaus, fast hätte er eine erstaunte Kollegin überrannt. Mit ausladenden Schritten stürzte er den Flur hinunter und aus der Schule hinaus. Umständlich öffnete er mit den verdreckten Händen den Wagen, stieg ein und bemerkte mit Ekel, dass die Windschutzscheibe völlig verschissen war. Er brauste los. Der Motor heulte auf und die Reifen quietschten bedrohlich. Auf der Landstraße beschleunigte er auf 160 Sachen. Kurz vor dem nächsten Ortsschild rannte doch tatsächlich der dämliche Hahn vom Nachbarhof über die Straße. Franz trat auf die Bremse, hörte das Knacksen der Knochen und sah noch, wie Federn durch die Luft stoben. Sein Wagen drehte sich, überschlug sich ein paar Mal und blieb dann völlig zusammengequetscht im Acker liegen.
Die Polizei und der Rettungsdienst räumten die Unfallstelle gewissenhaft auf. Als der Fahrer des Abschleppwagens zurück zu seinem LKW lief, sah er die Schuhcremetube im Gras liegen. Er hob sie auf und murmelte:
„Schade! Leer.“