Die Schwesternschaft
Tränen liefen über ihre Wangen, während sie darauf wartete, dass sich alles dem Ende näherte. Das Ende. Es hatte nie soweit kommen sollen und doch hatte sie sich gegen alle Regeln verliebt. In einen zum Tode verurteilten. Es war doch immer klar gewesen, dass er würde sterben müssen. So war es in ihrer Familie immer. Natalia schüttelte den Kopf. Männer waren dazu da, zu dienen und nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten, mussten sie sterben.
Es war nun ihre Pflicht, Sergei in den Tod zu schicken.
Gleich musste er kommen. Nicht ahnend, was ihn erwartete.
Warum nur konnte sie nicht so kalt sein, wie die anderen Male? So oft schon hatte sie sich einen Mann gesucht, um eine Erbin für die Dynastie zu zeugen. Nie war sie erfolgreich gewesen. Sie war schwanger geworden, hatte den Vater getötet und nach neun Monaten einen Sohn geboren, den sie den anderen Schwestern überlassen musste.
Wahrscheinlich hatten sie alle ihre Söhne getötet, Männer waren in der Familie nicht erwünscht. Und auch das hatte Natalia bisher kalt gelassen. Sie musste eine Tochter gebären, diese würde sie dann zu ihrer Nachfolgerin erziehen.
Nun, sie war wieder schwanger, also musste der Vater sterben. Das war das Gesetz der schwarzen Witwen. Wenn sie unter den Menschen leben wollten, musste das Gesetz unbedingt eingehalten werden. Doch konnte sie Sergei tatsächlich töten? Es war noch nie so gewesen wie mit ihm. Sie liebte ihn. Was, wenn sie wieder einen Sohn bekam? Würde sie einen Sohn Sergeis dem Tod überlassen können? Was, wenn sie eine Tochter gebar, würde sie eine männermordende Fanatikerin aus ihr machen können?
Denn, das wurde Natalia nun klar, die „Schwesternschaft der schwarzen Witwen“ bestand tatsächlich nur aus Fanatikerinnen. Wann war es zu diesem Männerhass gekommen? Das man sie noch nicht entdeckt hatte war ein Wunder, lag aber zum Teil auch daran, dass nie eine Leiche auftauchte, egal wo sie am Werk waren. Die toten Männer wurden unter den Schwestern aufgeteilt, um ihnen als Nahrung zu dienen, genau wie bei den Spinnen. Nun ja, nicht genau so, schließlich leben Spinnen nicht in Gemeinschaften.
Natalia wurde schlecht, als sie daran dachte, wie lange sie schon so lebte. Aber sie war in diese Gemeinschaft hinein geboren worden, hatte nie etwas anderes kennen gelernt.
Sergeis Schritte näherten sich ihr. Diesen Schritt würde sie überall erkennen. Natalia warf einen Blick auf den kalten Stahl des Messers in ihrer Hand, dann sah sie Sergei entgegen. Gerade bog er um die Ecke der Gasse, in der sie sich hatten treffen wollen.
„Natalia, was ist los? Am Telefon hast du gesagt es wäre wichtig.“
Natalia zwang sich zu einem Lächeln, wieder fiel ihr Blick auf das Messer in ihrer Hand. Sie musste es tun. Doch gegen ihren Willen ließ ihre Hand das Messer los. Klirrend fiel es zu Boden. Sergeis Blick folgte dem Geräusch, dann sah er Natalia in die Augen.
„Was hat das zu bedeuten?“
Wieder fingen die Tränen an, aus ihren Augen zu strömen. „Ich... ich...“ Ihre Stimme versagte.
„Was hat das zu bedeuten?!“ Sergeis Stimme wurde eindringlicher, er trat auf sie zu und fasste sie an den Schultern.
Natalia biss sich auf die Lippen, dann begann sie erneut zu sprechen. „Ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht.“
„Was kannst du nicht?“ Sergei wirkte verwirrt.
„Dich töten.“ Natalia beobachtete, wie alle Farbe aus Sergeis Gesicht entwich. Doch gegen ihre Erwartung machte sich in seinen Augen keine Ungläubigkeit breit, sondern sein Blick wurde kalt. „Warum wolltest du mich umbringen?“
Sergeis Hände hatten ihre Schultern losgelassen. Natalia begann auf und ab zu gehen. „Ich muss. Es ist meine Pflicht...! Sergei, du musst von hier verschwinden. Wenn sie herausfinden,... sie werden dich verfolgen.“
„Wer sind „sie“?“ Monoton klang diese ihr so vertraute Stimme. Natalia begann zu schluchzen. „Die Schwesternschaft der schwarzen Witwen.“
Sergei zog scharf die Luft ein. „Es ist also war. Und du gehörst zu ihnen?“
„Ja.“ Kein weiteres Wort brachte Natalia heraus, als sie den sich langsam auf Sergeis Gesicht deutlich werdenden Ekel sah. Langsam kam er auf sie zu. „Natalia, ich nehme dich jetzt wegen Mittäterschaft an ungefähr 12 Morden fest. Du hast das Recht zu schweigen. Alles was du sagst kann und wird vor Gericht gegen dich verwendet. Du hast das Recht auf einen Anwalt. Solltest du nicht in der Lage sein, dir einen Leisten zu können, wird dir einer gestellt...“
Sergei nahm ihre Hände und legte ihr Handschellen an. Dann griff er nach einem Funkgerät. „Ihr könnt jetzt kommen.“
Natalia beobachtete ihn mit ungläubigen Augen.
„Hast du deine Rechte verstanden?“ Wie aus weiter Ferne drang Sergeis Stimme in ihr Bewusstsein. „Du hast es die ganze Zeit gewusst?“
„Wir sind euch bereits seit einiger Zeit auf den Fersen, uns fehlte nur noch ein Beweis. Mit deinem Geständnis gerade hast du ihn uns geliefert.“
Natalia brach zusammen. Er hatte sie die ganze Zeit benutzt. Ein hysterisches Lachen wollte in ihr aufsteigen. Dabei hatte sie immer gedacht ihn zu benutzen. Aber das war nun egal. Was würde nun mit ihr geschehen? Kein Gefängnis konnte so sicher sein, sie vor den anderen Witwen zu schützen. Ein unkontrolliertes Zittern erfasste ihren Körper. Sie hatte mit ihm zusammen sein wollen, das wurde ihr nun klar. Er hätte ihr helfen können, vor der Schwesternschaft zu fliehen.
„Eins bleibt mir ein Rätsel, Natalia. Warum das alles? Warum erst Männer verführen, um sie dann zu ermorden?“ Sergeis Stimme holte sie zurück in die Gegenwart. Er hatte es nicht gewusst. Er hatte gewusst, dass sie Männer ermordeten, aber nicht warum! Natalia fing an hysterisch zu lachen. Er wusste es nicht! Ihr Lachen erstickte und sie begann wieder zu weinen. Er wusste es nicht.
Natalia sah sich um. Die anderen Beamten waren bereits eingetroffen. Ihr Blick traf den Sergeis. „Nur so ist es möglich die Schwesternschaft am Leben zu erhalten. Durch Töchter.“
Natalia sah den Polizisten, zu dem Sergei geworden war, scharf an. Hatte er verstanden?
Sergei schluckte. „Und erst dann tötet ihr die Männer.“
„Ja, wir töten die Väter.“ Natalia legte besonders Betonung auf das Wort „Väter“, aber das wäre nicht nötig gewesen, Sergei verstand auch so, ebenso wie alle anderen Beamten um sie herum.
„Warum nicht dieses Mal?“ Sergei sah Natalia an. Ja, das wunderte ihn. Natalia blickte traurig in Sergeis Augen. „Ich konnte dich nicht töten. Ich hätte dein Kind nicht seines Vaters berauben können.“ Sie würde ihm nicht sagen, dass sein Sohn getötet worden wäre. Das würde sie nur dem Beamten erzählen, der sie später verhören würde. Sergei wäre es nun sicher nicht mehr.
Zwei Beamten näherten sich ihr und führten sie zu einem der Streifenwagen. Sergei stand noch immer da und starrte ins Nichts...