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Die Spirale der Verwüstung
Mertens blickte auf die Uhr und gähnte dabei herzhaft. Es war kurz vor zwanzig Uhr.
„Also. Was ist jetzt?“, begann einer der beiden Polizisten das Spielchen von vorne.
Er hieß Sauer, und Mertens hatte selten einen Menschen kennengelernt, dessen Namen seine Persönlichkeit treffender zu charakterisieren vermochte.
„Es ist jetzt zwanzig Uhr. Wieso?“, witzelte Mertens und erntete einen vernichtenden Blick des anderen Wachebeamten.
Gorlach bleckte seine Lippen und schien bereit, sich jeden Augenblick auf ihn zu stürzen. „Verarschen Sie uns bloß nicht!“, brüllte er und beugte sich so weit vor, dass sein Schlips wie ein erschlaffter Monsterpenis die Tischplatte behutsam streifte. Mertens konnte sich nicht mehr beherrschen und kicherte, was die beiden Polizisten nur noch wütender machte.
Speicheltropfen schlugen ihm warm ins Gesicht als Gorlach ihn mit rotem Kopf anschrie: „Ich kann dir auch die Fresse einschlagen, du Sau! Wenn du –“
Sein Kollege legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Nicht, Frank! Dieses Stück Scheiße ist es doch gar nicht wert, dass wir seinetwegen Schwierigkeiten bekommen.“
Der Angesprochene richtete sich langsam auf und atmete tief durch. Sauer starrte ihn eine Zeitlang an. Derweil überdachte Mertens seine Situation. Es war ja nicht das erste Mal, dass man ihn geschnappt hatte. Nur hatten sie ihm noch nie etwas nachweisen, geschweige denn anhängen können. Er plante seine Geschäfte stets sauber und diskret. Seine Kunden wussten, warum sie ihn mit ihren Wünschen bedrängten. Nicht umsonst trug er den Spitznamen ‚Der Weihnachtsmann’. Ob Designerdrogen, Pornos, in denen keiner der Beteiligten alt genug war, ein Bier aus dem Supermarkt kaufen zu dürfen, Nutten aus Russland oder exotische Tiere, deren Import verboten war: ‚Der Weihnachtsmann’ beschenkte jene, die an ihn glaubten und den Preis für ihre Laster bezahlen konnten, reichlich. Umso verstörender war es für ihn, dass jemand ihn verpfiffen hatte. Andererseits lag in jeder Krise auch eine Chance verborgen. Und diese hieß es zu nutzen.
„Wollen Sie kooperieren oder nicht?“, sagte Sauer und riss Mertens aus seinen Überlegungen. Dieser zwinkerte kurz und besann sich. Ach ja: Er war seit über einer Stunde auf der Wache und seit einer halben Stunde im Verhörzimmer mit zwei dämlichen Bullen.
„Das habe ich doch bereits“, sagte er mit ruhiger Stimme. Die Beamten sollten wissen, dass sie ihn nicht aus der Fassung bringen konnten. „Ich habe Ihnen meinen Namen, meine Meldeadresse, mein Geburtsdatum, meinen Geburtsort und meine Staatszugehörigkeit genannt. Mehr muss ich Ihnen nicht verraten.“
Gorlach pfiff durch seine Zähne. „Sieh mal einer an. Da haben wir ja einen richtigen Klugscheißer in unserer Mitte.“
Mertens runzelte die Stirn und blickte zu dem Mann hoch. „Ja, das haben Sie. Und jetzt zeigen Sie sich kooperativ und nennen mir den Grund für meine Festnahme.“
„Ach! Stellen Sie nun die Fragen, wie?“, bemerkte Sauer und stellte sich hinter ihn.
„Damit das klar ist: Wir wissen, wer Sie sind. Ich meine, wer Sie wirklich sind. Ein ganz mieses Dreckschweinchen, das in eine Falle getappt ist, aus der es sich nicht mehr befreien wird können“, flüsterte der Polizist in sein Ohr. Sein Atem roch nach Minze.
Erneut konnte sich Mertens ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie machen mir ja richtig Angst! Und damit auch das klar ist: Ich bin über meine Rechte genauestens informiert und verlange nun zu erfahren, weshalb Sie mich festgenommen haben.“
Gorlach suchte den Augenkontakt mit Sauer. Er zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. „Na schön, Klugscheißer. Verbot gegen das Betäubungsmittelgesetz. Sprich: Verkauf von Drogen.“
Mertens nickte ernst. „Danke.“
Entgeistert glotzte ihn Gorlach einen Moment lang an, ehe er lächelte. „Bitte sehr! Die Polizei – dein Freund und Helfer.“
„Durchaus“, sagte Mertens. „Sie haben mir sehr geholfen! Und nun möchte ich von einem weiteren Recht Gebrauch machen und jemanden anrufen.“
Sein Kinn wies in die Richtung des Festnetztelefons, das auf einem Beistelltischchen in der Ecke ruhte. Sauer trat derweil wieder in sein Blickfeld. Seine schwarzen Schuhe klapperten hohl auf dem Linoleum.
„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“, feixte Gorlach mit heiterer Miene. „Kaffee mit Obsttorte vielleicht?“
Besonnen musterte ihn Mertens. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich das Recht auf zwei Telefonate habe. Und wenn Sie mir dieses verweigern und mein Anwalt, der Ihnen mit Sicherheit nicht unbekannte Doktor Friedrichs, der im Rufe steht, noch nie einen Prozess verloren zu haben, mich hier rausboxt und ich schlechte Laune habe, dann hagelt es Dienstaufsichtsbeschwerden. Darauf können Sie sich verlassen.“
Gorlachs Lächeln gefror augenblicklich. Dann holte er das Telefon und knallte den Apparat direkt vor dem Festgenommenen auf den Tisch.
„Wen wollen Sie anrufen?“
„Meine Freundin“, antwortete Mertens.
„Die Telefonnummer?“
„Ich kann bereits ganz alleine die Ziffern wählen“, sagte Mertens. „Das ist ein privates Telefonat. Wenn Sie also bitte –“
„Nein!“
Mit düsterer Miene blickte ihn der Polizist an. Seine Gesichtszüge lagen halb im Dunkel und verliehen ihm ein finsteres Aussehen. „Wir sind nicht dümmer als die Polizei erlaubt.“
Zum ersten Mal lachte Sauer. Mertens stieß einen tiefen Seufzer aus. „Da habe ich Sie wohl unterschätzt, Herr Oberwachtmeister.“
Er nannte ihm die Nummer und Gorlach wählte für ihn. Es klingelte viermal.
„Hallo, Schatz! Hier ist Dieter.“
Gorlach setzte sich demonstrativ auf die Kante des Tisches und ließ ihn nicht aus den Augen. Was andere Menschen nervös gemacht hätte, ließ den abgebrühten Mertens kalt.
„Ich bin auf einer Polizeiwache. Ja, festgenommen! Wie? Nein, natürlich nicht.“
Mit der Zungenspitze befeuchtete er seine Lippen. Es war unangenehm trocken in dem Raum.
„Nein, mach dir mal keine Sorgen! Ich rufe dann Doktor Friedrichs an. Was? Ja, das wäre nett! Sag Onkel Paul Bescheid. Genau. Ich danke dir! Du bist ein Engel. Bis dann.“
Mertens legte auf und lächelte den Polizisten strahlend an. „Sie haben mir sehr geholfen.“
Wie sehr, würden die beiden Männer nicht einmal erahnen können. Rico, den er soeben angerufen hatte, war sein Notfallplan. Er wusste stets über alle Aktivitäten und Kunden Bescheid und würde alle Jungs in Bewegung setzen, um Berger, den Kunden, der ihn verpfiffen haben musste, ausfindig zu machen und dauerhaft zum Schweigen zu bringen. Bei dem Gedanken, dass er für den Mord an Berger sogar ein hieb- und stichfestes Alibi haben würde, konnte er nicht anders denn zufrieden zu schmunzeln.
„Ich würde gerne Ihr freundliches Angebot mit der Obsttorte annehmen“, sagte er, lächelte und lehnte sich wohlig zurück.