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Die Stadt der Träume
Die Stadt der Träume - überarbeitet
Was sie sahen, ließ die beiden mit offenen Mündern einen kurzen Augenblick erstarren und auch ich konnte nicht fassen, was sich hier vor uns erstreckte. Ich ging fassungslos einige Schritte nach vorn und begann, mich den Details dieses einnehmenden Anblicks zu widmen, während meine kleinen Freunde langsam anfingen, ihre nähere Umgebung auszukundschaften.
Was immer ich auch prüfend betrachtete, es schien nicht möglich irgendeine andere Folgerung zu ziehen, als die, dass wir vor Ogamna standen. Nur wenige Schritte lagen zwischen uns und der Stadt der Träume. Doch wie war dies möglich?
Vor uns eine lange, aus Marmor gefertigte Brücke. Der Stein, aus dem sie gemacht war, glänzte und war hie und da mit einzelnen Kristallen ausgeschmückt. Die stabile Konstruktion würde uns einen gefahrlosen Übergang zu der uns gegenüberliegenden Stadt leicht ermöglichen.
Fanfaren ließen ihre Melodien erklingen und Stimmengewirr aus dem Inneren der Stadt drang wie sanftes Flüstern an mein Ohr.
Jana und Lukas riefen schon nach mir. „Geht ruhig vor. Ich komme nach! Eine Minute noch…“, hörte ich meine alte, brüchige Stimme ihnen zukrächzen. Sie verstanden, und das hätten sie natürlich auch, wenn sie mich nicht gehört hätten. Eine bemerkenswerte Eigenart von Kindern, lediglich zu hören, was sie hören wollen.
Vorsichtig also schritt ich die mir seltsam unheimlich anmutende Brücke hinunter. Wie ich schätzte, erstreckte sie sich über mehr als einen halben Kilometer.
Um mich herum oder vielmehr, unter mir: dichtester Nebel.
Dies sollte sein, wonach ich mich ein Leben lang verzehrt hatte, doch statt des unbeschreiblichen Glücksgefühls, welches meinem ganzen Sein zu neuer Vitalität verhelfen sollte, spürte ich eine stärker werdende Nervosität in mir aufkeimen.
Ogamna. Wie konnte das sein? Auf einmal, so plötzlich? Ich fühlte mich unwohl und entschied mich daher, meinen Schritt weiter zu verlangsamen, um Revue passieren zu lassen, was sich in den letzten Wochen ereignet hatte.
Der Brief kam vor etwa zwei Monaten an und versetzte mich in tiefe Trauer. Kein Vater verkraftet es, seine Kinder zu überleben. Schwerer noch fällt es ihm, wobei eine Verallgemeinerung an dieser Stelle vermutlich ein allzu deutliches Zeichen von Feigheit wäre; schwerer noch fiel es mir, meiner Trauer keinen Platz einräumen zu können, sondern meine Zeit stattdessen auf das verwenden zu müssen, was meine Tochter Emily und ihr Mann hinterließen. Ich hielt es von Beginn an für eine außerordentlich schlechte Idee, die Kinder der beiden aufzunehmen und wehrte mich in einem Maß gegen diese Notwendigkeit, welches vermutlich alle Regeln der Sitte und Moral überschritt.
Ich war nie gut auf Kinder zu sprechen gewesen und da meine Frau bei Emilys Geburt ums Leben gekommen war, hatte meine Tochter es wahrlich schwer mit mir.
Dennoch wusste sie, wie nur Kinder so etwas zu spüren imstande sind, wie sehr ich sie liebte, und ich ahnte, dass sie es wusste, da sie es trotz meiner mürrischen, abwehrenden Art verstand … für mich da zu sein.
Emily war es, die mir von Ogamna erzählte.
Kaum etwas bereue ich mehr als meine Unaufrichtigkeit ihr gegenüber, deren fantastische Geschichten von fremden Wesen mit zarten Flügeln und violetten Augen, von einer Inselstadt inmitten eines dichten Nebelmeeres und von dieser unbeschreiblichen Musik, die jedem Menschen ein gutes Herz zu verleihen imstande zu sein schien, in mir lediglich ein spöttisches Lächeln hervorriefen, welches sie von Mal zu Mal entmutigte, ihrem Vater von dieser einmaligen Fantasie zu berichten. Bis sie sie schließlich vergaß.
Tatsächlich jedoch liebte ich Ogamna und seine Wesen, seit meine kleine Tochter das erste Mal mit leuchtenden Augen vor meinem Bett stand. Mitten in der Nacht.
Sie wollte nicht damit warten, ihre Geschichte mit mir zu teilen, da sie fürchtete, sie zu verlieren, wie einen Traum, den man soeben fest in der Hand zu halten glaubt, um ihn nur wenige Sekunden darauf zerfließen zu spüren und seine Konturen zu vergessen.
Mit müder Stimme gebot ich ihr Einhalt. Sie solle in ihr Bett gehen und mich in Ruhe lassen. Sie aber legte sich zu mir und ihre Arme um meinen Hals. Innerlich brannte mein Herz.
Emily wurde älter. Was früher an Gefühl und Empfindsamkeit gegenüber ihrem Vater existierte, räumte mit der Zeit Platz für ihren Verstand ein, der mich lediglich sah wie ich mich gab. Es muss ein kaltes Bild gewesen sein. Sie entfremdete sich mehr und mehr von mir und ich ließ es geschehen.
Jana wandte sich mit einem lachendem Gesicht zu mir um, und in Gedanken versunken, wie ich es war, hielt ich sie einen Moment lang für ihre Mutter.
Die Beiden hatten die reich mit Ornamenten verzierten Eingangspforten der Stadt beinahe erreicht während ich gerade die Hälfte der Brücke passiert hatte.
Ich erschien nicht zu Emilys Hochzeit, da ich mir keine Blöße geben wollte. Von entfernten Bekannten hörte ich von ihren Schwangerschaften und verbrachte nächtelang damit unruhig auf meinem Zimmer auf und ab zu wandern und ängstlich zu hoffen, in Gedenken an das Schicksal meiner Frau. Doch ich meldete mich nicht ein Mal. Ich war zu stolz.
Erst als Jana und Lukas das erste Mal ihren Großvater sahen und ihn eine innere Vertrautheit spüren ließen, die all die versäumten Jahre vergessen machte, begann ich mir meinen Fehler in seiner ganzen Reichweite klarzumachen.
Die Erkenntnis meine Tochter verloren zu haben stürzte mich nicht nur in eine tiefe seelische Krankheit, sondern richtete auch meinen Körper zugrunde.
Nun stand auch ich vor den Toren Ogamnas. Konnte einen Blick in das Innere der Stadt werfen. Das Stimmengewirr war verstummt. Ich blickte in unzählige Augenpaare, die mich gespannt beobachteten und jede meiner Bewegungen, jeden meiner Atemzüge gespannt zu verfolgen schienen.
Es war wie Emily erzählt hatte. Die Wesen die sich in meinem Blickfeld befanden, zierten sich mit durchscheinenden Flügeln und aufrichtigen, klaren Augen. Sie waren wunderschön. Grazil. Strahlten eine Sanftheit und eine Güte von unmessbarem Wert aus. Ihre aufmerksamen Blicke waren interessiert, einladend.
Ich blickte auf und sah Jana und Lukas … in den Armen ihrer Mutter. In ihrem Blick keinerlei Anschuldigung, keinerlei Hass oder Enttäuschung.
Langsam wich meine Nervosität dem Erkennen. Als ich die von weit her klingenden Melodien eines besseren Lebens zu hören begann, verstand ich, dass Emily mir verziehen hatte. Sie hatte Ogamna niemals vergessen und ließ mich auf diese Weise ein letztes Mal an ihrer liebsten Fantasie teilhaben.
Man sagt, das Paradies, welches einen nach dem Tod erwartet, sei ein individuelles. Emily hat mir meines geschaffen. Als ich die Pforten Ogamnas hinter mir ließ, lächelte ich.