Die Stadt hat ihren eigenen Kopf
Jeder Schriftsteller hat wohl im Laufe seiner Karriere irgendwann einmal eine Blockade, so auch ich damals. Was allerdings nicht heißen soll, ich hätte je groß Karriere mit dem Schreiben gemacht. Ich habe das Schreiben nie richtig gelernt, ich war nie auf einer Uni, ich habe nicht einmal so einen Volkshochschulkurs für „Kreatives Schreiben“ oder sonst etwas in dieser Richtung besucht. Aber ich habe im Alter von etwa 15 oder 16 Jahren angefangen Kurzgeschichten aufzuschreiben, später sogar Romane. Der große Erfolg und das große Geld bleiben bis heute noch aus und werden wohl auch nicht mehr kommen. Aber da ich auch nie einen richtigen Beruf gelernt habe, bin ich dabei bis heute geblieben. Es reicht zumindest um mich über Wasser halten zu können, aber auch nur dann, wenn ich nebenbei noch den einen oder anderen Hilfsjob annehme. Eigentlich bin ich damit auch zufrieden, ich bin mein eigener Chef und kann mir meinen Alltag selbst einteilen und langweilig ist mein Leben dabei wirklich nicht.
Aber wie auch immer, ich hatte bis vor einiger Zeit also eine Schreibblockade. Mir wollte einfach nichts einfallen, was sich gelohnt hätte aufzuschreiben. Da ich zu dieser Zeit auch keinen Job hatte habe ich die Gelegenheit dazu genutzt um einen Kurzurlaub zu machen, einfach mal mit dem Auto wegfahren und nach irgendwelchen Inspirationen suchen. Wahrscheinlich kann man Inspirationen gar nicht finden, entweder sie sind da, oder eben nicht. Aber ich wollte zumindest mal wegfahren, einfach ins Blaue hinein um den Kopf wieder frei zu bekommen. Also packte ich ein paar Sachen zusammen und fuhr einfach drauf los. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht.
Anfangs fuhr ich an ein paar Dörfern und Städten vorbei, die mir bekannt waren, zuerst über die Autobahn, dann Landstraße und ein paar Nebenstraßen. In welche Richtung die Fahrt ging entschied ich immer spontan an jeder Kreuzung und immer aus dem Bauch heraus oder der Nase nach.
Einige Stunden später wusste ich nicht mehr wo ich war, hatte vollkommen die Orientierung verloren, ich entdeckte nicht einmal mehr den Namen einer mir bekannten Stadt auf einen der Hinweisschilder. Aber das war auch egal, es war sogar genau das was ich wollte – einfach weg von dem was ich kannte. Hin und wieder legte ich eine kurze Pause eine um frische Luft zu schnappen, mich mal zu strecken und mir die Füße zu vertreten. Trotzdem kam langsam die Müdigkeit durch, so entschloss ich mich also dazu mir in irgendeinem Dorf oder einer kleineren Stadt in der Nähe ein Zimmer zu suchen, um dort zu übernachten. Der Nächste Tag würde schon etwas neues bringen, und es wurde auch schon langsam dunkel.
Lange brauchte ich nicht nach einem Zimmer zu suchen. Ich fuhr in einen Ort rein, wo gleich an der Hauptstraße ein Schild aushing „Zimmer frei“. Wobei ich erst gar nicht gemerkt hatte in einen Ort hinein zu fahren, denn ein Ortsschild war nicht zu sehen gewesen, nur die Häuser, die links und rechts neben der Straße auftauchten, ließen es erkennen. Das Ortseingangsschild musste ich wohl übersehen haben, ich dachte mir nichts weiter dabei. So hielt ich also auf einem kleinen Parkplatz vor dem Haus, auf dem schon ein Auto stand – wahrscheinlich das der Hausbesitzer, ging hinein und ließ mir ein Zimmer geben. Die Besitzer des Hauses waren ein nettes älteres Ehepaar, wobei ich, während meines Aufenthaltes dort, fast nur mit der Frau zu tun hatte. Sie hatten wohl mehrere Zimmer zu vermieten, es war eine kleine Pension.
Das Zimmer war ordentlich und sauber, es war alles darin was man braucht (außer ein Fernseher) und hatte ein kleines aber schönes Badezimmer, alles in allem war es sehr schön. Es schien alles völlig normal, ruhig, angenehm, sogar idyllisch. Doch es stellte sich später heraus, dass doch nicht alles völlig normal war. Ich machte mich bettfertig und ging schlafen.
So gut wie in dieser Nacht hatte ich schon lang nicht mehr geschlafen. Und so stand ich am nächsten Morgen gut erholt und vor allem gut gelaunt auf, ging erst ins Bad und dann zum Frühstück.
Es war gerade Mitte April. Als ich zuhause losfuhr war das Wetter kalt, regnerisch und grau. Doch an diesem Morgen schien die Sonne, der Himmel war strahlend blau und es war angenehm warm. Alles war trocken, die Straßen, die Wiese neben dem Haus und auch die Gartenmöbel auf der Veranda, als ob es hier überhaupt nicht geregnet hätte. Aber ich wusste auch nicht wo ich dort war, wie weit ich gefahren war bis dorthin und eigentlich war es mir auch egal.
Meine Gastgeberin kam auf mich zu und wünschte mir einen guten Morgen. Wenn normalerweise jemand guten Morgen oder Guten Tag sagt meint es derjenige nicht so, es ist eine sogenannte Alltagslüge, und das merkt man auch, es gehört einfach nur zur Höfflichkeit (ich bin da auch keine Ausnahme). Bei dieser netten, älteren Frau war das aber nicht so, ich spürte irgendwie, dass sie es auch so meinte und grüßte ebenso freundlich zurück.
Ich fragte sie ob ich draußen auf der Veranda frühstücken könnte und sie meinte, dass es überhaupt kein Problem wäre und sie mir das Frühstück auch gerne dort servieren würde. Ich nahm also draußen Platz und ließ mir erst mal die Sonne ins Gesicht scheinen. Gleich darauf wurde das Frühstück gebracht und es war gut und reichlich.
So glücklich, zufrieden und ausgeglichen, wie an diesem Morgen, hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, vielleicht sogar noch nie. Aber auch meine Gastgeberin und die 3 – 4 anderen Gäste, die ich im Haus gesehen hatte, schienen der gleichen guten Laune zu sein. Deshalb kam das Thema Abreise erst mal gar nicht in Frage, ich wollte noch ein wenig dort bleiben, weil es so schön war.
Als erstes wollte ich die Gegend dort erkunden und nahm mir also vor einen längeren Spaziergang zu machen. Mit der Gastgeberin sprach ich ab, dass ich mindestens noch eine Nacht bleiben wolle und brach dann sofort auf zu meinem Erkundungsgang.
Ein Ziel hatte ich natürlich nicht, mir war ja dort nichts bekannt. Also ging ich einfach drauf los, immer der Nase nach. Ein Ziel war auch gar nicht so wichtig, es reichte schon nur bei diesem schönen Wetter, in dieser schönen Stimmung spazieren zu gehen.
Schon was auf den ersten Metern zu sehen war vertiefte meine angenehme, ausgeglichene Stimmung- wenn das überhaupt noch möglich war. Zu sehen war die Straße auf der ich gekommen war, sie lief, so weit ich sehen konnte, nur geradeaus, keine Kurven, höchstens ein paar Abzweigungen zu den anliegenden Grundstücken. Links und rechts von der Straße ragten kleine, gemütliche Einfamilienhäuser auf, die jeweils noch ein größeres Grundstück zu haben schienen, mit Ställen und Scheunen darauf. Es waren wohl alles kleine Bauernhöfe oder so etwas- wie auf einem richtigen Dorf in ländlicher Gegend eben. Etwas weiter weg von der Straße waren dann viele bewirtschaftete Äcker, Felder und Weiden mit Kühen, Schafen und Ziegen zu sehen. An einigen Stellen konnte man beobachten wie die Leute dort ihrer Arbeit nachgingen. Sie schienen dies in Ruhe und mit Gewissenhaftigkeit und Freude zu tun, soweit das aus der Ferne zu erkennen war. Auch das war ein beruhigender Anblick, der mir auf seine natürliche Art gefiel. Ich ging also weiter und ließ diese unbeschreibliche Gegend auf mich wirken, wobei ich ab und zu anhielt um beobachten zu können. Auffallend war, dass auf der Straße, die ich entlang lief, kaum ein Auto gefahren kam, insgesamt waren es höchstens 6 oder 7. Auch sonst hörte man keinerlei Straßenlärm, wie von einer nahegelegenen Autobahn oder so etwas. Es gab keine Geräusche von irgendwelchen Maschinen, nirgens ragte ein Schlot in die Luft um die Landschaft einzunebeln. Nur Vögel sangen in den Tag, Grillen zirpten scheinbar fröhlich und der Wind rauschte gemütlich durch die Bäume.
Bauern, Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Wolle und Körbe und andere Sachen verkauften. Es sah aber nicht nach Verkaufen oder gar nach Arbeit aus was da geschah. Keiner der Verkäufer wollte seinen Kunden etwas aufschwatzen oder andrehen. Die Dorfbewohner kamen, sahen sich die Ware an und kauften sie, ohne zu handeln oder zu meckern, sie nahmen einfach nur das was sie wollten und bezahlten es, ohne Diskussion. Sie unterhielten sich nur angeregt miteinander und jeder schien jeden zu kennen, alle verstanden sich miteinander und alle waren zufrieden. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen, so eine Friedlichkeit, nicht zu vergleichen mit dem genervten und gestressten Menschen die ich sonst so oft auf Marktplätzen gesehen hatte. Unglaublich, es war für mich einfach unglaublich. Ich vermutete schon es würden alle unter Drogen stehen oder psychisch irgendwie manipuliert worden sein. Aber inzwischen bin ich mir sicher, dass das nicht der Fall war.
Ich war eine ganze Weile gelaufen und hatte inzwischen etwas Hunger bekommen und wahrscheinlich war es auch schon Mittagszeit, was ich nicht genau wusste, denn ich hatte meine Uhr wohl im Zimmer vergessen. Was nicht weiter störte, denn wie sagt man so schön: Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Also setzte ich mich gleich am Markt vor eine Gaststätte, an einen der Tische, die davor aufgestellt waren und sah mir die Speisekarte an. Es gab nichts außergewöhnliches, nur bodenständige, traditionelle Küche, wahrscheinlich alles aus Lebensmitteln, die dort erzeugt worden waren. Nach kurzer Zeit kam ein Kellner und nahm meine Bestellung auf, er war genauso nett und freundlich wie die ältere Dame in der Pension.
Während ich auf mein Essen wartete beobachtete ich das Treiben auf dem Marktplatz weiter, es war einfach angenehm anzusehen. Auch schien sich keiner daran zu stören, dass ich, ein Fremder, dort aufgekreuzt war. Wenn man sonst in ein Dorf kommt, in dem jeder jeden kennt, wird man normalerweise mit misstrauischen Blicken gemustert- nicht so in diesem Ort. Die
Leute beachteten mich eigentlich gar nicht weiter, manche grüßten nur freundlich und wanden sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Niemand fragte heimlich einen anderen wer wohl der Fremde sei, niemand tuschelte hinter vorgehaltener Hand mit einem anderen meinetwegen. Die Menschen dort lebten wirklich nur miteinander, nicht gegeneinander wie ich es schon so oft erlebt hatte. Ich war zwar der Fremde, wurde aber nicht so behandelt. Wenn ich es gewollt hätte, hätte ich mich sicher genauso mit den Dorfbewohnern unterhalte können wie sie es untereinander taten.
Das Essen war sehr gut und reichlich, das beste, was ich seit langem gegessen hatte, viel besser als das Fertigzeug, was ich sonst immer esse. Es war sogar besser als das, war mir je eine Freundin von mir gekocht hatte, es war mindestens genauso gut wie früher bei Mutti. Ich aß es genüsslich und mit große, Appetit auf und machte mich dann wieder auf den Weg.
Ich hatte immer noch kein Ziel und so ging ich also einfach weiter drauf los. Ich entfernte mich wieder vom Marktplatz und ging auf den Wald zu, der sich wenige hundert Meter entfernt dicht und riesig erhob. Es war kein künstlich angelegter Wald, der nur mit Nadelbäumen aufgeforstet worden war. Sondern ein natürlich gewachsener, mit allen Arten von Bäumen die in dieser Gegend wachsen konnten. Nun hab ich zwar keine Ahnung von Wäldern oder von Bäumen aber als ich ihn so betrachtete kam es mir eben so vor. Mein Ziel war also dieser Wald, ohne zu wissen warum, aber es war so, es übte wohl irgendeine Anziehungskraft auf mich aus.
Am Waldrand zog sich ein kleiner Fluss entlang. Das Gefälle war nur schwach und so plätscherte er an dieser Stelle eher vor sich hin als das er strömte. Soweit das Ufer zu sehen war, war es sehr flach und man konnte bequem ins Wasser gehen oder es sogar durchqueren, was auch einige von den Einwohnern taten. Fünfzehn oder zwanzig Leute waren dort, liefen mit nackten Füssen gemütlich durch das Wasser oder beschäftigten sich am Ufer mit ihren Kindern. Es waren mehrere Kinder dort, die entweder miteinander oder mit ihren Müttern oder großen Geschwistern ausgelassen spielten. Dadurch bestätigte sich wieder diese Stimmung, die seit meiner Ankunft dort gezeigt und sich auch in mir entwickelt hatte.
Am Ufer angekommen zog ich Schuhe und Strümpfe aus, krempelte meine Hosenbeine hoch und ging ebenfalls ins Wasser. Es war angenehm erfrischend und irgendwie entspannend so herumzulaufen, gerade nach meinem doch recht langem Spaziergang. Das Wasser war kühl und klar, der Boden bedeckt mit kleinen, runden Kieselsteinen die angenehm die Füße massierten. Ich genoss die Natur in vollen Zügen und ging gedankenverloren und ohne es wirklich mitzukriegen langsam flussabwärts. Das Wasser wurde langsam etwas tiefer, reichte mir schon bis zu den Knien, so dass meine Hose ein wenig nass wurde. Das störte mich aber nicht weiter. So entfernte ich mich immer mehr von den anderen und traf bald auf vier Jungs im Alter von vielleicht neun oder zehn Jahren. Sie saßen am Ufer, unterhielten sich und warfen dabei Steine ins Wasser. Es lagen nur noch ein paar Meter zwischen uns, so dass ich ihrer Unterhaltung zuhören konnte. Die vier schien das nicht zu stören. Sie berieten gemeinsam was sie heute noch unternehmen, welchen Blödsinn sie heute noch anstellen könnten. Als ich in dem Alter war, erinnerte ich mich, hab ich es mit meinen Kumpels genauso gemacht.
Das Ziel war wohl irgendeine alte Ruine am anderen Ende der Stadt. Alle vier schienen von dieser Idee hellauf begeistert zu sein. Doch plötzlich verzog einer von ihnen das Gesicht zu einer Maske der Enttäuschung, seine Begeisterung verschwand völlig. Er erklärte den anderen, dass er sich nicht sicher sei ob sie heute überhaupt dorthin kämen, da die Ruine seit neuestem gesperrt wäre wegen Einsturzgefahr. Daraufhin verschwand auch bei den anderen sofort die Begeisterung und sie setzten die gleiche enttäuschte Miene auf. Damit schien das Thema für alle vier endgültig erledigt zu sein, denn sie unterhielten sich sofort, ohne auch nur noch ein Wort über die Ruine zu verlieren, über etwas anderes. Was es war weiß ich heute nicht mehr, es hat mich auch gar nicht interessiert. Mich interessierte viel mehr, was sie über diese Ruine gesagt hatten- vielleicht kämen sie überhaupt nicht dort hin, weil sie einsturzgefährdet wäre- das klang für mich vollkommen unlogisch. Auch wie sie darüber gesprochen hatten und wie schnell sich ihre Stimmung änderte und sie zu einem anderem Thema gewechselt hatten verwirrte mich. Außerdem hätte mich die Tatsache, dass etwas gesperrt ist, als ich Kind war wahrscheinlich nicht abgeschreckt, sondern wohl eher noch angezogen. Diese Vernunft bei den Jungs hätte ich nicht erwartet. Aber natürlich konnte ich nicht zu ihnen gehen und sie dazu ermutigen doch zu der Ruine zu gehen.
Trotzdem lief ich hinüber um mit ihnen zu reden, und grüßte freundlich. Wie ich es erwartet hatte, von ihnen und auch den restlichen Einwohnern, grüßten sie freundlich zurück. Ohne große Umschweife sprach ich das Thema an und stellte Fragen. Diese Fragen wurden offen und wie es schien auch ehrlich beantwortet, aber auch mit einem Ton als hätte ich gefragt ob es nachts dunkel wird. Die Antworten darauf waren so unglaublich, dass ich mir in dem Moment verarscht vorkam. Ich fragte also wieso sie denn nicht zu dieser Ruine finden sollten wenn ihnen der Weg doch wohl bekannt war. Mir wurde daraufhin erklärt, dass man ein Ziel an einem Tag findet und an einem anderen Tag eben nicht, man könnte das nicht beeinflussen, das würde der Ort selbst entscheiden. Da die Ruine einsturzgefährdet und damit gefährlich sei würde die Stadt sich mit Sicherheit gegen ihr Vorhaben entscheiden. Ein Satz klingt mir immer noch im Ohr, den ich damals nicht verstanden und erst recht nicht ernst genommen habe: „Die Stadt har ihren eigenen Kopf.“ Die Erklärungen von den Jungs klangen vollkommen unlogisch und bescheuert, aber sie schienen davon überzeugt zu sein. Natürlich tat ich das alles nur als ein Märchen ab, etwas das ihnen ihre Eltern erzählt hatten um sie davon abzuhalten etwas Verbotenes zu tun. So wie Eltern ihren Kindern, wahrscheinlich überall auf der Welt erzählen, der Weihnachtsmann würde ihnen keine Geschenke bringen wenn sie das Jahr über nicht artig sind.
Also setzte ich meinen Spaziergang fort, dachte noch eine Weile über das nach was die vier Jungs gesagt hatten, um dann die Gedanken in eine andere Richtung abgleiten zu lassen. Ich lief nun auch nicht mehr im Fluss entlang, sondern an dessen Ufer. Der Ausflug hatte wohl mehrere Stunden gedauert, denn es wurde schon langsam kühler und die Sonne begann unter zu gehen. Das Zeitgefühl hatte ich ganz und gar verloren und auch die Orientierung, also überlegte ich erfolglos wie ich zurückfinden könnte. Der Rückweg war also unklar aber das störte mich nicht wirklich, es ließ mich total kalt, warum kann ich bis heute nicht genau sagen. Deshalb folgte ich einfach weiter dem Fluss. Die Böschung an dem Ufer, an dem ich entlang ging, stieg sehr steil an und war zudem noch sehr unwegsam, keine Chance also da hoch zu kommen. Auf der gegenüberliegenden Seite dagegen schien es sehr viel leichter zu sein. Aber der Fluss war so breit und tief geworden und die Strömung viel stärker, dass auch ein überqueren unmöglich war. Doch plötzlich, fast wie aus dem nichts, tauchte einigen Meter weiter vorn eine kleine Holzbrücke auf. Nachdem ich diese überquert hatte entdeckte ich einen schmalen Weg, der gleich von der Brücke aus nach oben führte. Es ging erst einen kurzen Anstieg hinauf, dann nur noch ein Stück weiter und endete schließlich an der Straße. Dort angekommen folgte ich ihr einfach nach rechts und ging dann vollkommen gedankenverloren weiter, ohne mich noch weiter um den Rückweg zu kümmern.
In einer Entfernung von ungefähr hundert Metern kam dann absolut unerwartet die Pension, vor der auch mein Auto stand, zum Vorschein. Zwar freute es mich wieder zurück gefunden zu haben, aber es war auch völlig überraschend, fast schon erschreckend, da es das letzte war, was ich zu sehen erwartet hatte.
Das lange Laufen und die viele frische Luft hatten mich müde gemacht, so legte ich mich, in meinem Zimmer angekommen, erst einmal hin und verbrachte so etwa eine Stunde im Halbschlaf. Die Träume, die ich dabei hatte, habe ich zwar vergessen, aber ich bin sicher sie waren sehr angenehm.
Nachdem ich gut zu Abend gegessen hatte, bestellte ich mir ein Bier und blieb noch eine Weile sitzen um über die Erlebnisse des Tages nachzudenken, die Begegnung mit den Vier Jungs und auch über die überraschende Heimkehr. Irgendwie ließ mir das alles keine Ruhe.
Ich war schon drauf und dran meiner Gastgeberin ein paar Fragen darüber zu stellen aber die Gaststätte war viel zu voll und die gute Frau war deshalb viel zu beschäftigt um mit mir reden zu können. Deshalb trank ich nur noch das Bier aus und ging hoch aufs` Zimmer. Ich machte mich bettfertig und wollte eigentlich auch gleich schlafen, aber es ging nicht. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, die ich noch wach lag und über den Tag nachdachte. Die gute, ausgeglichene Stimmung, die dort überall zu spüren war (auch in mir selbst), war zwar noch da, aber irgendwie auch nicht mehr. Sie war gestört, aber nur was mich betraf, alles andere strahlte das gleiche aus wie zuvor. Ich grübelte noch stundenlang darüber nach, bis die Müdigkeit dann doch siegte und meine Augen endlich zufielen.
Da ich so lange in die Nacht hinein wachgelegen hatte, schlief ich auch entsprechend lange und wachte erst gegen Mittag wieder auf.
Das ungute Gefühl war immer noch da, auch wenn die Umgebung genau so freundlich und angenehm war wie 24 Stunden zuvor. Es lag also einfach nur an mir, irgendetwas störte mich, mir schien als stimmte etwas nicht. Es war ein Gefühl der Unruhe. Deshalb (vielleicht auch trotzdem) entschloss ich mich zur Abreise. Ich bezahlte meine Rechnung, nahm mein bisschen Gepäck, setzte mich ins Auto und fuhr los.
Ich nahm den gleichen Weg zurück, der mich dorthin geführt hatte. Nach ungefähr einer halben Stunde fing ich an mich zu wundern, es schien doch nicht die Straße zu sein, die ich gekommen war. Das war zwar eigentlich unmöglich, da es nur diese eine Straße gab und ich auch nirgendwo abgebogen war, aber es war irgendwie alles anders. Irgend etwas war falsch. Natürlich war mir die Gegend dort unbekannt, so dass ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ich bin falsch, außerdem war es damals bei meiner Ankunft schon ziemlich dunkel gewesen. Aber der Straßenverlauf war auf jeden Fall anders gewesen. So viele Kurven war ich bei der Anreise nicht gefahren, die Straße ging nur geradeaus. Außerdem konnte die Ortschaft nicht so groß sein, eigentlich nur ein Dorf oder vielleicht eine Kleinstadt, deshalb hätte ich schon längst rausgefahren sein müssen. In der Zeit die ich bis dahin unterwegs war hätte ich Berlin durchqueren können. Es kam mir vor als würde ich im Kreis fahren. Auch die Häuser, Scheunen und Felder an denen ich vorüber fuhr schienen in gewissen Abstand immer wieder die gleichen zu sein. Ich musste mich also, so unwahrscheinlich es schien, da ich nur der Straße hätte folgen müssen (was ich auch getan hatte), verfahren haben. Also lenkte ich meinen Wagen rechts an den Straßenrand und stieg aus um mich umzusehen. Aber auch das brachte mich nicht weiter.
Kurz darauf setzte ich mich wieder hinters Lenkrad und versuchte weiter den richtigen Weg zu finden. Die Umgebung strahlte noch immer die gleiche Stimmung aus, wie die ganze Zeit über aber meine eigene Laune verschlechterte sich immer weiter.
Nach einer halben Ewigkeit des planlosen Umherfahrens war die Pension wieder zu sehen in der ich die letzten zwei Nächte verbracht hatte. Ich war vollkommen entgeistert und der Verzweiflung nahe. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ging ich in das Haus und trat an die nette, ältere Dame heran um sie nach dem Weg zu fragen. Freilich kam ich mir total blöd vor, nach mehreren Stunden wieder zurück zu kommen um nach den Weg zu fragen. Aber ich war verzweifelt und sah keine andere Möglichkeit mehr.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet von ihr ausgelacht oder für total bescheuert erklärt zu werden, zumindest durch einen entsprechenden Gesichtsausdruck. Dies war aber ein gründlicher Irrtum, denn ganz im Gegenteil, lag Gutmütigkeit, Hilfsbereitschaft und sogar Verständnis in ihrem Blick.
Ich wurde hinter das Haus in den Garten geführt, wo sich einige Leute um ein großes Lagerfeuer versammelt hatten. Die gute Frau brachte mir etwas zu essen, zeigte mir mit einer Geste, dass ich mich auf eine Bank in der Nähe des Feuers setzen sollte und platzierte sich genau neben mir. Ich erzählte ihr, wie ich vergebens versucht hatte den Weg nach Hause zu finden und fragte sie wie ich von dort wegkommen könnte. Sie beschrieb den Weg, der aus der Stadt führen sollte- und es war genau der, den ich zuvor schon ausprobiert hatte. Ich erklärte ihr das und sie lächelte nur und sagte ich solle es vielleicht morgen noch einmal versuchen. Natürlich verstand ich nicht was am nächsten Tag hätte anders sein sollen als an diesem. Daraufhin meinte sie, den einen Tag sei es so und am nächsten eben anders. Auf einen Versuch weiter nachzufragen sah sie in die Flammen des Feuers und sagte etwas, das ich schon einmal gehört hatte: “Die Stadt hat ihren eigenen Kopf.“ Dann gab sie mir die Schlüssel für mein altes Zimmer wieder und wirkte damit das Gespräch ab. Die Anstrengungen der verzweifelten, ewigen Umherfahrens hatten mich müde gemacht und so nahm ich dankend an. Ich aß auf, blieb noch eine Weile mit den anderen am Feuer sitzen, hörte dabei zu, wie sie sich gegenseitig Geschichten erzählten, miteinander sagen und einfach das Leben genossen. Ich selber sah nur in die Flammen und dachte nach, bevor ich mich auf mein Zimmer begab um endlich zu schlafen.
Obwohl mich die Zeit am Lagerfeuer wieder mit meiner Umwelt versöhnt hatte wachte ich relativ schlecht gelaunt wieder auf. Seit meiner Ankunft dort hatte sich die Ausstrahlung, die Stimmung dieser Umgebung nicht geändert, aber in mir selbst hatte sich etwas geändert. Ich konnte die positive Stimmung der Umgebung nicht mehr aufnehmen, irgendetwas in mir wehrte sich dagegen, kämpfte dagegen an und verursachte schlechte Stimmung in mir. Der Schlaf war zwar körperlich erholsam gewesen aber nicht für meine seelische Verfassung.
All das, was am Vortag passiert war und mich abends beschäftigt hatte verwirrte mich auch jetzt noch. Nichts davon war irgendwie verarbeitet oder gar geklärt worden. Ich war vollkommen in Gedanken verloren und grübelte verzweifelt darüber nach; körperlich war ich in der Pension aber mein Kopf war ganz woanders.
In diesem Zustand ging ich zum Frühstück und ich glaub man sah es mir auch an, dass ich nicht ganz da war.
Obwohl ich ursprünglich vorhatte erneut den Versuch zu starten nach Hause zu finden tat ich, ohne genau zu wissen warum, etwas ganz anderes. Nach dem Frühstück ging ich raus und lief einfach drauf los, ohne Ziel und auch ohne Grund.
Mein Weg führte mich weg von der Straße, weg von der Stadt, weg von der Zivilisation in den Wald hinein. Es war wieder herrliches Wetter, warm, trocken und die Luft war frisch und rein. Es gab keinen richtigen Weg, nur ab und zu einen schmalen Trampelpfad, vielleicht von Menschen, vielleicht aber auch von Tieren stammend. Das Zwitschern von Vögeln und das Rascheln anderer Tiere im Gebüsch war zu hören, sonst nichts. Unberührte Natur soweit man sehen konnte. Ich ging sehr langsam und immer noch in Gedanken versunken. Bis plötzlich eine kleine Lichtung in der Nähe auftauchte. Ich begab mich dort hin und legte mich einfach in das frische, grüne Gras. Die Sonne schien mir ins Gesicht und blendete meine Augen, so dass ich sie schließen musste. Der Weg bis dort hin war relativ anstrengend gewesen und so blieb ich liegen um mich eine Weile auszuruhen. Da überkam mich eine angenehme Müdigkeit und ich glitt sanft in einen leichten Schlaf über. Nein, eigentlich war es gar kein Schlaf, ich war aber auch nicht wirklich wach, nicht bei Bewusstsein und träumte irgendwelche Sachen, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann. Auf jeden Fall kehrte dadurch dieses endlos angenehme, ausgeglichene Gefühl zurück. Möglicherweise verarbeitete mein Gehirn in diesem Moment die Erlebnisse des Vortages, möglicherweise sprach aber auch die Umgebung, die Stadt zu mir. Wie man es auch immer sehen mag, dieser Halbschlaf brachte mir eine Art Erleuchtung und als ich wieder erwachte war ich besserer Laune. Aber das Wichtigste war, ich war wieder im Einklang mit der Umgebung und glaubte jetzt alles was passiert war verstanden zu haben.
Zurückgekehrt in der Pension packte ich meine Sachen ins Auto und trat nochmals die Heimreise an. Die Gastgeberin meinte beim Abschied, ich könnte auch gerne noch eine Nacht bleiben wenn ich wolle. Ich antwortete, dass es nicht nötig sei und war mir dabei auch absolut sicher.
Der gleiche Weg, der am Vortag nur in die Irre geführt hatte, brachte mich diesmal ohne Probleme von dort weg, in Richtung Heimat. Wobei mich etwas Trauer überkam, wie wenn man seine Freundin in den Zug setzt und dabei nicht weiß wann man sie wiedersieht.
Nach kurzer Zeit kam ich wieder in die mir bekannte Umgebung und bald darauf auch nach hause in meine Wohnung. Die Rückfahrt ging wesentlich schneller als die Hinfahrt, was einem eigentlich immer so vorkommt, aber diesmal täuschte das Gefühl nicht, denn es handelte sich dabei um mehrere Stunden, obwohl ich den gleichen Weg zurück fuhr. Aber das überraschte mich nicht mehr.
Warum fand ich den Rückweg beim ersten Versuch nicht? Weil ich noch nicht fertig war, oder besser gesagt, die Stadt noch nicht mit mir fertig war. Sie wollte mir noch etwas zeigen und das hat sie dann auch getan.
Ich habe aus diesem Erlebnis viel gelernt. Nichts was man einfach so in Worte fassen könnte, aber seit dem bin ich viel ausgeglichener, ja- glücklicher und ich kann mein Leben besser leben.
Außerdem habe ich meine Schreibblockade überwunden und seit dem mehr geschrieben als ja zuvor, und meiner Meinung nach auch besser.
Das Leben hier ist etwas schwerer und nicht ganz so schön wie es wohl dort ist und ich habe oft darüber nachgedacht ob ich nicht dort hätte bleiben sollen- für immer. Oder zu versuchen wieder dort hin zu kommen aber ich würde es wohl nicht wieder finden, zumindest nicht um dort zu leben. Aber ich glaube ein Besuch dort wäre mir jeder Zeit wieder gestattet, dann würde ich die Stadt auch wiederfinden- denn „Die Stadt hat ihren eigenen Kopf.“