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Die Statue

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11.09.2004
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Die Statue

Die Statue

Unbekanntes in der Ferne stehen sehen, nach längerem Zögern ausscheren, den Wagen an den Rand stellen, aussteigen, über die Straße schlendern, das Gehupe der anderen ignorieren, und den ersten Schritt in dessen Richtung setzen - auf das freie Feld. Es Statue nennen, den eigenen Namen vergessen, Herkunft, Hautfarbe, Beruf, Termine vergessen und vergessen, wie es war, mit Menschen zu reden; dann loswandern - als irgendein Zweibeiner. Später wieder und wieder stehen bleiben, sich umwenden, alle Horizonte nach Straßen, Häusern und Menschen absuchen, bestenfalls wittern, niemals dorthin zurückzufinden.

Nach einigen Schritten die Straße als dünnen Seidenfaden zurücklassen, bekrochen von winzigen Ameisen, dann untertauchen sehen, samt dem leisen Surren ihrer Motoren.
Sich durch die erste schwarze Nacht schlagen; irgendwann blindlings zu rennen anfangen, geduckt den Geistern nur noch entkommen wollen, mit fuchtelnden Händen das Gestrüpp ihrer Versammlungen besiegen. Sich bei Tagesanbruch erstmals eingestehen, dass jedes Aufbäumen, Schreien, und orientierungslose Zurückstürmen – in die andere Leere - nur Energie und Zeit verschwendet. Sich statt dessen auf Ruhe besinnen, auf Sammeln, Zählen, Zusammentragen, Prüfen, auf die Suche nach Wahrheit. Aber worin liegt sie, die Wahrheit? In einem selbst? Darin, das sich die Welt nun vollends verdreht und einen Kokon aus Unendlichkeit zäunt? - Nein, nein! - Alles purer Unsinn! Man sitzt in solchen Sekunden auf keinem Felsbrocken, ruht nicht aus, sieht keine Schweißtropfen von den Haarspitzen ins Gras hüpfen, rhythmisch-rasend dem Puls folgend.
Die Arme stützen sich nicht auf die angezogen Knie, und man gießt keine Verzweiflung in die zu Schalen geformten Hände. Natürlich nicht! Auch das schwere Atmen, kombiniert mit dem absurden Gefühl, die Brust verwandle sich noch in diesem Augenblick zu Stein, ist eine lächerliche Missempfindung. Ebenso wenig flirren glitzernde Siliziumfunken tatsächlich durch die Lüfte, kein Mensch hat derlei je mit bloßem Auge beobachten können. So erübrigt es sich für wahr zu halten, dass beide Hände nun die Augen bedecken, die Finger sich vorsichtig spreizen und ungläubige Blicke zur Statue hindurchlugten, der man nicht einen einzigen Meter näherrückte. Denn es gibt sie gar nicht! Nur ein Name – Erfindung – Blendwerk – Hirngespinst – nur der vorausgeworfene Schatten einer Fata Morgana.
In Wirklichkeit klemmt der eigene Körper, wie gehabt, hinter dem Lenkrad des Gefährts, das in aller Seelenruhe jede Kurve gleich dem aufs Fließband gelegten seelenlosen Ding nimmt. So verhält sich das! Und nicht anders! Und dieses weite so oft im Morgen oder Abendlicht gelegene Feld, war niemals ein offenes, goldenes Tor gewesen. Sich nun einzureden, man zappele als Insekt auf der klebrigen Riesenzunge eines Untieres herum, ist nichts als widersinnige Phantasie. Ein Traum im Traum. Ein Wachtraum inmitten irgendeines nächtlich bilanzierenden Ungetüms.
Dennoch - den wütenden Hunger und Durst im Bauch spüren, dennoch - die messerscharfen Aufnahmen der eigenen Magenwände im Kopf haben und hilflos mit ansehen, wie Säuren sich an ihnen sattnagen. Dem entfliehen, - überstürzt, wutschnaubend losrennen, wieder klagen, jammern, sich gegen den Wind stellen, hunderte von Hundertmeterläufen abspulen und fluchen dabei, ohne jemals genügend Luftmassen voranzuschieben, die einen gespannten Siegesfaden beiseite drücken könnten. . .
Was bleibt, ist lauthalses Beten ins Echolose, oder das Krächzen von sonderbaren Lauten, bis alle Verdammnistürme endlich zerfallen und jedes donquichotte Aufbäumen in ein müdes, widerwilliges und stumpfsinniges Vorwärtsschreiten übergeht, übertönt von der gnadenlosen Teilnahmslosigkeit der Umgebung.

Plötzlich auf das feuchte Gras aufmerksam werden - das Mütterliche -, das sich hingebungsvoll vor den Füßen teilt zu einem Weg. Wie unglaubhaft...! Mit ein bisschen Glück vielleicht auf ein Wasserloch stoßen, ausgezehrt hineinfallen, nach einem Stein greifen, zertrümmerten Fisch fressen, einfach liegen bleiben und schlafen, schlafen, immer nur schlafen.

Sich eines Nachmittags vom Plätschern kleiner Wellen wecken lassen. Der Sonne lange entgegenblinzeln. Unter einem Taunetz ruhen, rinnende Perlen auf dem Gesicht fühlen. Vom Wagnis des Augenöffnens wissen, - sich Mut machen! Zweifelnd umherblicken, vielleicht eine zärtliche Stimme aus der Luft greifen oder Geräusch. Sich langsam aufrichten, ans Ufer schleppen, mit der Behäbigkeit eines Dickhäuter; sich von wärmenden Strahlen trocken legen lassen. Sich sammeln, sortieren, ausruhen, regenerieren; Büsche nach festen Halmen absuchen, Kleiderlumpen zurechtflicken, Schuhwerk basteln; Ratten jagen, ihre Fell mit Kreditkarten abschlitzen, gegen die drohende Kälte. Langmütig über das Wasser starren, sich die ausschwingenden Kreise auf saugenden Blicken zergehen lassen, ab und zu vielleicht ein stupsendes Fischmaul erspähen. Sich vornüberbeugen – allen dusteren Ahnungen entgegen – zuvor das Haar zu einem Knoten binden, dann zuschauen, wie die senkende Spitze des Bartes in die eigene übel zugerichtete Landschaft sticht und ertragen, dass Jahre wahllos vergangen sind, einfach so, wie in den Himmel gesprühte Löcher. Plötzlich alle Haustüren zuschlagen hören, bevor zuende geredet ist, und dastehen mit den Hundeblicken eines Abgewiesenen. Zurücksinken in die Uferbüsche, noch im Augenwinkel den ängstlich zitternden Tautropfen am oberen Ende eines Sumpfdotterhalms. Das wolkenlose Firmament, den Tümpel, das Feld samt Statue, die ganze Schrumpfwelt als silberne Leiche verschlossen sehen. Sie salzig auf der Zunge schmecken, zur Kehle rollen lassen, schluchzen dabei, in die Tiefe stürzen und wieder aufsteigen. Abgrundstücke von sich streifen, zum Weitergehen ermuntern, wieder über den rutschigen Teller wandern, hoch zum Rand, vorwärts taumeln, Kontenance bewahren, im Stehen schlafen, dem Ziel entgegeneilen, in die Zukunft flüchten - zur Statue! Gottverdammten Statue!
Den ersten Winter nicht wahrhaben wollen. Sich durch Schnee, Nässe und Kälte krümmen. Den anfrierenden Schweiß von der Stirn kratzen, nicht kampflos dem Naturetikett überlassen. Auf den Frühling hoffen, als sei es der erste und letzte, beginnen, ihn anders zu sehen. Vor seinen Farben niederknien. Knospen, Blüten, Blumen mit Namen anreden. Aus ihren Kelchen alltägliche Geschichten trinken; ihnen vom Wege erzählen, nach einem fragen, sich an sie lehnen und lauschen auf irgendwas. Auf die Zukunft mit ihnen anstoßen - ohne jedes Klirren - ihren Blütenstaub tief einziehen, benommen erste Danksagungen im Wind zerreden hört doch niemand! Und weiter und weiter, im Stehen schlafen, immer weiter, unermüdlich. Nach Sommerfrüchten greifen, sich jetzt an sie erinnern, zurücksehnen; das Zählen der Jahreszeiten einstellen, nicht mehr wissen, welche ist; dem Sinn jede Zeit nehmen; Spiele ausweiten – greisenkinderhaft, in kühle Wolkenschatten hüpfen, schillernde Namen verteilen; der Statue die Bedeutung nehmen, sich tröstend durchs faltige Gesicht fahren, sich anfühlen, älter als andere, vielleicht. . .

Den letzten Morgen nicht versäumen. Dem langsam aufsteigenden Sonnenball zusehen. Seinen Augen trauen, wenn die Silhouette der Tänzerin auf grellem Horizontband zu pirouettieren beginnt. Ihrem grazilen Schwingen zur Federwolke Glauben schenken, auf sich zufliegen lassen, die zitternden Hände entgegenstrecken, auf Zehenspitzen hochdehnen - sie nur einmal berühren wollen! Dabei die Lider untertänig schließen und allen Ereignissen zugestehen, sich schnell oder langsam zu überschlagen. Das goldene Sonnenlicht gelassen über die ausgehöhlte Erde schürfen lassen. Die kreischende Vogelschar entwöhnen, sich zu keinem erdaufwühlenden Schritt mehr ermutigen, den Pflug der Jahre ablegen, nichts Essbares mehr zutage pflügen!

Sich umwenden, jetzt umwenden! Endlich seine Straße wiedererkennen, endlich! Staunend betrachten, wie sich das weite Feld zu einen engen Wiesenschlauch zusammenquetschen lässt – im Schraubstock wuchernder Türme, Kugeln und Schachteln aufeinander zugerückter Großstädte.

Seinen abgestellten Wagen wieder am Straßenrand orten. Austräumen! Zuendeträumen! Nun aufwachen und schnell zurück! Unverzüglich zurück!
Aber in den Rhythmus nicht hineinfinden, keinen einzigen Fuß mehr vor den anderen setzen können. Statisch dastehen und die Welle des Feldes begreifen, die über alles ein letztes Mal hinwegrollt und schließt. Gerade noch einen laufenden Mensch erfassen! Seine dynamischen Schritte bewundern. Seine Jugend, Entschlossenheit, Elan, Kraft, diese Willenskraft. Endlich! Endlich! Ein Mensch! Richtiger Mensch! Hier bin ich! Komm doch! Ich bin es!

Und sich schließlich begreifend abwenden. Das Gesicht der Versteinerung preisgeben. Fühlen, wie der endgültige Ausdruck sich in die Schluchten der eigenen felsigen Gesichtshaut meißelt. Darin auf ein ironisches Lächeln hoffen. Seinen fernen Standort als Standbild ertragen, im Warten verharren, lächelnd, wie sonst. . .?“

 

Eine kunstvoll und wortreich erzählte Geschichte mit schwer verständlichem Inhalt. Inhaltlich entnehme ich ihr folgendes:

Ein nicht näher beschriebenes Individuum (manche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass es sich um einen Mann handelt) sitzt am Steuer eines Autos und fährt eine Landstraße entlang. Währenddessen schweifen seine Gedanken von der Eintönigkeit dieser Fahrt ab und verlieren sich in der unmittelbaren Umgebung eines weiten Feldes. Er stellt sich vor, seinen Wagen am Wegrand abzustellen, in dieses Feld hineinzulaufen und sich dort in Ruhe einer Art Meditation seinem Lebensinhalt gegenüber zu unterziehen.
Diese Betrachtungen gestalten sich zunächst als eine Suche, in der einige bekannte Klischees eines Verzweifelten und Sinnsuchenden als unwahr verworfen werden. Das führt sogar soweit, dass dieses Individuum sich unerwartet plötzlich wieder hinter dem Steuer seines Autos wiederfindet, mit dem er besagte Landstraße entlangfährt.
Die Unzufriedenheit über sein Dasein lässt ihm jedoch keine Ruhe und in der zweiten Hälfte des Textes versucht er sich nun gedanklich in die vermeintliche Geborgenheit von Mutter Natur zu flüchten. Eine zunächst noch aktiv herangegangene, jedoch im Ergebnis erfolglose Sinnsuche wird nun eine mehr passiv gestimmte Aufgabe umgewandelt.
Doch die Sehnsucht nach dem Vertrauten und Bekannten lässt ihn gegen Ende des Textes wieder umkehren, zurück zu seinem Wagen, den er erst jetzt wieder richtig wahrzunehmen beginnt.
Das Ende ist überraschend und lässt mich verständnislos zurück. Wie genau kommt es zu der beschriebenen Versteinerung? Was hat das Individuum angeblich begriffen?

Den Stil der Geschichte finde ich bemerkenswert. Er ist sehr unmittelbar und häufig passiv beschreibend. Hier widerfährt jemandem etwas, das er sich selbst nicht unbedingt herbeigewünscht hat. Und man kann sich, zumindest streckenweise, leicht selbst in das Geschehen hineinversetzen. Das ist der geringen Distanz dieses Erzählstiles zu verdanken und zeigt, wie wichtig das Wie im Verhältnis zum Was in einer Erzählung sein kann.

 

Vielen Dank fürs Lesen! Hatte den Text schon als unzumutbar ’abgeschrieben’. Um so mehr freue ich mich über eine Reaktion.

Der Mann entscheidet sich für eine Richtung - hier für das Feld. Als während dessen tatsächlich Zeit vergeht, er darauf ’natürlich’ altert, gibt er sich dem Unausweichlichen als Art Schicksal hin.
Noch einmal sieht er sich in der Hoffnung um, alles sei doch nur ein Traum hinter dem Steuer gewesen und er könnte noch einmal von vorn beginnen, vielleicht auch nur, um wenigstens im Alltäglichen weiterzufahren.
Dann aber wird ihm klar, dass er nicht mehr vom Auto aus das Feld träumt, sondern vom Feld-Ende aus das Auto und seinen Aufbruch. Im dynamisch auf ihn zuschreitenden Menschen erkennt er sich schließlich selber und versteinert in der Erkenntnis, dass der Weg über das Feld sein Leben war, das sich als Statue vollendet.
Er sah sich schon dort stehen, als er los ging, wusste es jedoch noch nicht.

Ehrlich gesagt kommt es mir, versuche ich es nun deutlicher zu beschreiben, weiterhin recht bizarr vor, während ich das Geschehen als Bild recht deutlich vor mir habe.
Ich hoffe dennoch, ein wenig zum besseren Verstehen beigetragen zu haben.
Wohl eine durchgestylte Periodengeschichte, wenn man so will.

Und nochmals recht vielen Dank für das Interesse und die anregenden Fragen. :)

 

Die Sache mit der Statue als zu Stein gewordenes Ende eines Lebens finde ich sehr interessant.

Dem esoterischen Umfeld entnehme ich in diesem Zusammenhang eine These, die besagt, dass jedem Menschen ein ganz persönliches Lebensziel, eine Art Bestimmung gegeben ist, vor deren Ankunft ein jeder Mensch nicht sterben wird und nicht sterben kann. Weiterhin wird jeder einzelne Mensch zum Zeitpunkt seines persönlichen Todes im Gedenken seiner Mitmenschen an ihn ja vielleicht tatsächlich zu einer Art geistigen Statue. Einerseits hat der je Verstorbene nun damit keinen weiteren Einfluss mehr auf seine eigene Bedeutung den Anderen gegenüber. Andererseits haben seine Mitmenschen nun damit keine weitere Möglichkeit mehr, ihr inneres Bild, das sie von diesem Verstorbenen erworben haben, noch zu korrigieren. Im Gegenteil, es wird sich wohl eher immer mehr verfestigen - ganz wie eine reale Statue gewöhnlich aus festem Stoff gehauen ist.


BTW: Was ist eine "Periodengeschichte"?

 
Zuletzt bearbeitet:

Periodengeschichte steht wohl für Periodensystem, für etwas von ewiger Wiederkehr, egal wie gerechnet, Gleiches, hier nur nicht Selbes, als Ergebnis hervorbringend. Allerdings ist Mathe nun wirklich ein Feld, auf dem ich mich aus Gründen völliger Orientierungslosigkeit keinen einzigen Schritt vorwagen sollte. Benötige Bilder. Nur mal so durch den Nebel gegriffen, taste ich höchstens an Begriffen wie Möbiusschleife oder gar Loops der Musik und halte dann lieber vorsichtig inne. :confused:

Ansonsten buddelt die 'philosophische Ratte' tiefschürfend auf weitem Feld und gelangte nah an die Statue heran. Wie durch einen frischen Wind bröckelte ihr noch einmal ’Stein vom Herzen’. :)
Danke für den faszinierenden und einleuchtenden Erklärungsansatz! :thumbsup:

 

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