- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Die Stimme
Die Stimme
‚Mein Geliebter‘, begann der Brief.
Jeder ihrer Briefe.
‚...ich sehne mich danach, deine Stimme zu hören‘, sagten mir die Zeilen.
Ich kann es kaum erwarten dich wieder zu sehen, dich wieder zu sehen. Wiedersehen, was für ein schwaches Wort für solch eine Implosion. Ja, ich kannte das Gefühl bereits, nein, besser: Ich wusste, dass ich es gekannt haben würde. Das Wiedersehen ist der Abschluss der Abwesenheit der anderen Person, in Fällen wie diesem, einem geliebten Menschen, das Wiedersehen war der Abschluss des großen Verlustes, des großen Leidens. Je größer der Verlust, desto größer die Wiedersehensfreude, das Glück.
Vor zwei Jahren, als wir uns trennten, um uns irgendwann wieder zu sehen, wusste ich noch nicht, welch einem Leiden ich ausgesetzt sein würde.
Wie sehr ich ihre blauen Meeraugen vermissen würde.
Wie sehr ihr blondes, fast gelbes Haar. Ein Gelb, dass immer Neuanfang versprach.
Wie sehr ihren katzengleich geschmeidigen Rücken, den ich immer wieder, nicht nur mit den Augen, abgetastet, gestreift, gestreichelt hatte.
Und ihre Stimme, eine Stimme, die ich unter hunderttausenden wieder erkannt hätte, wie es immer in den Romanen heißt. Ihre Stimme schwang, sang und las immer mit, wenn ich einen ihrer Briefe bekam. Leise summte sie schon, wenn ich einen Brief aus Paris aus meinem Briefkasten fischte. Das Summen schwoll an und sobald ich die ersten Worte las, schwappte es über in einen sanften Singsang, der mich durch die ganze Welt begleiten würde.
‚Mein Geliebter...‘
‚...ich sehne mich danach, deine Stimme zu hören‘
Wiedersehen. Noch nie hatte ich ein Wiedersehen derart verlangt, wie ich es jetzt tat. Und ich wusste, ich würde ein Wiedersehen nie so sehr verlangt haben, wie in der nächsten Sekunde, und der darauffolgenden... seit zwei Jahren ging das so, seit damals am Hamburger Hafen, als nur die Möwen Zuschauer unserer letzten Umarmung im Mogendämmern waren, die bereits Trennung war. Ich bestieg den Tanker nach Kerala, Südindien, und sie den Flieger nach Paris, nur wenige Stunden später. Es war schon immer ihr Wunsch gewesen nach Paris zu gehen, nicht einmal, um ein besonderes Ziel zu verfolgen, einfach um nach Paris zu gehen, nach Paris.
Die Reise nach Kerala hatte gut geschmeckt, nach Tragik. Ich fühlte mich als Leidender und sehnte mich nach ihr, sowie sie sich nach mir sehnte, sobald wir uns getrennt hatten, wie sie mir in einem ihrer Briefen berichtete, die immer mit demselben Gesang begannen:
‚Mein Geliebter...‘
‚...ich sehne mich danach, deine Stimme zu hören‘
Wir waren wie zwei Planeten gewesen, die sich getroffen hatten in einem Aufprall und von da an nicht mehr aus der Umlaufbahn um den anderen entkommen konnten. Immer tiefer zog es uns in den Strudel, immer tiefer in den Rausch. Man soll auf dem Höhepunkt aufhören.
Erst durch Verlust erfährt man den wahren Wert einer Sache. Zu Anfang gefällt einem jeder Besitz, doch mit der Zeit verflacht die Freude darüber und die Wertschätzung eines Besitzes. Man misst ihm erst wieder Wert bei, wenn man ihn verloren hat, wenn man den Verlust spürt, wenn es schmerzt. Das ist kein Masochismus, sondern eine simple Beobachtung.
Wir trennten uns.
Wir wollten in uns lodernde Feuer entfachen, Brände, die nicht mehr gelöscht werden konnten.
Wir trennten uns.
Wir wollten unsere Liebe verewigen.
Es brannte in mir und die Flammen schlugen höher, wenn der Gesang in meinen Ohren erklang, der jeden ihrer Briefe eröffnete, fast jeden. Denn der letzte Brief summte:
‚Mein Geliebter...‘
‚...ich sehne mich danach, deine Augen zu sehen‘
Aber zwei Jahre sind genug. Nach zwei Jahren möchte man diesen Gesang nicht alle zwei Monate hören, sondern jeden Tag, jede Minute, ja, jede Sekunde. Dieser Gesang, der mir alles verhieß, diese Stimme, die mich betörte, nachdem die Feuerzungen aus meinem Körper haschten. Ja, zwei Jahre waren genug, das fand sie auch.
Wir wollten uns in Hamburg wieder treffen. Nach zwei verdammten Jahren. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihre Stimme zu hören. Im Flugzeug schwitzte ich, dass ich gleich ein Dampfbad hätte nehmen können. Wir landeten.
Am Ausgang, da stand sie.
Mein Herz stand still, zwei Sekunden lang, die lang waren wie zwei Jahre.
Wir stürzten aufeinander zu, fielen auf den Boden und hielten uns, hielten uns einfach nur eine Zeit lang in den Armen.
„Hallo.“, sagte ich sanft.
Sie lächelte.
„Hallo.“, sagte ich erneut.
Sie lächelte.
„Sag was.“
Sie lächelte.
„Ich will deine Stimme hören. Sag was.“
Sie lächelte.
Sanft schüttelte ich sie: „Deine Stimme, ich will sie hören.“
Sie nahm meine Hand und führte sie an ihren Hals. Ich fühlte eine große Narbe, dort wo die Stimmbänder liegen.
Sie war stumm.
Ich rührte sie während unseres ganzen Aufenthalts nicht an. In der Nacht hörte ich sie schluchzen, nicht hemmungslos, nein. Ein Schluchzen, dass auf die Bestätigung einer Furcht folgt. Am nächsten Morgen setzte ich mich in das erstbeste Flugzeug nach Frankfurt/Main, um zurück nach Kerala zu fliegen.
Ich habe sie nie wieder gesehen.
Ich habe auch nie wieder einen Brief bekommen oder einen geschrieben. Ich hätte ihren Brief sowieso nicht gelesen, nicht lesen können, denn ihre Stimme war verstummt und ein Brief von ihr wäre stumm, nur ein Haufen sinnloser Zeichen gewesen, die ich nicht hören und deswegen nicht verstehen konnte.
Heute weiß ich: Ich habe alles zerstört. Ich wollte unsere Liebe durch Verlust stärken und hatte alles verloren. Man kann das Leben nicht berechnen.