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Die Strasse
Als er damals die Strasse hinunter gelaufen war, hätte er lachen können. Alles war so perfekt gewesen, so ideal. Er war glücklich gewesen, seine Welt war glücklich gewesen., alles war glücklich gewesen. Die Strasse war ihm damals nett erschienen.
Nicht gemein, nicht so schuldig, so wie sie es heute war.
Sie war nicht unschuldig, nicht mehr, nein.
Er war traurig, wirklich traurig. Damals war ihm alles egal gewesen. Nicht mal um sie hatte er sich Sorgen gemacht, sie war einfach sie gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, warum er nie realisiert hatte, wie dumm er doch gehandelt hatte.
Es war alles zu schnell passiert. In einem Moment, ohne Warnung, einfach so.
Plötzlich war sie weg gewesen und hatte ihn allein gelassen.
Er erinnerte sich noch daran. Die Sonne hatte geschienen an diesem Tag, die Vögel hatten gesungen. Er konnte sie immer noch singen hören. Schön und unschuldig, ohne jegliche Ahnung von dem, was noch passieren sollte.
Er hörte sie, immer noch in seinem Kopf. Er hörte sie und sich selbst.
Er hörte die Bremsen, die kreischenden Reifen, die Hupe. Zu spät.
Sie war weg gewesen. Weg, einfach so.
Eine Träne lief aus seinem Auge, als er die Strasse hinunter ging und sein Blick auf die Vögel am Himmel fiel. Die waren glücklich, dachte er, die waren bestimmt glücklich. Sie verloren nichts und niemanden. Oder?
Und selbst wenn sie es würden, es wäre ihnen sowieso egal, sie hatten keine Gefühle, Tiere hatten keine Gefühle. Er wusste das.
Er wusste viel.
Aber vielleicht nicht genug, dachte er wieder.
Er ging weiter. Eine weitere Träne fiel zu Boden.
Er war so glücklich gewesen. Sie und er, sie waren das beste Paar der Welt gewesen. Er schüttelte den Kopf. Er konnte es einfach nicht verstehen. Warum? Er hatte sie schließlich geliebt, oder nicht? Also warum? Warum?
Noch eine Träne.
Er sah hoch, in den Himmel. Er war irritiert. Die Sonne war weg, eine Wolke hatte sich davor geschoben. Es wurde kälter.
Wegen dem Regen, dachte er. Und er hatte recht. Die Wolke hatte angefangen ihre Tropfen auf ihn zu werfen. Einfach so, sie warf ihre Tropfen, ihre Tränen auf ihn. So wie er seine Tränen warf. Die zwei verschieden Arten von Tränen flossen auf dem Asphaltboden zusammen. Sie flossen zusammen, aber das konnte er nicht sehen, hatte keine Augen dafür.
Das einzige, wofür er Augen hatte, war die Strasse. Die böse Strasse, mit den Autos darauf. Die tödlichen Autos, die niemandem Erbarmen zeigten, der sich ihnen in den Weg stellte.
Er hasste diese Autos, oh ja, das tat er.
Und er hatte auch allen Grund, sie zu hassen.
Sie töteten, sie waren Mörder. Böse Individuen, deren einziges Ziel es war zu zerstören.
Ein Muskel in seiner linken Backe zuckte als er sich der Strasse näherte.
Sein Körper war steif, sein Kopf weit weg.
Er wusste, was er tat, sehr genau. Alles was er wollte war, mit ihr zusammen zu sein, wo auch immer sie sein mochte. Er konnte nicht mehr. Er konnte nicht mehr weitermachen, das hier war nicht seine Welt, er konnte nicht in so einer Welt leben, in der solche Dinge passierten.
Es war einfach nicht fair.
Er blas die Luft aus seinen Backen und war schon fast mit einem Fuß auf der Strasse, als ihn plötzlich jemand von hinten ansprach.
„Entschuldigung, haben sie ne Uhr?“
Er erstarrte. Wer war das? Wer wagte es, ihn zu unterbrechen? Wer wollte ihn von seiner Liebe weghalten?
Rasend vor Wut drehte er sich um.
Und erstarrte.
Er konnte nicht sprechen. Was er sah, war einfach zu, zu…. Das konnte nicht sein. Er öffnete seinen Mund, wollte etwas sagen aber alles, was er herausbekam war ein spärliches „Ha!“
Sie sah ihn an als wäre er ein Außerirdischer. „Alles in Ordnung?“
Er nickte. Augen aufgerissen, Mund geschlossen.
Seine Lippen waren trocken. Er leckte darüber. Sie trockneten wieder aus.
Er konnte nicht sprechen, konnte seine Augen einfach nicht von diesem Gesicht losreißen, diesem Gesicht, das… Es war einfach zu gut um wahr zu sein.
Es konnte nicht wahr sein.
Er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam.
Was war hier los?
Sie erschien etwas hilflos, wie sie da so auf dem Gehweg stand und von diesem Mann angestarrt wurde. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ähm, die Uhrzeit?“ fragte sie und setzte ein leises „Bitte“ dahinter.
Er riss sich zusammen, erweckte sich selbst aus seiner Erstarrung.
„Äh-äh, ja, ja, sicher, äh…“. Immer noch auf ihr Gesicht starrend hob er seinen Arm und zeigte ihr seine Armbanduhr.
„Es ist- es ist, ähm, ich glaub so gegen fünf, oder nicht?“
Er versuchte zu lächeln, es sah aus wie Grinsen.
„Ja“, sie lächelte auch, ein bisschen unsicher, was sie mit dieser, ganz offensichtlich kranken, Person anfangen sollte. Einfach weglaufen? Würde er sie lassen? Sie wusste es nicht.
Und so blieb sie dort, blickte auf seine Uhr und lächelte ihn an wobei sie versuchte ein Zeichen von Normalität in seinem Gesicht zu erkennen.
Er schüttelte jetzt seinen Kopf. Das konnte nicht sein, dieses Gesicht, glaubte man es, oder nicht, aber dieses Gesicht sah exakt aus wie sie ausgesehen hatte. Es war nicht nur ähnlich, nicht nur ein paar Eigenschaften, die sich glichen, nein. Das ganze Gesicht, alles, von der Nase zu den Ohren sah aus wie sie. Er stand vor ihr.
Aber das war unmöglich, das hier war nicht echt, er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was war hier los, vielleicht eine Art Streich? Spielten seine Freunde ihm einen Streich? Trug sie vielleicht eine Maske?
Er schüttelte wieder den Kopf. Nein, das war keine Maske, das war echt.
Er bewegte seinen Arm auf ihr Gesicht zu, wie ein Penner, der sich nach einem saftigen Hamburger ausstreckt.
Sie zuckte zurück und blickte ihn an als sei er verrückt. Das musste sie wohl denken.
Er wollte einfach nur ihr Gesicht berühren, es streicheln, zum allerletzten Mal. Sie einfach nicht gehen lassen.
Aber das Mädchen fühlte sich nun wirklich unbehaglich. Sie murmelte ein undeutliches „Danke“ und lief weg.
Sie rannte schon fast als er ihr nachblickte. Sie schaute nicht einmal zurück.
Er sah in den Himmel. Der Regen hatte aufgehört.
Endlich…
Seine Augen gingen wieder zurück zum Gehweg.
Wo war sie? Das konnte nicht sein, wie hatte sie so schnell verschwinden können? Hatte er nur halluziniert? Er zitterte. Es war ihm so real erschienen…
Es war real gewesen, er war sich sicher.
Aber wo war sie hin?
Vielleicht doch nur ein Streich? Er wusste es nicht, er wusste es einfach nicht.
Und er wollte es auch nicht wissen. Er streifte seine Finger durch sein Haar und sah auf den Boden.
Die Tränen waren noch immer da, die zusammengeflossenen Tränen.
Aber nicht sehr lange, er beobachtete sie, wie sie sich auflösten, so wie das Mädchen, einfach in Luft auflösten.
Und er lächelte. Er lächelte wie ein Geburtstagskind.
Er blickte zur hellen Sonne, die wieder herausgekommen war und das Lächeln wuchs zu einem Grinsen. Dann zu einem Lachen und schließlich lachte er wie verrückt. Wie er da so stand und sich selbst blendete lachte er als sei er verrückt geworden.
Verrückt, dachte er, Ich bin verrückt. Der Gedanke war so lustig, dass er nur noch mehr lachte.
Er lachte und lachte, über die Welt, über sie, über die Sonne, die Tränen und das Mädchen.
Er lachte bis das Lachen zu einem Kichern verebbte. Dann ging er heim und lebte.
Die Tränen waren vergessen.
Die Strasse auch.
Ben Wieland