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Die Stunde des Tigers
"Die Chinesen teilen den Tag in zwölf Doppelstunden mit Tiernamen. Zum Beispiel haben wir jetzt, Moment ... die Stunde der Ratte!" sagte der Mann.
Die Funkuhr auf dem Fernseher zeigte 23:05 Uhr. Die Flammen im Kaminofen warfen einen rötlichen Schein auf das Display. Vor der Ledercouch und den beiden Polstersesseln lag das Tigerfell, erst heute morgen mit DHL geliefert und zwischen den vier Menschen im Raum herrschte peinliches Schweigen, das der Mann tapfer mit geistreichen Bemerkungen überspielte.
Das Tigerfell glänzte goldorange und schwarz. Bernd und Elli, das befreundete Ehepaar: zwei Augenpaare, die es pflichtbewusst anschauten, während der Mann vom Dachboden der alten Villa schwafelte, auf dem es jahrzehntelang gelegen haben musste und von der eBay-Auktion. Da entdeckte Elli auf einem Beistelltisch den Käfig mit den zahmen Ratten Pat & Patachon und war hingerissen. Sie nahm eine Erdnuss zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie langsam an das Gitter. Eine der Ratten schnappte sie. Elli lachte. Der Mann war kurz still, schaute ihr mit offenem Mund zu. "Wir haben hier die reinste Menagerie", sagte die Frau, "Aber ihr wisst ja, wie es ist: das Kind! Wir halten die Tiere, damit das Kind soziale Kompetenz lernt."
Vor der Tür bellte ein Hund.
"GRRROOARR!" schrie das neunjährige Mädchen unter dem Tigerfell. Die Katze flüchtete hinter das Sofa.
"GRRROOARR!"
Der Gelbwangenkakadu beobachtete mit stummem Entsetzen, wie die haarige Gestalt über die Fliesen kroch. Plötzlich sprang das Kind auf! Der Vogel rettete sich auf den Wohnzimmerschrank. Das Mädchen sah aus wie ein Medizinmann: Den ausgestopften Tigerkopf mit den gebleckten Reißzähnen auf dem Kopf und das Fell, das an ihr hinunterhing. Darunter gluckste und kicherte es: hihihihi!
Das Mädchen scheuchte die Ratten Pat & Patachon in das Holzhäuschen des Käfigs. Der Tigerkopf stieß gegen das Gitter, dass es nur so rasselte! Langsam drehte das Tiger-Kind sich, blieb dann stehen und konzentrierte sich auf den Vogel. Mit süßlich-böser Stimme sagte es: "Ich bin ein Tiger. TI-GER! Kannst du das sagen, du dummer Vogel?"
"Ti-ger", sagte der Kakadu, glotzte dabei wie hypnotisiert das Mädchen an.
Schritte, so schwer, dass sie das ganze Haus erzittern ließen, kamen näher. Es war die Frau: "Was machst du denn schon wieder für einen Lärm?! Hast du überhaupt Dino schon gefüttert?"
Die Kleine warf das Tigerfell auf den Boden. Unschlüssig stand sie auf einem Bein.
"Jetzt aber los!"
Die Kleine tänzelte im Hopserlauf ins Kinderzimmer, um Dino, der Echse, Lebendfutter zu geben. Das tat sie gern. Finger mit rosa lackierten Nägeln schnappten eine Heuschrecke. Das kleine Tier zappelte vergebens. Es hatte eine zarte Stimme, für menschliche Ohren unhörbar und flehte: "Oh bitte, bitte, bitte nicht!"
Schnapp! machte das Maul der Echse. Das Mächen klatschte begeistert in die Hände. Die Echse machte das Maul auf und zu, zermatschte die Heuschrecke, verdrehte dabei den Kopf. Das sah so idiotisch aus, dass das Mädchen wieder kichern musste: hihihihihi!
Unterdessen lag das Tigerfell noch immer, wo das Mädchen es hingeschmissen hatte. Der Gelbwangenkakadu umkreiste es, neigte dabei den Kopf von einer Seite auf die andere. Er dachte an seine letzten Tage in Singapur...
Hoch, hoch über dem Blätterdach und den ersten Ausläufern der riesigen Stadt! Im Blau des Himmels herumfliegen, nach unten sausen. Der Boden kommt näher, alles wird größer. Die Flügel ausbreiten! Die farbigen Punkte sind Menschen. Sie schreien herum, bergen die Überreste eines Artgenossen und ständig fällt das Wort Tiger.
„Tiger“, überlegte der Kakadu. Und während er das Fell betrachtete, stürmte eine Flut von Bildern und Geräuschen auf ihn ein: Käfig, Hitze, Menschen, Geschrei, die lange Reise, die Tierhandlung. Seine Gedanken und Erinnerungen formten etwas, als wäre er ein Gefäß, in dem eine explosive chemische Reaktion in Gang kam.
Das Fell tat immer noch nichts. Lag einfach da. Die Katze wälzte sich darauf, alberte herum, versetzte ihm einen Pfotenhieb. Das Fell bewegte sich ein winziges Stück! Das genügte schon, um die Ladung in der Gedankenwelt des Kakadus zur Explosion zu bringen. Die alte Angst war wieder da, ließ sein Herz rasen, spreizte ihm Kamm und Federn. Er begriff! Er schrie:
DER TIGER BEWEGT SICH!
DIE KATZE SIEHT AUS WIE ER!
DIE KATZE IST EIN TIGER!
WIR MÜSSEN DEN TIGER VERHINDERN,
ODER ES WIRD UNSER UNTERGANG SEIN!
Die Katze ging hinter die Couch in Deckung. Pat & Patachon glotzten aus dem Käfig, das Mädchen kam die Treppe heruntergelaufen. Auch auf dem Flur näherten sich Schritte.
Noch später: kurz nach zwei Uhr nachts. Der Mann und die Frau lagen im Bett, in dem sie für gewöhnlich schliefen, Kreuzworträtsel lösten und Liebe machten. Ersteres ging nicht, weil sich unter ihnen schon wieder wüstes Geschrei und Gebell erhob, also starrten sie bei ausgeschaltetem Licht an die Decke, bis es dem Mann reichte („Jetzt reicht es!“).
Schon klatschten seine nackten Füße die Treppe hinunter, als die Frau sich aufrichtete, dann aber doch im Bett blieb, weil sie genau wusste, wie es war.
Der Kakadu in seinem Käfig, längst mit einer Wolldecke verhüllt, musste den Rest der Nacht im Geräteschuppen verbringen. Am Morgen erwachten die Menschen mit dunklen Ringen unter den Augen. Der Mann sah aus wie ein Waschbär. Er fuhr mit Kakadu und Käfig ins nächste Tierheim und der Vogel war zu heiser, dagegen zu protestieren, denn er hatte zwanzig Stunden lang geschrien. In seiner Vorstellung hatten nur seine mahnenden Rufe den Tiger davon abgehalten, sich zu erheben und alle Bewohner des Hauses aufzufressen. Und wie dankten sie es ihm? Nun waren sie dem Tode geweiht, davon war er fest überzeugt, und er freute sich über sein sicheres Exil.
„Also, ich weiß nicht... Für mich sieht er sehr tot aus“, sagte Pat.
„Uns betrifft es ja nicht. Hier im Käfig passiert uns nichts“, sagte Patachon.
„Ja, das denkst du. Aber was sollen wir tun, wenn niemand mehr kommt, um uns zu füttern?“
Sie stritten noch lange über diesen ökonomischen Aspekt.
Der Hund lag vor der Tür, die Schnauze hatte er zwischen die Pfoten gebettet und seine Augen schauten in eine unbestimmte Ferne. Er hatte mit dem Kakadu gebellt, weil er ein Hund war und gerne bellte. Wirklich an die Gefahr geglaubt hatte er nicht. Und jetzt, aus Gründen, die er nicht restlos durchschaute, war der Kakadu weg. Das Tigerfell kam, der Kakadu verschwand. Da gab es einen Zusammenhang. Er musste aktiv werden! Er war der Beschützer! Aber wie?
Weil auch er den Tiger fürchtete, wollte er wenigstens die Katze in die Schranken weisen. Ja, die Idee war gut! Bei der Katze musste er ansetzen.
So ging das tagelang: Der Hund verbellte die Katze, wo immer er sie traf. Er fraß ihren Napf leer, damit sie nicht zu einem Tiger heranwachsen konnte. Als der Mann am Donnerstagabend im Wohnzimmer seine Zeitung ausbreitete, bellte er. Der Mann ließ die Zeitung sinken. Mit gefletschten Zähnen knurrte er die Katze an, die abgemagert und verängstigt auf dem Fensterbrett kauerte. Sie hatte immer wieder nach Gründen gesucht, die den Hund gegen sie aufbrachten. Was hatte sie nur getan? Wenn sie einen Fehler gemacht hatte, musste sie bestraft werden, das verstand sie. Sie sagte sich immer wieder: „Du musst immer lieb sein, Kitty-Kat, dann wird es wieder gut.“
Sie war auf den Hund zugeschlichen und wollte sich schnurrend an ihn schmiegen. Aber er verbellte sie. Er schnappte sogar nach ihr.
Der Mann rollte die Zeitung zusammen. Seufzend erhob er sich aus dem Polstersessel. „Wuff-Wuff!“ bellte der Hund, deutete dabei mit der Schnauze auf die Katze. Der Mann zog ihm die Zeitung über den Schädel, dass es nur so klatschte. Nun war der Arme völlig verstört und verzog sich jaulend in den Garten. Da sollte sich noch einer auskennen...
Am Wochenende sagte Pat zu Patachon: „Ich habe jetzt vier Tage lang dieses Tigerfell beobachtet. Ich glaube, das ist mehr als ausreichend, um mich als Experten der vergleichenden Tigerkunde zu qualifizieren.“
„Wieso vergleichend? Du kennst doch nur dieses eine Tigerfell und wir können es von unserem Käfig aus nicht einmal besonders gut sehen.“, entgegnete Patachon.
„Nun ja, ich bin ja auch erst am Anfang meiner Forschungen. Aber eines kann ich nach der Auswertung meiner gründlichen Beobachtungen sagen: Der Tiger hat sich nicht ein einziges Mal aggressiv verhalten.“
Da sagte Patachon: „Du schließt von einem Teil eines einzigen Tigers auf alle Tiger. Du bist voreilig.“
„Soll ich Sachen erfinden, die über meine Erfahrung hinausgehen? Was ich sehe, ist ein harmloser Gegenstand. Der Tiger, den ich kenne, ist flauschig und unbelebt. Der Kakadu hat behauptet, Tiger seien gefährlich. Das widerspricht meinen Beobachtungen! Aber ich gebe gerne zu, dass wir noch nicht alles über Tiger wissen und mehr Material sammeln sollten.“
Das Tigerfell lag noch immer auf den Fliesen im Wohnzimmer. Nur hin und wieder kam das Mädchen, um damit zu spielen. Der Hund, abergläubisch wie er war, machte einen großen Bogen darum.
„Hallo!“ rief ihm Pat aus dem Käfig zu, „Komm doch mal her!“
Vorsichtig näherte er sich, klemmte dabei den Schwanz zwischen die Hinterbeine. Pat sagte: „Deine Angst ist unbegründet. Tiger tun niemandem etwas. Das haben meine Beobachtungen bewiesen.“
Da bellte und knurrte der Hund und geriet ganz außer sich: „Für diese Verharmlosung des Tigers sollte man dich bestrafen! Sollte die Zeitung zusammenrollen und sie dir über den Schädel ziehen! Sollte dir Redeverbot erteilen! Wuff-Wuff-Wuff!“
Die Situation war unbefriedigend, bis Pat beschloss, eine Expedition zu starten. Er brauchte zwei weitere Tage, um mit einem Bindfaden, den er beim Auslauf auf dem Teppich erbeutet hatte, eine Plastikklammer am Boden des Käfigs durchzusägen.
„Hilf mir mal! Heb es hoch!“
Patachon hatte keine Lust zum Ausbrechen, sagte aber: „Meinetwegen.“
Montags um Mitternacht konnten sie das Gitter um einige Zentimeter anheben und das Holzhäuschen darunterschieben. Dann zwängten sie sich durch den Spalt und waren frei! Im Haus war es dunkel und still. Der Hund schnarchte draußen im Garten in seiner Hütte. Pat weckte die Katze: „Komm mit, Kitty-Kat! Wir müssen weitere Tiger finden. Nur wenn wir die Wahrheit über die Tiger erkennen, können wir deine Unschuld beweisen.“
Sie glaubte es. Gähnend folgte sie ihm, sprang hoch, öffnete die Tür. Das konnte sie! Patachon hielt übrigens nicht viel von Expeditionen. Er blieb lieber im Haus und hoffte, es in die Speisekammer zu schaffen, verabschiedete sie aber an der Katzenklappe, wie es sich gehörte.
Es dauerte mehrere Tage voller Beobachtungen und Befragungen, bis sie von dem alten Königstiger im städtischen Zoo erfuhren. Eines morgens, etwa um vier Uhr, mitten in der Stunde des Tigers, erwachte er und wollte austreten, um Wasser zu lassen. Da bemerkte er zwei Gestalten, die sich aus der Dunkelheit schälten: Eine Katze und eine Ratte mit langem, gummiartigem Schwanz. Er hatte solchen Hunger! Der Tierarzt hatte ihn nämlich auf ayurvedische Gemüsediät gesetzt, weil er zu fett war und den ganzen Tag nur herumlag. Arglos lief Pat auf ihn zu und dachte noch: Endlich ein Tiger! Farbe und Form stimmen weitgehend mit dem Fell im Wohnzimmer überein. Er sieht beinahe aus, als würde er sich bewegen. Aber das kann nicht sein... Man weiß doch...
Der Tiger schluckte ihn sofort, kaute nicht einmal richtig.
Kitty-Kat sah es und fragte sich allen Ernstes, wie es gehen sollte, auf diese Art ihre Unschuld zu beweisen. Dann fragte sie: „Wie ist es denn, da drinnen?“
Aber Pat konnte sie nicht mehr hören.