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- 19.05.2015
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Die Suche nach den Farben
Panama
Zwischen den aufragenden Glastürmen Panamas kreisen Geier, ein Symbol oder eben einfach Vögel, die in der Stadt zwischen den Meeren eine ideale ökologische Nische gefunden haben. Containerschiffe auf dem Wasser am Horizont, die den Kanal in die eine oder andere Richtung durchqueren. Sie gleiten wie schlafende Tiere durch die Schleusen des Kanals, während über ihnen das Tropenlicht flimmert. Die Stadt flüstert unentwegt und berichtet von Gier, als wäre sie selbst ein Marktplatz aus Stimmen.
Mein Budget ist großzügig bemessen, also übernachte ich in der Altstadt im Hotel Central, klassizistisch, im 19. Jahrhundert erbaut, dicke Teppiche und Personal, das mich mit meinem Rucksack und den Wanderschuhen im ersten Moment etwas genauer beäugt, als ich aber meinen Namen und die Organisation nenne, für die ich arbeite, mit ausgesprochener Freundlichkeit behandelt werde und nach meinen Wünschen gefragt werde. Dass ich nach den Farben suche, verheimliche ich. Genauso gut hätte ich die Sehnsucht nach der blauen Blume nennen können und wäre auf dieselbe Verwunderung gestoßen. Ich reise alleine, treffe wahrscheinlich ein paar Leute in Cusco, ein Influencer des Klimawandels. Am Abend poste ich Clips mit Blick über die Skyline, einem Geier am Hotel-Pool und von mir selbst, gut gelaunt bei Pisco Sour und einem fetten Burger. Der Himmel ist leer wie mein Herz. Also muss der Magen zufriedengestellt werden. In Peru werde ich Hamster essen und eine Menge Likes für die Posts verzeichnen. Wie lange werden meine Posts viral gehen? Was verbirgt sich unter der Haut? Von der Rooftop-Bar aus beobachte ich die Containerschiffe auf ihrem Weg zwischen Ozeanen und Urwald, ein Bild für den Kanal, das Tor der Welt. Ich suche nach dem perfekten Bild, einem Moment der Wahrheit. Ich suche und suche. Odi et amo. Ich liebe und ich hasse. Nähe gibt es nicht. Schein dominiert die Welt. Ich verliere mich im Nichts der Bedeutungslosigkeit.
In der Nacht träume ich von Dämonen, Wesen, die mir etwas zuflüstern, ohne dass ich verstehe, was sie meinen. Beim Aufwachen bin ich nicht in der Lage, etwas von dem in der Nacht Erlebten, Fantasierten in die Wirklichkeit zu retten. Zurück bleibt die Leere meines heimatlosen Lebens.
Cusco
Am frühen Morgen hebt der Flug in Richtung Süden ab, über den Dschungel, das Meer, die Grenzen, die nur auf Karten existieren. Unter den Wolken verschwindet Mittelamerika wie eine Kette von Erinnerungen, gebrochen und wieder verbunden. Lima leuchtet wie ein Raster aus Lichtpunkten, eine Stadt, die so viel mehr weiß, als sie preisgibt. Eine Stunde Aufenthalt. Die Sonnenstadt darf nur tagsüber angeflogen werden. Durch das Fenster sehe ich die ersten Gipfel der Anden, bis sich die Maschine über Cusco senkt.
Cusco
Sobald ich die Flughafenhalle verlassen habe, um auf den Fahrer zu warten, der mich zum Hotel bringt, spüre ich, was diese Stadt ausmacht und was einen unweigerlich begleitet, wenn man sich dort aufhält: grelles, gleißendes Licht und das beständige Gefühl, der Himmel sei einem näher als die Erde. Steine atmen Geschichte, Straßen führen spiralförmig hinauf und hinab, als suchten sie einen Mittelpunkt, der längst verschwunden ist.
Panama und Cusco: zwei Pole derselben Reise. Das eine geschaffen, um Wasser zu teilen; das andere, um Himmel und Erde zu vereinen. Und zwischen ihnen eine Bewegung, die mehr ist als Geografie – ein Übergang zwischen Tiefe und Höhe, Kontrolle und Vertrauen, Maschine und Mythos.
Über den Gipfeln singt der Wind in sieben Tönen. Man sagt, wer sie alle hört, findet den Weg, der weder nach Norden noch Süden führt – sondern nach innen. Irgendwo da draußen warten die Farben.
Mein Hotel heißt El Balcón und liegt oberhalb des historischen Zentrums, verborgen in einer schmalen Gasse, ein uraltes Haus, kurz nach der Eroberung erbaut, schlicht, weiße Wände, Holzbalken. Galerien und Balkone aus Holz im Innenhof und ein spektakulärer Blick über die Stadt. Ein goldener Schleier über den Dächern, Kirchen, deren Kuppeln schimmern wie pulsierende Herzen. In der Ferne hupende Autos, Rufe von Menschen, bellende Hunde. Eine Kirchenglocke wird geschlagen.
Die ersten Stunden in Cusco fühlen sich an wie ein zögerndes Erwachen. Der Kopf ist leicht, fast schwebend, der Körper träge. Jeder Atemzug verlangt Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erfüllt mich ein stilles Staunen: über die Klarheit des Lichts, die Nähe des Himmels, den Gedanken, dass man sich hier vielleicht den Göttern nähert, wenn es sie jemals gegeben hat – oder sich selbst. Vielleicht ist das der wichtigste Grund, hier zu sein. Göttern nahe zu sein. In der Höhe zu atmen, wirklich zu atmen.
Ich bekämpfe die Müdigkeit, indem ich meine Blicke wandern lasse, mit den Händen das glatte Geländer umklammere. Wer mag hier schon gestanden haben, welche Erinnerungen haben sich in das Holz gefressen? In meinem Zimmer riecht es nach Kalk, Kiefernharz und dem scharfen Geruch des Tees aus Koka-Blättern, der neben der Rezeption bereitstand.
Ich beschließe, einen Rundgang durch die Stadt zu machen, gehe langsam, fast tastend, durch die Straßen: Die Luft scheint zu flimmern, dabei ist es nicht übermäßig heiß. Jeder Atemzug ist zu leicht, zu dünn, um den Körper wirklich zu füllen. Ein Schritt die steilen Gassen hinauf genügt, um das Herz schneller schlagen zu lassen. Die Linien der alten Inka-Mauern schweben an mir vorbei, fugenlos, als hielten sie noch immer die Schwingung einer vergangenen Ordnung. Die Straßen riechen nach Erde, Metall und süßem Mais. Frauen in bunten Ponchos sitzen an den Ecken, vom Wetter und Leben gegerbte Gesichter, die Hände ruhig, geduldig. So geht man mit der Höhe um. Auf der Plaza de Armas jagen Kinder Tauben und Reisende aus allen Himmelsrichtungen fotografieren, als müssten sie sich vergewissern, dass dieser Ort wirklich existiert. Aus den offenen Türen der Kathedrale weht Orgelklang, vermischt mit dem fernen Hupen eines Taxis. In der Sonne scheint alles zugleich alt und neu – das Lächeln eines Kindes, die polierte Kante eines Steins, der seit Jahrhunderten dort lag. Ich esse eine Kleinigkeit, trinke Bier und Coca-Tee. Ceviche schmeckt hier noch besser als in Panama.
Meine Schritte sind schwer, als ich wieder zum Hotel zurücklaufe, der Schwindel bleibt, das Herz schlägt schneller und mein Körper will sich so weit es geht weiten. Abends verwandelt sich der Balkon in eine Bühne aus Schatten und Laternenlicht. Von unten dringen Stimmen und Musik herauf, während über den Ziegeldächern das Blau des Himmels in ein tiefes Violett übergeht. Ich schlafe tief, wache mit wirren Träumen auf. Diesmal begegne ich keinen Dämonen, stattdessen mir selbst, der atemlos durch ein Parkhaus läuft und nach seinem Wagen sucht. Es ist lange her, dass ich ein Auto besessen habe, einen alten Mercedes, silbermetallic, was sonst.
Den zweiten Tag verbringe ich still und bewege mich kaum, setze mich auf eine Bank im Garten des Koricancha, wo die fugenlosen Mauern der Sonne einst vergoldet waren. Zur Inkafestung schaffe ich es nicht, obwohl ich überlege, einen Uber zu bestellen. Ich suche nach Farben und muss keine Hotspots abarbeiten. Menschen kommen und gehen, flanieren an mir vorbei. Ich bekämpfe die Gedankenflut mit einem Nickerchen. Für mich ist die Zeit stehen geblieben – zwischen Himmel und Erde, Atem und Herzschlag. Keinerlei Träume begleiten mich. Ein gutes Gefühl.
Ich bin ein Influencer der langsamen Art, sagen manche, weil meine Clips weniger von Geschwindigkeit leben als von Stille. Vielleicht ist das der Grund, warum mich eine Umweltorganisation unterstützt – sie wollen Bilder im Übergang, Landschaften, die sich verändern, Orte, an denen der Klimawandel Linien zieht, die man früher nicht sah. Ich bin kein besonders guter Fotograf, interessiere mich kaum für die technische Seite, umso mehr jedoch für die Architektur des Bildes, für Licht und Perspektive. Deshalb krieche ich über die nackte Erde oder suche eine abgelegene Stelle oder klettere auf einen Baum. Von dort aus gestalte ich, was mein Instinkt vorgibt.
Aus den Recherchen der Organisation wusste ich, dass der Vinicunca erst seit wenigen Jahren sichtbar ist. Der Schnee hat sich zurückgezogen, und darunter sind Farben aufgetaucht, die mehr erzählen als die Statistiken. Ein Berg, der das Verborgene zeigt, ein Auftrag, der sich mit meinen Fragen überschneidet.
Das passte zu meiner Arbeit, aber ich wusste, dass ich dort nicht allein sein würde: ein Berg, der plötzlich berühmt wurde, zieht andere an wie ein Signalfeuer.
Ich habe nichts gegen Reisende, aber ich fürchte den Spiegel, den sie mir vorhalten. Viele von uns kommen freiwillig hierher, getragen von Sehnsucht, Neugier, Algorithmen. Und doch weiß ich, dass ich inmitten der Menge allein sein werde – allein mit einer Landschaft, die gerade erst begonnen hat, ihr Gesicht zu zeigen.
Ich schreibe ein paar Zeilen in das Notizbuch:
„Morgen breche ich auf, aber die Reise selbst hat längst begonnen. Ich habe eine Ahnung, was es heißt, dem Himmel nahe zu sein. Wo die Felsen unterschiedliche Farben aufweisen, wird die Luft noch dünner sein.“
Die Nacht bleibt leer und stumm.
Vinicunca
Der frühe Morgen beginnt wie ein Versprechen. Kaltes Licht liegt über den roten Ziegeldächern und die Stadt atmet langsam. Ich trete aus dem Innenhof des Hotels. Die dünne Luft drückt mir sanft gegen die Brust wie eine Hand.
Der Fahrer wartet bereits. Ein alter Toyota, staubig, die Scheiben leicht beschlagen.
„Quesiuno“, sagt er knapp. Der Name klingt nicht wie ein Ziel, eher wie eine Schwelle.
Die Fahrt führt heraus aus Cusco, vorbei an halbfertigen Mauern, bellenden Hunden. Mit jedem Kilometer weitet sich die Landschaft. Mit jedem Höhenmeter wird die Stille dichter.
Irgendwann, jenseits der letzten Dörfer, höre ich sie zum ersten Mal.
Nicht Stimmen im eigentlichen Sinn, ein Flüstern, Atemzüge, die in der Luft vibrieren. Ein Wispern, das sich in den Gräsern verfängt, über die Felsen streicht, ein Chor, der keine Menschen braucht, um gehört zu werden.
Der Fahrer bemerkt meine Blicke.
„Pachamama“, sagt er, ohne sich umzudrehen.
„Sie spricht mit uns.“
Ich nicke, obwohl ich nicht sicher bin, überhaupt etwas gehört zu haben, frage mich, ob die Höhe mit mir spielt, diese leichte, vibrierende Schwere,
die Cusco und die Andentäler mit einem unsichtbaren Schleier überzieht.
Wir erreichen Quesiuno am späten Vormittag.
Ein paar Häuser, ein paar Hühner, ein Stand mit Tee und Sandwiches.
Der Guide winkt uns zu, ein Mann mit ruhigen Bewegungen und einem Blick,
der den Himmel häufiger betrachtet hat als jede Straße.
„Heute steigen wir nur langsam“, sagt er. „Die Berge mögen keine Hast.“
Der Weg führt sanft bergauf, ein vom Schritt der Tiere und Menschen über Jahrhunderte geschaffener Pfad. Alpakas stehen auf den Hängen, reglos wie Skulpturen, ihr Fell leuchtet in der Sonne.
Mein Atem wird kürzer, die Farben der Umgebung intensiver.
Braun, Grün, Blau – alles schärfer, als hätte jemand den Kontrast überdreht.
Dann höre ich Schritte hinter uns. Erst leise, dann deutlicher – ein rhythmisches Knirschen von Schuhen auf trockenem Staub. Eine kleine Gruppe taucht auf: zwei junge Frauen, ein älteres Paar, ein Mann mit einem Kameragurt, den er wie eine Waffe trägt. Ihre Gesichter sind gerötet, aber sie lächeln, als hätten sie das Flimmern in der Luft bemerkt.
„Alles gut?“, fragt eine Frau mit Kopfband, nicht aus Höflichkeit, sondern aus dieser seltsamen Solidarität heraus, die zwischen Fremden in großer Höhe herrscht. Ich nicke. Der Guide antwortet für uns beide. „Wir sehen uns im Camp.“ Einen Moment schweigen alle. Dann gehen sie weiter, ein Stück vor uns, ihre farbigen Jacken wirken wie Tupfer im Braun und Blau der Hänge.
Der Mann mit dem Kameragurt dreht sich zu mir um, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwinden. Als hätte er etwas gehört, das man nicht auf Bildern festhalten kann. Vielleicht dieselben Stimmen wie ich.
Am Nachmittag erreichen wir das Camp. Die Zelte verstreut auf ebenem Gelände mit verstreuten Findlingen. Dazwischen niedrige Tola-Büsche, die sich an den Stein klammern. An manchen Stellen einzelne Yareta, knallgrünes Moos, steinhart, obwohl es wie ein Polster wirkt.
Nach und nach versinkt das Licht hinter den Bergen. Wir bauen das Zelt auf, zünden ein Feuer an, schweigen, essen Proteinriegel und eine warme Suppe aus der Thermoskanne. Wie alle anderen, die in Sichtweite campen. Die Leute, die ich hier treffen wollte, sind nicht aufgetaucht. Ich brauche sie nicht, bin mir schon lange selbst genug. Deshalb suche ich auch den Mann mit der Kamera nicht. Freundschaft persönlicher Art wird völlig überschätzt. Die Temperatur fällt und das Wunder der Sterne lässt sich beinahe greifen, so nah der Himmel. Nicht als einfaches Blinken am Firmament, eher wie ein schlagendes Herz. Darunter absolute Dunkelheit.
Der Guide setzt sich neben mich. Wir schauen gemeinsam in die Weite. Die Augen fallen mir zu. Ich schaffe es mit knapper Not ins Zelt. Wilde Träume und Stimmen, die mir etwas sagen wollen, die wieder und wieder dasselbe erzählen, ohne dass ich ein einziges Wort verstehe. Ich wälze mich im Schlafsack hin und her und warte auf den Dämon, der mich gefangen nimmt. Ich frage mich, warum ich reise, ob ich fliehe, warum ich fotografiere, was ich über meine Follower weiß und was echte Freunde sind, ob ich überhaupt welche habe.
Am frühen Morgen wache ich auf. Kälte drückt auf Haut und Knochen, kriecht mitten durch meinen Körper. Ich zittere. Die Sonne zeigt sich rosa und zart und diesmal verstehe ich einen Teil des Flüsterns.
„Schau genau hin! Warum siehst du die Farben? Was bedeuten die Farben, was dieser Berg?“
Ich verstehe die Bedeutung nicht, versuche die anderen Stimmen zu entschlüsseln. Es gelingt mir nicht. Raunen im Wind.
Die Schönheit des Morgens überwältigt mich. Instinktiv nehme ich meine Kamera in die Hand. Klick, klick. Ich spüre, dass es falsch ist, dass ich die Augen aufmachen, die Ohren spitzen, das Herz öffnen muss, mehr nicht.
Pedro setzt sich neben mich.
„Die Pachamama“, sagt er und macht eine ausladende Geste.
„spricht mit uns.“
„Ich verstehe die Worte nicht.“
„Das musst du gar nicht.“ Er reicht mir eine Tasse heißen Coca-Tees.
„Langsam trinken“, sagt er.
Das Hochland liegt still vor mir, der Boden hart, staubtrocken, voller Risse und Linien.
Wir packen zusammen und setzen den Weg fort. Der Pfad zieht sich wie eine schmale Narbe durch die Landschaft, gezeichnet von Hufen, Füßen, Jahrhunderten. Die Stimmen rauschen leise, kaum hörbar. Irgendwo in mir beginnt etwas zu arbeiten. All die Städte, Orte, Berge und Seen, all die Seen und Meere ziehen in einem endlosen Strom an mir vorbei. All die Bedeutungslosigkeit des Instagram-Glanzes. Hier oben wirkt all das weit entfernt, lächerlich. Ausgedünntes Bewusstsein. Überflüssiges fällt von mir ab.
Übrig bleibt Klarheit, roh und ungezähmt – und ein leises Staunen. Nach einer Weile erreichen wir ein Plateau, das wie eine vergessene Bühne wirkt, ein dunkler, fast schwarzer See; Gletscherzungen schimmern in der Ferne. Als wir die letzten Kurven nehmen, verändert sich das Licht. Es kippt von Grau zu einem metallischen Glanz, der die Schatten löscht. Die Berghänge wie Haut, die in Schichten atmet. Rot. Grün. Ocker. Ich denke an oxidiertes Eisen, Kupfer, Schwefel – und an etwas anderes, das ich nicht zu benennen vermag. Ich schieße endlos viele Fotos, ohne dass ich das greifen könnte, was sich vor mir ausbreitet.
Als wir das letzte Stück des Weges zurücklegen, spüre ich die Erschöpfung wie eine zweite Haut. Die dünne Luft legt sich auf meine Schultern, jeder Schritt wird breiter, dumpfer. Im Camp sinke ich auf die Matte. Der Guide stellt mir noch eine Tasse Tee hin, ich trinke ein wenig, sauge die Wärme auf. Ich höre noch Stimmen, Schritte, das Rascheln von Stoff. Dann nichts mehr. Ich lege mich hin, schließe die Augen, falle, falle in tiefen Schlaf.
Ich weiß nicht mehr, wann und warum ich aufgestanden und losgezogen bin. Vielleicht war es der Wind, der sich verändert hatte, tiefer, fast wie ein Atemzug des Berges selbst. Die Dunkelheit hing schwer über dem Hochplateau, der Mond war ein dünner Strich am Himmel. Wohin meine Füße mich tragen.
Ich erinnere mich an das Knistern kleiner Steine unter meinen Schuhen. An den metallischen Geschmack der Höhe auf meiner Zunge. An das Gefühl, nicht ganz in meinem Körper zu sein, sondern einen Schritt daneben, als würde jemand anders über das Ziel entscheiden. Der Pfad gleicht einer hellen Ader zwischen den Schatten. Ich folge ihm. Irgendwann höre ich etwas – ein leises Pfeifen, als rufe mich jemand. Ich bleibe stehen, schwanke, die Kälte beißt. Meine Stirn brennt. Ich schaue mich um, aber es ist niemand da. Ich glaube zu fallen. Gehe weiter, weiter. Der Abhang rechts von mir ist schwarz wie ein offener Mund. Links ragen Findlinge wie gebogene Rücken aus dem Boden, und zwischen ihnen wächst niedriges Buschwerk, das in der Nacht aussieht, als bewege es sich.
Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin und wie ich zurückgekommen bin. Ich erkenne das silbrige Zelt. Die dunklen Schatten der anderen Schlafsäcke. Ein leises Murmeln aus dem großen Küchenzelt. Und die Schritte des Guides, der sich gerade umdreht.
„Miro?“, sagt er scharf. „Wo warst du? Ich wollte schon los und dich suchen.“
Ich hebe den Kopf, als würde es helfen, eine Antwort zu finden. Aber es gibt keine.
„Ich… wollte… raus“, sage ich – und weiß im gleichen Moment, dass es nicht stimmt.
Er mustert mich. Dann nickt er kurz, als wolle er die Situation nicht größer machen als nötig.
„Geh schlafen“, sagt er. „Morgen wird ein langer Tag.“
Ich krieche ins Zelt, die Finger klamm, die Stirn heiß, das Herz schnell. Und während ich mich in den Schlafsack schiebe, habe ich das Gefühl, dass draußen etwas passiert ist. Etwas, das in der Dunkelheit geblieben ist.
Am letzten Morgen folge ich dem Guide unaufmerksam, müde, ausgelaugt. Jeder Schritt zieht durch die Waden.
Irgendwann sehe ich ein Stück abseits des schmalen Pfades unvermittelt eine Frau stehen. Unklar, woher sie kommt. Beinahe, als hätte die Erde sie eben erst freigegeben. Eine kleine Gestalt, in mehrere Tücher gehüllt, das Gesicht dunkel vom Wind, von der Sonne, vom Alter vielleicht. Augen klar wie ein Bergsee.
Pedro bleibt stehen, zögert und neigt kurz den Kopf. Die Frau fixiert mich, beachtet den Guide überhaupt nicht.
„Du warst in der Nacht draußen“, sagt sie.
Eine leise Stimme, die ich mehr im Bauch als im Ohr spüre. Ich will etwas antworten, vermag es aber nicht. Sie tritt einen halben Schritt näher, bleibt aber außerhalb meiner Reichweite. In ihrer Hand hält sie etwas, das wie eine kleine Schale aussieht. Darin glimmt dunkle Asche, ohne dass Rauch aufsteigt.
„Der Berg öffnet nachts manchmal sein verletztes Herz“, sagt sie. „Die Pachamama zeigt sich nicht jedem.“
Ein Windstoß fährt durch die Steine am Wegesrand. Irgendwo klirrt loses Gestein.
„Wer zuhört, versteht“, fügt sie hinzu.
Mein Herz schlägt schneller, als es sollte. Nicht aus Angst. Eher wie nach einem Lauf. Die Frau hebt die Schale ein wenig an, als würde sie etwas prüfen, das wir nicht sehen können. Dann senkt sie den Blick.
„Heute ist ein stiller Tag“, sagt sie.
Der Guide räuspert sich.
Die Frau tritt zurück. Ein Schritt. Noch einen. Wind bläst an der Stelle, wo sie eben noch stand.
Pedro sagt: „Wir müssen weiter.“
Etwas in mir bleibt zurück.
Ich folge ihm dennoch. Erst zögernd, dann Schritt für Schritt. Der Weg nimmt uns auf wie etwas Vertrautes. Die Steine unter den Sohlen strahlen Kälte ab. Der Wind greift mir noch einmal in den Nacken. Als ich mich umdrehe, ist von der Frau nichts mehr zu sehen. Geröll. Licht. Sonst nichts.
Wir erreichen den Wagen schweigend. Pedro startet den Motor nicht gleich, als wolle er etwas sagen, schaut mir in die Augen. Der Motor springt an. Die Straße windet sich ins Tal. Staub liegt auf der Scheibe, auf meinen Gedanken. Ich sehe die Farben, wenn ich die Augen schließe. Mein Körper ist müde, der Geist geschärft. Unruhe.
Pedro fährt ohne Eile. Cusco kommt als Geräusch näher, lange bevor die Stadt sichtbar wird. Stimmen. Motoren. Bewegung. Händler rufen, Mopeds knattern durch die Gassen.
Zum Abschied zieht er mich kurz an sich. Eine schlichte, feste Umarmung, ohne Erklärung. Es ist alles gesagt.
Cusco
Später stehe ich wieder auf dem Balkon des El Balcón, den Blick auf die Stadt gerichtet, die nichts von mir weiß und mich doch empfängt, als wäre ich nie weg gewesen.
Die Kamera liegt im Zimmer auf dem Tisch zwischen Wasserglas und Notizbuch. Der Akku ist fast leer. Ich schalte sie nicht mehr ein.
Unten auf der Plaza kreisen Tauben. Händler bauen ihre Stände ab. Ein Junge lässt einen Drachen steigen, der im Abendwind taumelt, sich fängt, wieder verliert. Ich lehne mich gegen das Geländer.
In mir rauscht der Berg. Ein Nachhall, ein fernes Dröhnen unter der Haut. Die Nacht. Das verletzte Herz im Fels. Es ist alles da, ohne dass ich es greifen könnte.
Ich schlage das Notizbuch auf. Die letzte Seite ist leer.
Lange zögere ich, wäge die Worte. Schließlich schreibe ich:
„Ich habe gesehen, was kein Bild festhalten kann.“
Ich klappe das Buch zu.
Als ich den Blick noch einmal über die Plaza schweifen lasse, bilde ich mir für einen Augenblick ein, am Rand des Schattens unter den Arkaden die Silhouette einer kleinen, in Tücher gehüllten Gestalt zu erkennen. Ein Flackern. Ein Schatten, der sich löst. Als ich genauer hinschaue, ist da nichts mehr.
Das Handy vibriert. Drei Nachrichten. Ein Ping. Ein Herzchen. Jemand fragt, wann die Fotos kommen. Ich drehe das Display nach unten.
Die Stadt wird dunkler. Lichter gehen an. Der Himmel über Cusco färbt sich tiefviolett. Irgendwo schlägt eine Glocke.
Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, nichts mehr beweisen zu müssen. Keinen Ort. Kein Bild. Mich selbst nicht.
Der Berg bleibt dort oben. Und etwas von mir bleibt bei ihm.