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Die Tür

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31.01.2008
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Die Tür

Freitag, 1. Januar
Er starrte in den Spiegel. Ausdruckslos, in Gedanken versunken.
Würde man es ihm ansehen? So ein Blödsinn, natürlich nicht. Oder vielleicht doch? Was hatte er nur getan! Würde man ihm auf die Schliche kommen? Natürlich würde man das, früher oder später. Vielleicht sollte er einfach abhauen, bevor es dazu kam. „Abhauen, du?! Ha, dafür bist du doch viel zu feige!“, lachte er sich aus. „Das hat er schon immer gewusst und er hatte recht damit – wie mit so vielem, vor allem, was dich betraf. Aber jetzt ist das vorbei.“ Draußen von der Straße erklang das Geheul einer Sirene und er zuckte zusammen. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er bereits mehrere Minuten vergangen waren. Trotzdem betrachtete er sich noch einmal, untersuchte sein Gesicht ganz genau. Sah man es ihm an? Nein, natürlich nicht. Aber war da nicht dieses verräterische Zucken um die Mundwinkel, dieses unheimliche Leuchten in den Augen? Man würde es ihm ansehen, ganz sicher. Und selbst wenn nicht würde man ihm irgendwann auf die Schliche kommen und er saß dann einfach noch hier und wartete. Wartete worauf? Dass er aufwachen würde und alles nur ein Traum war? Dass er den Mut finden würde, hier endlich abzuhauen? Blödsinn. „Da kommst du nicht mehr raus, du bist am Ende!“ Mit diesen Worten löste er sich von dem Spiegel, überquerte mit schnellen Schritten den Flur, wobei er absichtlich einen Blick zu dessen rechtem Ende vermied, schlüpfte in seine Schuhe, streifte schnell seine Jacke über und verlies das Haus. Die erhoffte Erleichterung wollte sich nicht einstellen nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Trotzdem, er würde seinen Plan durchführen wie geplant, das zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Diesmal würde er es schaffen. Oder nicht?

Als er abends nach Hause kam und die Haustür hinter sich zugezogen hatte, verharrte er im Flur. Teil eins und zwei waren erledigt, jetzt hatte er bis Montag Morgen Zeit für den Rest. Das war zu schaffen. Er drehte sich nach links und starrte den Flur hinauf. Er versuchte, einen Schritt in die Richtung zu machen, aber er konnte es nicht, noch nicht. Vielleicht half es, wenn er sich ein wenig Mut antrank. Er lies sich im Wohnzimmer in einen Sessel sinken – unbewusst vermied er es, seinen Sessel zu nehmen – und goss sich etwas von einem billigen Rotwein in ein schmutziges Glas und schüttete es sofort hinunter. Ein zweites und ein drittes folgten. Beim vierten Glas hielt er inne, starrte in die trübe Flüssigkeit und hing seinen Gedanken nach.

Samstag, 2. Januar
Stunden später wachte er schweißgebadet auf. Er hatte mal wieder vom Keller geträumt. Er hatte ihn früher immer dort eingeschlossen. Manchmal, weil er etwas angestellt hatte, manchmal auch einfach so, aus purer Bosheit. Manchmal nur für ein paar Stunden, öfter für die ganze Nacht. Zu Beginn hatte er immer aus Wut und Protest und letztlich aus Verzweiflung gegen die Tür gehämmert bis er seine Hände nicht mehr spürte und an ihr gekratzt bis seine Finger bluteten. Dann hatte er irgendwann aufgegeben, sich wimmernd zu Boden sinken lassen, seinen Kopf gegen die Tür gelehnt und war schließlich vor Kälte zitternd in dieser Position eingeschlafen. Wenn er dann wieder herausgelassen worden war, schwieg er für den Rest des Tages und bis heute quälten ihn deswegen Albträume. Von Ratten, die mit ihren winzigen Füßchen über ihn trippelten. Von handtellergroßen Spinnen, die ihm über das Gesicht huschten. Und vor allem von dunklen, unheimlichen Gestalten, die sich in den undurchdringlichen Schatten des abgesehen von einem schmalen Streifen zur Belüftung fensterlosen Raumes verbargen und ihn wispernd belauerten und dabei ihre blutrünstigen Zähne bleckten. Auch wenn er wusste, dass dies alles nur der Phantasie eines verängstigten Kindes entsprungen war, bei diesen Träumen stellten sich ihm auch heute noch alle Nackenhaare auf.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Er war für mehr als ein paar Sekunden eingenickt und hinkte nun seinem Zeitplan hinterher. Gerade wollte er sich aufrichten, als sein Blick auf einen roten Fleck auf dem Teppich fiel und ihm das Blut in den Adern gefrieren lies. Nein, das konnte nicht sein. Das war sicher nur Einbildung. Oder gehörte noch zu seinem Traum. Langsam, wie in Zeitlupe, erhob er sich von seinem Sessel und berührte den Fleck vorsichtig mit einem Finger. Er war noch feucht. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn und er war kurz davor, in Panik zu verfallen, als sein Blick auf das Glas am Boden fiel. Es war ihm wohl im Schlaf aus der Hand geglitten und hatte den Teppich mit Wein getränkt.
Erleichtert atmete er auf und sammelte sich, um mit Teil zwei zu beginnen. Sicherlich, diese Sache und der Traum waren dabei nicht förderlich, aber er musste da durch, ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Er atmete noch einmal tief durch, schüttelte die düsteren Erinnerungen ab und betrat den Flur. Langsam wandte er sich nach rechts. Dann ging er los, anfangs zögerlich, dann immer schneller, bis er schließlich an dessen äußerstem Ende angelangt war. Dort war sie. Die Tür. Die Tür, hinter der sich all seine Ängste verbargen, vergangene und gegenwärtige. In diesem Fall besonders gegenwärtige. Sein Herz raste, als er die Tür betrachtete und es schien ihm, als sei sie gewachsen. Sie war aus dunklem, massiven Eichenholz, an der oberen und unteren Seite mit Eisenbeschlägen gestärkt. Sie war wahrscheinlich die stabilste Tür des gesamten Hauses, inklusive der Eingangstür. Er hatte sich schon immer gefragt, was wohl der Grund dafür war, aber ob sich der Erbauer des Hauses etwas dabei gedacht hatte oder nicht, es war schon längst in Vergessenheit geraten. Was nicht in Vergessenheit geraten war, waren seine Ängste. Und so sehr er sich auch anstrengte, er war einfach nicht in der Lage, sie zu überwinden, im Gegenteil. Sie schienen zu wachsen, je mehr er sich gegen sie sträubte. Hatte er etwa recht gehabt? Würde er letzten Endes gewinnen? Nein, das durfte und konnte er nicht zulassen. Er riss sich zusammen, legte die Hand auf den Kauf und drehte ihn leicht, zuckte dann aber plötzlich zurück. Es ging einfach nicht. Seine Hand zitterte und Tränen traten ihm in die Augen. Es musste einfach klappen, daran konnte es jetzt doch nicht scheitern, er war doch schon so weit gekommen! Warum musste er auch diesen Raum wählen? Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte er geglaubt, es würde eine Genugtuung für ihn sein, eine Art Rache dafür, dass er ihn dort immer eingesperrt hatte? Stattdessen hatte er sich damit eine Falle gestellt, aus der es wohl keinen Ausweg mehr gab. Je länger er die Tür anstarrte, desto größer wurde sie, schien ihn auszulachen und zu verhöhnen. Was für ein Feigling er doch war! Er hatte sich zu dem ersten Schritt überwunden, doch nun würde alles an einer Tür scheitern, einer einfachen, blöden Tür. „Nein!“, schrie er, mittlerweile aus Wut und Scham tränenüberströmt. Er ergriff zitternd den Knauf und drehte ihn, erst ein kleines Stück, dann immer weiter, bis das Schloss leise knackte. Vorsichtig zog er an der Tür, um sie zu öffnen. Doch nichts rührte sich, die Tür klemmte. „Nein“, hauchte er schweißgebadet, „Nein, das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein!“ Er begann an ihr zu rütteln, doch nichts tat sich. Es schien ihm, als hörte er ein Lachen, von der Tür, von ihm. Alles, alles war um sonst gewesen. Alles war vorbei. Es war zu spät. Nichts würde ihm jetzt noch helfen können. Er würde recht behalten, er war ein Verlierer. Er würde Recht behalten, wie immer. Er würde Recht behalten.

Sonntag Morgen
„Und, was meinen Sie, Schmidt?“ fragte Lohser und schob seine Polizeimütze in den Nacken. „Eindeutig Selbstmord. Er ist seit etwa sechs Stunden tot, stranguliert“, entgegnete der Gerichtsmediziner mit einem Seufzer. „Und der Vater im Keller?“ „Erschossen. Wenn ich die kühlende Funktion des Kellers mit einberechne, wahrscheinlich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.“ „Das würde zumindest erklären, warum niemand den Schuss gehört hat…“

 

Moin,

Ich habe Deine Geschichte nun zweimal gelesen und weiß immer noch nicht, ob ich sie mag oder nicht. Ich weiß noch nicht mal, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist *grins*

Was mir an Deiner Geschichte gut gefallen hat, war die Beschreibung des Kellers. Auch die Wendung mit dem Rotwein/Blut fand ich sehr gelungen. Im übrigen fand ich es sehr schön, dass Du Dich nicht mit langen Beschreibungen von Alter, Aussehen und Ambiente aufgehalten hast :-) (Nein, das ist keine Ironie. Ich finde das das die Teile sind, die aus den meisten Kurzgeschichten gut gestrichen werden können, außer sie sind für die Handlung, die Entwicklung der Charaktere oder das stimmliche Setting wirklich wichtig.) Ohnehin fand ich die Geschichte gut lesebar.

Weniger begeistert haben mich die Fragen in Deinen inneren Monolagen. Mir ist schon klar, dass sie die innere Zerrissenheit des „Helden“ zeigen sollen; ich weiß auch, dass sie ein beliebtes Stilmittel sind. Und doch ... Ich glaube, dass Menschen, die sehr an sich zweifeln, sich nicht die Frage stellen, ob sie dumm, hässlich oder anders sind. Sie sind davon überzeugt.

Auch ich würde Dir sehr raten, mit den Adjektiven etwas vorsichtiger zu sein – zum Beispiel: warum muss es „billiger“ Rotwein in einem „schmutzigem“ Glas sein?

Dann wirkte Deine Geschichte etwas zerrissen auf mich. Er geht Freitagmorgens aus dem Haus. Warum? Dann sind Teil eins und zwei erledigt – wenn der Tod seines Vaters Teil eins war, was ist dann Teil zwei? Oder habe ich was überlesen?
Und wieso ist Sonntagmorgen schon die Polizei im Haus? So einsam, wie Du ihn schilderst, kann er nach sechs Stunden noch nicht vermisst worden sein. Von wem denn auch? Und Krach, der jemanden auf etwas aufmerksam gemacht haben kann, gab es auch nicht.

Den Polizeibeamten fand ich ohnehin etwas strange ... bei Tötungsdelikten wird die Kriminalpolizei gerufen. Das sind jedoch Beamte in Zivil. Also nix mit Mütze ;->

Wohlbehütete Grüße
Lola

 

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