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Die Türschwelle
Schwer atmend liege ich auf diesem schlammigen Boden, ich spüre wie die Feuchtigkeit von meinem Hemd aufgesaugt wird, wie meine Augenlider schwer werden, ich sehe wie der Himmel dunkler wird und etwas sich nähert, denn ich kann die näher kommenden Schritte hören. Mein Rücken wird kalt, mein Brustkorb hebt und senkt sich und obwohl ich Angst habe erhebe ich mich nicht.
Kann es hierher kommen?, schießt es mir durch den Kopf. Unmöglich.
Die Sterne funkeln am Himmel als würde nichts geschehen, der Mond scheint herab und beleuchtet mich und diese schwache, kühle Brise lässt mich erzittern.
Ich muss aufstehen. Ich muss fliehen! Ich muss entkommen!
Die vielen Bäume um mich herum rascheln, so als würden sie vor Angst zittern.
Diese Schritte.
„Ich hätte gerne ein Zimmer“, erläuterte ich der Dame an der Rezeption des namenlosen Hotels. „Wenn es geht so weit oben wie möglich.“
Sie antwortete nicht. Das einzige was ich bekam war ein Nicken, um mir zu zeigen, dass sie es verstanden hatte und versuchte meinen Wunsch zu erfüllen. Ihre goldblonden Haare lagen lockig auf ihren Schultern und mit ihren wunderbar blauen Augen war sie auf den Computerbildschirm fixiert, was sie nachdenklich aussehen ließ, sodass ein schönes, gemütliches Bild entstand. Insgesamt war es ein eher altertümlich eingerichtetes Hotel, bis auf den Computer vor meiner Nase. Hinter der Rezeptionslady hingen einzelne Schlüssel zusammen mit kleinen Schildchen, auf denen Nummern zu lesen waren, an kleinen Haken, darüber standen mehrere Bücher mit goldener Aufschrift in einem kleinen Regal, anscheinend waren sie alphabetisch sortiert, allerdings waren nur Titel und keine Autoren darauf zu erkennen: Anatomie eines Menschen, (mein persönlicher Favorit) Der Schlachter von nebenan, Forensische Psychologie und Serienkiller des 17. Jahrhunderts. An der Decke, direkt über mir, hing ein kristallener Kronleuchter, der Juwel dieses Foyers.
Die Frau blickte auf. Mein Blick wanderte nach unten. Eingehend betrachtete ich die Rückseite des Computermonitors. Dann musterte ich die Rezeptionsfrau noch einmal. Zuerst fiel mir auf, dass sie kein Namensschild und dann, dass sie keinen BH trug. Ihr anscheinend selbst gestickter Pullover passte außerordentlich gut zu ihrer Figur, was bei einigen anderen Frauen nicht der Fall gewesen wäre. Ihre vom Stoff überdeckten Nippel schienen mich anzustarren. Schließlich brachte ich es zustande meine Augen ihrem lächelnden Gesicht zu widmen. Im ersten Moment wartete ich darauf, dass sie etwas sagen würde, doch sie hielt mir einen Schlüssel hin, den ich lächelnd entgegennahm. Sie sagte nichts.
Meine Zimmernummer war 315. Drittes Stockwerk, fünfzehntes Zimmer.
„Dankeschön“, sagte ich abschließend und drehte mich mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend um. Drei dunkelblaue, leere Sessel, die um einen runden Holztisch herum gestellt wurden, befanden sich in der linken Ecke des Raums, der Teppich in der Mitte war ein ausgefranster, mit Schnörkeln verzierter Staubfänger und die Tapeten schienen zu schreien: „Entfernt uns!“
Ich drehte mich nach rechts, sah nochmals zur Rezeptionsdame, die lächelnd dastand, und ging dann in Richtung Treppen.
Kein Aufzug, der einzige, mit Strom betriebene Apparat war dieser dämliche Computer.
Die Schritte kommen näher, mein Herz schlägt schneller, meine Atmung wird schwerfälliger und die Brise entwickelt sich langsam zu einem Wind.
Wäre ich bloß zu Hause geblieben.
Ich will aufstehen, kann aber nicht. Meine Arme und Beine wollen sich nicht bewegen. Die Schritte hören sich an, als würde man mit einer Saugglocke am Abflussrohr hantieren.
Dritter Stock. Mein Zimmer mit der Nummer 315.
Der Schlüssel klimperte leise in meiner Hand, bevor ich ihn ins Schloss steckte und die Tür öffnete. Der Geruch, der zeigte, dass dieses Zimmer schon lange Zeit nicht mehr verwendet wurde, kam mir entgegen. Ohne Gepäck zu reisen war doch keine überaus kluge Idee gewesen, meine Kleidung stank inzwischen bis zum Himmel. Die armen Engel.
Ich ging über die Schwelle hinein in das Zimmer und schloss hinter mir die Tür. Ein letztes Klick und das einzige Licht kam durch das winzige Fenster neben dem Bett. Inzwischen war die Sonne auf der einen Seite hinter dem Horizont verschwunden und auf der anderen der Mond hervorgekommen.
Langsam zog ich meine Schuhe aus, stellte sie vor die Tür und ließ mich in das Bett fallen. Eine Menge Staub wirbelte auf, aber ich war so müde. So müde…
Wäre ich bloß nie eingetreten, tadele ich mich gedanklich. Wäre ich bloß draußen geblieben und hätte meine Neugierde unterbunden! Ich Vollidiot!
Der Wind kommt mir inzwischen vor wie ein Sturm. Ich liege bewegungslos im Dreck und blicke hinauf zum Himmel.
Die Schritte… Ein Schatten legt sich über mich.
Es war immer noch dunkel als ich erwachte. Entweder hatte ich den Rest der Nacht und den ganzen Tag bis in die Nacht geschlafen oder ich hatte mich nur einigen Stunden meinen Träumen hingegeben. Ich schwang meine Beine über die Bettkante und begutachtete erst einmal das Zimmer im Mondschein. Keine Nachttischlampe, kein Wecker, keine Uhr (Oh, Gott!), ein Kleiderschrank, vielleicht einen Meter breit, das winzige Fenster und ein Bild. Eher ein Porträt. Eine Frau mit grauen Haaren, aber wunderschön jugendlichem Gesicht, blauen Augen und einem glücklichen Lächeln. Im Hintergrund war ein Wald von dem aus eine Rauchwolke aufstieg. Es schien eine apokalyptische Version von Mona Lisas Lächeln zu sein.
Inzwischen hatte ich mich an den Geruch der Nichtverwendung dieses Zimmers gewöhnt und nahm ihn nicht einmal mehr wahr. Immer wieder dachte ich an die stumme Rezeptionslady.
Knock, knock, knock!
Erschrocken fuhr ich herum. Starke Schläge gegen meine Zimmertür, sodass sie in den Angeln vibrierte.
Langsam begab ich mich zur Tür, schlüpfte in meine davor stehenden Schuhe und drückte die Klinke nach unten. Erst öffnete ich nur einen Spalt breit, um zu sehen, wer es war, aber als da niemand stand, zog ich die Tür ganz auf und spähte in den Gang hinaus.
Niemand.
Ein unwohles Gefühl breitete sich in mir aus. Zuerst sah ich nach rechts, dann nach links. Nichts.
Die Zimmertür gegenüber von meinem Zimmer, Nummer 314, war einen winzigen Spalt geöffnet, lehnte nur an den Türrahmen. Ich runzelte einen Moment die Stirn und entspannte mich dann wieder.
Eine Familie hat sich das Zimmer gegenüber gemietet und ein kleines Kind hat mir einen Streich gespielt, dachte ich.
Also trat ich aus meinem Zimmer heraus und stand nun auf dem Flur. Da ich meinen Schlüssel im Zimmer auf dem Bett liegen hatte, lehnte ich meine Tür auch nur an.
Ich ging hinüber und drückte mit den Fingerspitzen leicht gegen das Türschloss, woraufhin die Tür quietschend aufging. Aus diesem Zimmer kam nicht der mir bekannte Geruch von alt.
Auch in diesem Raum gab es nur das schwache Licht der Sterne und des Mondes. Ich sah mich um. Niemand da. Neben dem Bett stand etwas. Es sah aus wie ein Schlafsack.
„Hallo“, sagte eine Kinderstimme hinter mir. Ich drehte mich, etwas verunsichert durch das plötzliche Auftauchen, um. Es war ein kleines, blondes, blauäugiges Mädchen. Sie trug einen roten Regenmantel und hellbraune Handschuhe.
„Hallo“, erwiderte ich. Insgeheim freute ich mich endlich wieder eine menschliche Stimme zu hören. „Hast du an mein Zimmer geklopft?“ Ich versuchte zutraulich zu wirken und sie nicht zu verängstigen.
Sie nickte eifrig. Ihre Haare flogen herum und ihr Grinsen wurde breiter.
„Bist du alleine hier?“, fragte ich.
Sie schüttelte heftig den Kopf und grinste mich weiterhin an, als wäre ich ein Clown der sie in die Manege gebeten hatte.
„Mit wem bist du hier?“
„Mit meinem Vater“, flüsterte sie in verschwörerischem Tonfall. Auf irgendeine Weise kam mir diese Situation unreal vor, wie in einem echt wirkenden Traum. „Soll ich ihn holen? Warten Sie hier.“
Ohne dass ich die Möglichkeit hatte etwas zu erwidern, war das Mädchen verschwunden, um ihren Vater zu holen. Die Tür flog knallend zu. Ich sah hinüber zum Fenster und fragte mich, was dies für ein eigenartiges Hotel war.
Ich wurde unruhig. Seit ungefähr zehn Minuten wartete ich nun schon auf das Mädchen und ihren Vater. Zimmer 314 schien genau das selbe Mobiliar zu haben wie 315. Der einzige Unterschied war die Landschaft, die man durch dieses Fenster sah. Eine riesige Fläche Grün. Grün, Grün, Grün. Keine Bäume, nur eine riesengroße Steppe. Ich ging um das Bett herum und stellte mich vor das Fenster. Ein wunderschöner Ausblick. Keine Wolkenkratzer, Autos, Straßen, Ampeln und Menschenmassen. Nur eine grüne, endlose Steppe.
Die Zeit verging und das Mädchen tauchte nicht auf. Wieder ging ich um das Bett herum und wollte das Zimmer verlassen, als mir eine Veränderung ins Auge viel: Der Schlafsack war verschwunden. Fragezeichen sammelten sich in meinem Kopf an wie Wasser in einem Staudamm.
Achselzuckend ging ich weiter, an dem Porträt vorbei. Ich legte meine Hand auf die Türklinke und drückte sie runter. Noch ein letztes mal sah ich mich um und zog dann an der Tür.
Sie öffnete sich nicht, war verschlossen.
Wie ist das möglich? Verdammt!, fluchte ich in Gedanken.
Nach weiteren vergeblichen Öffnungsversuchen kapitulierte ich und drehte mich schnaufend um. Die Wände schienen länger zu werden, sich auseinander zu ziehen. Die Decke schob sich nach oben, das Lächeln der grauhaarigen Dame auf dem Porträt verwandelte sich in das Grinsen eines Totenschädels und das Licht vor dem Fenster schien sich zu verändern, es wurde fast phosphoreszierend.
Was zur Hölle passiert hier?!, meinte ich zu schreien, aber kein Ton entrang meinem Mund.
Ich drehte mich um, umklammerte mit beiden Händen die Türklinke und zog mit aller Kraft. Nichts tat sich. Mit dem linken Fuß stützte ich gegen die Wand, drückte und zog gleichzeitig, aber nichts.
Mein Gott!
Eine unsichtbare Hand schien an diesem ein Meter breiten Kleiderschrank zu rütteln. Polternd entfernte er sich von der Wand und kam drohend auf mich zu. Schweißtropfen rannen meine Schläfen hinab. Ich hatte Angst. Todesangst. Ich spürte, wie sich die Türklinke lockerte. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war: Heilige Scheiße!
Die Kleiderschranktüren sprangen auf und eine schwarze, faltige, von Adern und Schnitten verschandelte Hand mit langen Fingernägeln kam zum Vorschein, als wolle etwas heraus kriechen.
Ich begann mich zu bewegen, rannte durch das verlängerte Zimmer und fummelte am Fenstergriff herum. Er ließ sich nicht drehen, nicht bewegen.
Scheiße!
Inzwischen war ein ganzer Arm der schwarzen Kreatur sichtbar geworden.
Ich ging einige Schritte zurück und rannte auf das Fenster zu. Bevor ich schmerzhaft das Glas durchbrach und drei Stockwerke in die Tiefe stürzte, erkannte ich die veränderte, waldige Landschaft.
Schaudernd lausche ich dem näher kommenden Etwas. Die sich am schlammigen Boden festsaugenden Schritte sind verstummt, der mondverdeckende Körper steht neben mir, aber dennoch so weit entfernt, dass ich ihn nicht erkennen kann.
„Junge, Junge“, höre ich eine Altmännerstimme sagen, „was’n mit dir passiert?“
Irritiert blinzele ich und versuche erneut meine Hände zu bewegen, aber es funktioniert nicht, meine Motorik scheint ausgeschaltet worden zu sein.
„Komm schon, Onkel Birne hilft dir rauf“, verkündet die Gestalt. Ich spüre wie sich eine Hand unter meine rechte Schulter schiebt und eine weitere sich um mein Genick legt. Vorsichtig werde ich hoch gehievt. „Kanns’n du dich nich’ beweg’n?“
Außerstande ein Wort zu sagen betrachte ich den Waldrand, der vor mir sichtbar wird, während der alte Mann mich aufrichtet.
Wald?, geht es mir durch den Kopf. Nun sitze ich im Schlamm. Knack. Etwas scheint sich in meinem Genick gelöst zu haben. Ich versuche meinen Kopf zu drehen. Es klappt. Um mich herum befindet sich nur Wald, aber kein Hotelgebäude.
„Du bis’ wohl ausgerutscht“, bemerkt der alte Mann und sieht mich lächelnd an. Ich blicke in sein faltiges, sorgenvolles Gesicht. „Bis’ wohl schon ’ne ganze Weile hier rumgeleg’n. Zum Glück bin ich hier heut’ Nacht noch vorbeigekomm’n, sons’ würdest du morgen noch hier rumlieg’n.“
„Wo bin ich?“, höre ich mich fragen, ohne zu wissen, dass ich meinen Mund bewegt habe.
„Na, wo’n wohl? Auf mei’m Land! Du komms’ nich’ von hier, hab’ ich Recht?“
„Ja, ich komme aus West Virginia.“
„Hm. Seltsamer Name für’n Ort, aber na ja. So, du gehörst ab heut’ also mir.“
„Ich gehöre Ihnen?“, frage ich verwirrt.
„’türlich! Mein Land, mein Gesetz“, bekomme ich als Antwort. „So läuft’s numa’ zu diesen Zeit’n. Die Kristallkug’l meines Weibs hat schon von dir berichtet. Keine Ahnung warum die Dreckshexe noch nich’ auf’m Scheiterhauf’n gelandet is’. Na ja, zum Glück bin ich so schweigsam. Ketzerei, pah!“
`Onkel Birne’ geht in die Hocke und greift hinter sich. „Sklave“, höre ich noch, bevor ein harter Gegenstand mich trifft und ich bewusstlos werde.