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Die Tagesdame
Die Tagesdame
Lassen Sie ihre Schuhe ruhig an. Das ist die Stube. Jetzt, so um diese Zeit ist's hier immer hell und freundlich. Hier gibt's sechs Steckdosen, aber in der Küche leider nur drei. Ich finde, das sollten Sie wissen. Da über der Tür sind'n paar Schrammen, ebenfalls unter'm Fensterbrett und an der Heizung klebt noch Farbe. Das Laminat ist noch so gut wie neu, wie's zu pflegen ist lässt sich nachlesen. Also immer 'n bisschen darauf achten. Ich weiß, so toll ist's nicht eingerichtet. Da, die gelbe Gardine hing schon an Fenstern anderer Wohnungen und mir ist die Farbe des Teppichs immer noch suspekt. Ist ganz sicher einmal blau gewesen. Oder grün? Ach, ich weiß auch nicht, türkis is'r jedenfalls nicht, oder. Sei's drum, kommen Sie mal her. Sessel und Couch. Nicht Ihr Stil? - 's ist doch eigentlich ganz nette Katalogware. Ich hätte diese auch in die Ecke dort gestellt, statt so mittig im Raum. Aber diese Einrichtung dient sowieso nur'm einzigen Zweck: Fernsehen. Wie Sie sehen, zeigt's sich auch in den Regalen, welche auch mal entstaubt werden müssten: zwei, drei Bücher, 'n paar Illustrierte, CDs, Videos, Dekoblumen und lassen Sie sich jetzt bloß nicht von der Bibel irritieren, darin liest sie nicht.
Sie steht auf, machen sie bitte Platz. Schauen Sie doch, wie schwer sie's hat. Mit diesen Verengungen und mit dieser Fresse schleppt sie sich den ganzen Tag von A nach B: vom Sessel der Stube zur Küche, oft danach ins Bad, dann zurück auf'm Sessel. Der kleine Hund dort, da unterm Tisch, der kam heute noch nicht raus. Jetzt haben Sie kein Mitleid, der muss halt warten bis die Kinder von der Schule kommen. Wenn ich mich nicht irre, müssten die Beiden auch gleich hier sein. Folgen Sie mir bitte in die Küche.
Und? Wirkt doch eigentlich recht gemütlich, oder. Ist halt nur schade, dass man sich hier nicht lange aufhält, denn sie essen meistens in ihren Zimmern. Herd, Kühlschrank und Spüle wurden beim Einzug übernommen und auf die Sitzecke hatte sie lange warten müssen. Da gab's Lieferungsschwierigkeiten. Klar, schauen Sie sich ruhig selbst um, aber bitte fassen Sie nichts an, wie Sie sehen ist sie mit'm Abwasch beschäftigt. Wie bitte? Da am Fenster? Ach so, ja das ist 'ne Weihnachtskette, sie findet's eben schön. Sie wollen mehr über diese Familie erfahren? Weshalb? Alles was sich hier abspielt veranschaulicht sich doch schon von selbst. Aber gut, was möchten Sie wissen? Keine Ahnung, ich weiß nicht wie sie heißt, man nennt sie nur Mutter. Sie hat sechs Kinder: vier Jungs, zwei Mädchen. Nach der Scheidung ihres ersten Mannes, dem Vater des zweiten und des dritten Sohnes steckte man den ersten und den zweiten, später dann auch den dritten in teils gemeinsamen, teils in getrennten Kinderheimen. In sozialistischen Zeiten konnte man einer allein stehenden und mittellosen Frau nicht die Fürsorge für so viele Kinder anvertrauen. Vielleicht konnte man's auch nicht finanzieren. Ja 's klingt kompliziert, ist auch 'ne Geschichte für sich. Über den vierten Sohn, lässt sich nur wenig sagen, sie musste ihn kurz nach der Wende zur Adoption freigeben. Dabei überließ man ihr die Entscheidung, entweder ihre bis dato einzige Tochter oder ihren jüngsten Sohn abzugeben. Ich kann mich noch gut an jenen Moment erinnern, als das Jugendamt freundlich zu klingeln, dann grob an der Tür zu pochen begann. Es war sehr theatralisch. Sie wehrte sich gegen diese Bestimmung, barrikadierte flennend bis zur Resignation und in beiden Armen der schon bald verschwundene Sohn, welcher jetzt irgend woanders erwachsen wird; mit anderem Dialekt, mit anderen Essgewohnheiten, ja, vielleicht sogar mit Religion. Kurz darauf klingelte dessen unwissender Vater, welcher sich's dann von ihr erklären lassen musste.
Ah, sie geht ins Bad, bestimmt um zu rauchen. Setzen Sie sich doch, lassen wir sie alleine. Möchten Sie einen Kaffee? Stört's ihnen, wenn ich mir auch 'ne Zigarette anzünde? Nein? Vielen Dank.