Die Teedose
Die Teedose
…
Die Luft war feucht vom Regen. Auf den Straßen glänzte die Nässe im faden Licht, das durch die Wolkendecke schien. Am Nachbarhaus lief ein dünner Wasserfaden an einer defekten Stelle der Dachrinne herunter.
Wieviel Weltuntergangstimmung ist der Mensch im Stande zu ertragen?
Ein Anfall von Depression schlug Thomas an diesem Nachmittag nieder, während er, in vollkommen geistiger Abwesenheit, die Augen starr aus dem Fenster gerichtet hielt.
Feuchte Grashalme sahen ihn vom Vorgarten aus an. An der Stelle, wo die rosafarbenen Begrenzungssteine das botanische Kleinod vom Gehweg trennten, wucherte Moos, das sich genauso geheimnisvoll anfühlte wie die Haare, die ihre Scham umgaben. Er hatte es schon oft berührt und nie genug davon bekommen, so sehr vergegenwärtigte es sie ihm.
Tanja schritt den nassen Gehweg der kleinen Straße entlang. Sie hatte eine Bluejeans mit Schlag an, die ihr soweit über die roten Straßenschuhe gingen, dass sie sich hinten ständig drauf trat. Ein roter Wollpullover mit weiten Maschen umhüllte ihren Oberkörper. Die offenen blonden Haare tanzten im Wind.
Bald erreichte sie die blaue Haustür. Der Regen hatte bereits aufgehört. Einzelne Tropfen perlten von ihrem zarten Gesicht herunter. Mit einer kurzen Armbewegung schnitt sie ihnen den Weg ab.
Es war einer von vielen Besuchen, die sie bei Thomas machte. Manchmal waren sie schon nach der Schule gemeinsam zu einem von beiden nach hause gegangen. Was sie wirklich miteinander verband wussten sie nicht mehr so recht. Es konnte Liebe sein. Aber genauso gut konnte es nun auch nur eine bloße Illusion sein, der sie sich, in wogender Fleischeslust, hingaben.
Thomas sah sie schon, als sie noch einige Meter vom Haus entfernt war. Sie hatte diesen aufrechten, entschlossenen Gang. Ihre Augen waren offenbar nur auf das gerichtet, was vor ihnen beiden lag.
Thomas hatte es aufgegeben darüber zu philosophieren, was und ob sie überhaupt etwas füreinander empfanden, was über die oberflächlichen sexistischen Automatismen der Menschen, die sie, mitunter obsessiv miteinander auslebten, hinausging. Er wusste nicht mehr wirklich, ob sie überhaupt jemals etwas in ihrer Beziehung, die von Anfang an auf Körperlichkeit setzte, etwas für einander empfunden hatten. Vielleicht war es für ihn einzig und allein nur die schöne Hülle ihres Körpers, deren Dasein er akzeptierte und der er sich so oft schon hingegeben hatte, ohne dabei auf das, was sie schützend umgab, zu achten.
Wenn es tatsächlich Liebe war, war sie von Flüchtigkeit geprägt.
In einer Ecke seines Zimmers summte ein Radio vor sich hin. Ein momentan angesagter Latinosong lief gerade. Es war August. Aber das Wetter benahm sich herbstlich.
Sie wusste, dass sie nicht zu klingeln brauchte. Er würde sie schon gesehen haben. Tatsächlich wurde die Tür wie durch einen unsichtbaren Knopfdruck geöffnet. Er ließ sie herein. Die Begrüßung war halbherzig. Zu oft hatten sie dieses Ritual schon vollzogen, als das ihnen noch etwas daran lag. Nun galt es ihnen als überflüssig. Tanja hatte die Hoffnung, dass es diesmal anders werden würde.
Sie gingen die Treppe mit den ächzenden Holzstufen hinauf zu seinem Zimmer. Es war wie immer nicht besonders aufgeräumt. Auf dem Schreibtisch türmte sich ein kopfloses Durcheinander von Papieren unterschiedlicher Größen. Ein Schulbuch und ein Schreibblock mit karierten Blättern davor, belegten die letzte freie Stelle dieses Mobiliar. Auf dem Fußboden lagen Hefte sinnlos herum. Nur das Bett befand sich in einem tadellosen Zustand.
Auf dem viereckigen Tisch stand einen kleine Plastikschale mit kernlosen grünen Trauben.
Die Rhythmen des Latinosongs waren noch immer zu hören.
„Wie heißt das Lied?“, fragte Tanja
„Keine Ahnung.“
Es kam nun, wie üblich, die Stelle, an der beide ein wenig Konversation pflegten, die aber nie einen ernsthaften Hintergrund hatte. Es waren fast immer nur Belanglosigkeiten, die sie miteinander austauschten.
„Hast du Englisch schon gemacht?“ Tanja las, was auf dem aufgeschlagenen Blatt des Schreibblockes stand. Es waren die Englischhausaufgaben. Beide besuchten sie in diesem Fach den gleichen Oberstufenkurs.
„Noch nicht ganz“, sagte Thomas.
Tanja ging im Zimmer herum. Sie besah sich die Poster an den Wänden und den ein oder andere Gegenstand, der irgendwo im Zimmer stand. Das hatte sie schon mindestens hundertmal gemacht. Thomas hatte sich derweil auf sein Bett gelegt und betrachtete sie, wie sie dort im Zimmer umherging und alles wie ein Schwamm in sich aufzunehmen schien. Er fragte sich, ob sie es nur aus reiner Langeweile tat, oder ob sie wirklich jedes Mal wieder etwas Neues entdeckte.
Die Lampe an der Zimmerdecke brannte.
Thomas fuhr mit den Augen Tanjas gut gebauten Körper ab. Er bemerkte, dass er ihn verhüllt eigentlich noch schöner als fand als nackt. Doch genau dieser Reiz stärkte in ihm noch mehr das Verlangen, ihn Stück für Stück zu entkleiden und langsam, alles an ihr freizulegen. Bei den ersten Malen hatten sie es noch ungeschickt und schnell gemacht.
Thomas versuchte jedes Mal ihren Körper neu zu entdecken. Obwohl er wusste, das es dort nichts mehr Neues gab. Eigentlich war es sinnlos dieses Spiel noch weiter zu treiben.
Immer noch betrachte Tanja den Raum. Auf dem Regal hatte sie eine kleine runde Teedose gefunden, auf der eine blaugrüne Küstenlandschaft mir einem rot weiß gestreiften Leuchtturm und angrenzendem weißen Wohnhaus gemalt war. Zwei blaue Ruderboote lagen links davon. Vor dem Haus lag ein weiteres Boot im dunkelgrünen Gras, das umgedreht war. Zwei Vögel saßen darauf. Weiter links stand ein Fahnenmast, an dem eine rote Flagge gehisst war. Der Deckel stellte den Himmel dar, über den zwei Vögel mit weit ausgebreiteten Flügeln flogen.
Tanja nahm diese Dose in die Hand.
„Gefällt sie dir?“, fragte Thomas.
Sie nickte.
„Wenn man sie ansieht“, sagte sie, „hat man das Gefühl, man würde sich direkt in dieser Landschaft befinden. Als Stünde man unmittelbar an diesem Leuchtturm. Ich kann sogar das Meer hören. Existiert dieser Turm wirklich?“
„Keine Ahnung.“ Das war etwas, was er an ihr liebte. Sie konnte so herrlich poetisch sein.
„Wir sollten nach ihm suchen“, sagte sie und musste dabei lächeln.
„Meinst du, du wir finden ihn?“, fragte Thomas.
„Wir werden einfach sämtliche Küsten der Welt nach ihm absuchen.“
Sie stellte die Dose wieder zurück auf das Regalbrett von dem sie sie genommen hatte. Dann wandte sie sich Thomas zu und begann ihn anzulächeln.
Sie ging zum Bett hin, auf dem er bereits lag, beugte sich hinunter zu ihm und begann ihm ihre karmesinroten Lippen auf die Wange zu pressen. Sogleich ergriff er ihren Kopf und zog ihren Körper zu sich ins Bett.
Tanja wusste, was nun kam. Aber sie wusste nicht, ob sie es wollte. Routiniert zogen sie sich aus. Sie zog ihm das orange Hemd über den Kop. Er ihren roten Wollpullover. Es folgten die Hosen. Schließlich öffnete er ihren BH und begann sie zu streicheln, wie er das jedesmal tat. Thomas befühlte die zarten rosafarbenen Knospen ihrer Brust, ließ sie sanft durch seine Finger gleiten. Nicht lange, und auch die letzten Textilreste fielen von ihren Körpern ab.
Sie verhüteten. Nie hatten sie es bislang ohne versucht. Das war ihr recht. Sie wusste, dass er es liebte, wenn sie ihm die schmale glitschige Tüte über seiner aufgerichteten Männlichkeit abrollte. Bei den ersten Malen hatte sie fasziniert zugesehen, wie das schlaffe Ding sich langsam aufrichtete und dabei erhärteten, so dass sämtliche Adern hervorquollen. Sie roch wieder diesen charakteristischen Geruch, der ein Gemisch aus Urin, Sperma und Schweiß war. Gleich würde er in sie eindringen. Sie legte sich hin, spreizte leicht ihre Beine und öffnete die Lippen. Dann spürte sie ihn in sich. Sie verspürte Lust und gleichzeitig auch Schmerz dabei. Sie versuchte die Augen geschlossen zu halten. Er sah sie, beinahe krampfhaft, an. Er sah nun sie fast immer krampfhaft beim Akt an. Sie hatte ihn schon längst fragen wollen, wieso er das tat.
Langsam begann sie zu stöhnen. Zunächst waren es nur kleine zarte Laute, die sich, je mehr sie sich dem Höhepunkt näherte, verstärkten. Bei den ersten Malen hatte sie fast geschrieen. Damals vor Glück. Jetzt stöhnte sie im Grunde nur deshalb, weil es irgendwie dazugehörte. Sie spürte, wie er wieder mit seiner Zunge in sämtliche Regionen ihres Körpers vorstieß. Es wurde ihr abwechselnd warm und kalt. Ihre Hautfarbe wechselte ihm Rhythmus ihrer Bewegungen von rot zu bleich. Am liebsten wäre sie jetzt mir Thomas an diesem Leuchtturm, dachte sie. Sie könnten auf diesem umgedrehten Boot sitzen, auf das Meer sehen und vielleicht dabei reden. Einfach nur reden. Oder warten, bis im Turm das Licht anging. Sie könnten sogar jetzt miteinander reden, während er bei ihr drin war und sie Lustlaute von sich gab. Sie roch seinen Schweiß.
Er griff nach ihren runden Brüsten, begann sie zu kneten. Er strich ihr durch die Haare, was sich gut anfühlte. Immer, wenn der Höhepunkt nahte, fuhr er ihr durch die Haare.
Sie ärgerte sich darüber, dass im Radio gerade die Nachrichten liefen. Sie hätten es vorher ausstellen, oder eine CD einlegen sollen.
Thomas spürte wieder diese feuchte Wärme, die in ihr herrschte. Er hatte sie schon so oft gespürt. Er glitt hinab und hinauf. Von Mal zu Mal lud er sich dabei mehr auf. Bald würde die Bombe platzten. Er liebte es, wenn sie ihm die Hymne der Lust vorstöhnte. Mit seinen Händen strich er an ihrem Körper entlang. Machte hier und da halt, um ihn zu umfassen. Doch er spürte, dass sie nicht wirklich eins miteinander waren. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas sagen wollte. Vielleicht wollte auch er ihr was sagen. Er musste wieder an das denken, was sie gesagt hatte, als sie diese kleine Teedose, die auf seinem Regal stand, in den Händen gehalten hatte.
Er spürte ihren warmen Atem in seinem Gesicht. Schweißgeruch stieg zu ihm auf. Ein leichter Moschusduft vermischte sich mit ihrem Mandelgeruch.
Als er an ihren Haaren roch, hatte er wieder den Geruch nach Apfelshampoo in der Nase. Er hatte sie immer schon danach fragen wollen, ob es wirklich Apfelshampoo war, was sie benutzte. Er war sich nicht sicher. Ihm fiel auf, dass sie in letzter Zeit nur wenig miteinander geredet hatten. Man konnte nicht behaupten, dass sie nur zusammenkamen, um sich zu lieben. Höchstens ihre beiden Körper kamen zusammen. Sie selbst standen nur davor und sahen zu. Thomas kam es vor, als stünden sie vor einer Wand aus Glas und würden fassungslos mitansehen, wie sich ihre Hüllen auf dem weißen Laken umherwälzten. Er spürte, wie sie beide gegen diese Glaswand hämmerten. Aber ihre Körper, die sich, vom falschen Verlangen getrieben, wie blöde aneinander rieben, konnten sie nicht hören. Es war wie eine Sucht. Die Sucht nach dem Körper das anderen.
Tanja nahte dem Endpunkt dieser Szene. Sie spürte, wie der finale Punkt zunächst langsam, dann immer schneller in ihr anschwoll und plötzlich wie ein Blitz durch ihren Körper zuckte und ein donnerndes Stöhnen als Schlusspunkt nach sich zog.
Als alles zu Ende war, begann sie zu keuchen. Sie war froh, dass es vorbei war.
Thomas spürte, wie die Flüssigkeit aus ihm herauspreschte. Er machte ein paar kräftige Atemzüge. Schon nach wenigen Sekunden hatte er das Gefühl, sich an nichts mehr erinnern zu können. Er richtete seinen Körper auf, lehnte ihn erschöpft an die Wand und sah auf Tanja, die nackt vor ihm lag. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Schweißtropfen liefen an ihm herab. Er fühlte sich so schlapp, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich.
Wortlos sahen sie sich eine Weile an. Niemand wollte der Erste sein, der etwas sagte. Im Radio lief wieder Musik. Tanja drehte sich vorsichtig auf die Seite und zog die Bettdecke über sich. Thomas sah zum Fenster. Das graue Wolkenband am Himmel hatte sich ein Stück geöffnet. Ein helles Blau schimmerte durch diese Lücke hindurch.
„Ich wäre jetzt gerne am Meer, bei diesem Leuchtturm“, sagte Tanja.
„Hm.“ Thomas nickte schlaff.
„Ich habe es satt, dass wir uns immer nur zum bumsen treffen“, sagte Tanja. Sie richtete auf und hielt dabei die Bettdecke schützend über ihren Körper. Ihre blonden Haare waren zerzaust. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht.
Thomas beugte sich nach vorne und legte Kopf in die Hände. Er überlegte, was er sagen sollte. Es war nicht einfach in dieser Situation. Aber er war sich klar darüber, dass sie etwas würden ändern müssen.
Tanja stand auf und zog sich wieder an. Thomas sah ihr zu. Er begann sie zu beobachten. Er bewunderte ihre Bewegungen, die von einer zarten Geschmeidigkeit waren, wie er sie noch nie vorher bei irgendeinem anderen Mädchen beobachtet hatte. Stundenlang hätte er ihr zusehen können. Schon eben, als sie die kleine runde Teedose aus dem Regal nahm, hätte es ihm auffallen müssen. Um wie viel verkrampfter waren da ihre Bewegungen, die sie vorhin, als sie im Bett lagen, vollzogen hatte.
Tanja nahm ein paar von den kleinen grünen Trauben, die in der Plastikschale auf dem Tisch standen. Sie kaute langsam. Ihr Blick schien dabei nach innen gerichtet zu sein. Sie lies sich auf einem kleinen Sessel, der am Tisch stand fallen. Erschöpft rieb sie sich mit beiden Händen ihr Gesicht, das immer noch leicht errötet war. Eine ganze Weile blieb sie so sitzen.
Thomas hatte sich unterdessen auch wieder angezogen. Er saß nun auf dem Bett. Schaute abwechselnd zur Tanja und aus dem Fenster.
Die grauen Wolken machten nun dem hellblauen Himmel Platz. Die Sonne kam hervor. Es wurde hell im Zimmer.
Im Radio lief eine langweilige Reportage. Thomas legte eine CD in den Spieler ein.
Tanja begann leicht mit einem Fuß im Takt der Musik zu wippen. Es gefiel ihr. Thomas spürte, dass es ihr gefiel. Sie verstanden sich blind.
Zwei Vögel gleiteten mit weit ausgestreckten Flügeln über den Himmel.
Tanja stand auf, ging wieder zum Regal und nahm erneut die kleine runde Teedose in die Hand, auf der die Küstenlandschaft mit dem Leuchtturm aufgemalt war. Sie drehte sie in ihren Händen.
„Ich wäre wirklich gerne dort“, sagte sie.
„Ich auch“, sagte Thomas.
Ein neues Lied setzte ein. Die Spannungen lösten sich. Es gab vieles, was sie miteinander bereden konnten.
Tanja stellte die Dose wieder auf das Regelbrett zurück. Dann ging sie zum Fenster und sah hinaus. Die Straßen waren fast trocken. Das Rinnsal an der Dachrinne des Nachbarhauses hatte aufgehört zu existieren.
Thomas war vom Bett aufgestanden und zu Tanja gegangen. Er stellte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Sie rieb sich langsam ihr Kinn an seinem Arm. Thomas zog sie fester an sich. In der Hand hielt sie immer noch die Teedose.
Stefan Peglow 2005