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Die Theatervorstellung
Da saß er nun wieder auf der Bank. Vor ihm lag die weitläufige Straße mit ihren vielen Cafés, Bars und sonstigen kleinen Geschäften. Es war Nachmittag und die Sonne schien, obwohl der Wetterbericht die Regenwahrscheinlichkeit auf 80% vorausgesagt hatte. Eine gewisse Hektik bestimmte die Atmosphäre. Die Fahrradfahrer mussten auf die Autos Acht geben und die Fußgänger wiederum auf die Fahrradfahrer. So war alles in Bewegung. Nur er nicht. Er saß ruhig und teilnahmslos auf der Bank und bekam von dem Trubel um ihn herum nicht viel mit. Sein Blick war leer und traurig. Das Eis in seinem Becher war schon geschmolzen. Er hielt den Löffel noch zwischen den Fingern und spielte damit geistesabwesend. Da fielen ihm die Karten wieder ein. Um sich zu vergewissern, dass er wirklich zwei Karten bekommen hatte, nahm er seinen Geldbeutel heraus, den er zwischen Oberschenkel und Bank eingeklemmt hatte, und suchte sie darin. Eigentlich wusste er ja, dass er sie dort zusammengefaltet finden würde, aber er musste sie immer wieder in den Händen halten, um das Papier zwischen den Fingern zu spüren. „Warten auf Godot“ stand mit großen Buchstaben in der Mitte geschrieben. Es waren gute Karten, teure Karten. Einlass war 19 Uhr. Noch hatte er also Zeit, eine Begleitung zu finden. Die Euphorie, die ihm beim Kauf der Karten überkam, war schon merklich abgeklungen. Erste Zweifel regten sich in ihm. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, einfach so zwei Karten zu kaufen, ohne zu wissen, wer ihn begleiten soll? Ach ja, er erinnerte sich, das war ja gerade das schöne Gefühl an der Sache. Die Vorstellung, mit einem ihm noch unbekannten, reizenden Mädchen den Abend gemeinsam im Theater zu verbringen, beflügelte ihn bei dem Plan um den Erwerb der Karten. Er wollte diese als Vorwand nehmen, eine Traumfrau anzusprechen, kennen zulernen. Aber in den Stunden danach erwies sich dieses Vorhaben als weitaus schwieriger, als geplant. Sollte er sie finden, indem er sie suchte, oder sollte er lieber warten, damit sie ihm begegnete?
Schließlich entschied er sich noch einmal für die Suche und stand auf. Seinen Eisbecher warf er vorsichtig in den Mülleimer, immer bedacht darauf, eine gute Figur zu machen, denn er könnte ja schon von seinem Traummädchen beobachtet werden. Er schlenderte durch die zahlreichen belebten Straßen und musterte alle an ihm vorbeigehenden Mädchen, immer mit dem Bewusstsein, dass die Nächste vielleicht schon seine Erwählte sein könnte. Doch die mit Tüten bepackten Frauen, die in die engere Wahl kamen, beachteten ihn gar nicht, sondern eilten auf ihren hohen Absätzen gehetzt vorbei, um in dem nächsten Geschäft unterzutauchen. Der zeitliche Aspekt des Flirtens war einfach nicht gegeben. Er konnte keinen Blickkontakt mit ihnen aufbauen, geschweige denn, sie anlächeln. Aber so hatte er es doch in dem Buch gelesen: 1.Phase: Blickkontakt, 2.Phase: Lächeln, 3.Phase: Ansprechen. Beim Lesen erschien ihm das Ansprechen als das Schwierigste, doch musste er erkennen, dass die ersten beiden nicht zu unterschätzen waren. Und sich Ihnen einfach in den Weg zu stellen erachtete er für nicht sehr sinnvoll, denn er beobachtete die jungen Mädchen und Jungen, die mit einem Fragebogen für irgendeine Marktforschung bewaffnet die Leute nach ihren Auswahlkriterien einfach ansprachen und damit wenig Erfolg hatten, ja sogar so manche Beschimpfung über sich ergehen lassen mussten. Erfolgreicher waren da diejenigen, die irgendwelche Sachen kostenlos verteilten, auch wenn es nur ein Kugelschreiber mit einer aufgedruckten Werbung war, so nahmen ihn die Leute freudig an, als hätten sie nicht schon genug Kugelschreiber zu Hause. Aber es war eben umsonst.
Er ging noch einmal seinen Text durch, den er beim Ansprechen sagen wollte. Je öfter er die Zeilen las, desto unsicherer wurde er. Er wollte ganz locker wirken und das Auswendiggelernte so spontan wie möglich vortragen, doch erschienen ihm die ausgewählten Sätze nun nicht mehr aus dem Leben gegriffen. Er setzte sich an einen kleinen Brunnen und versuchte sich bessere auszudenken: „Ähm, entschuldige bitte, meine Theaterbegleitung hat mir für heute Abend abgesagt… Hättest du vielleicht Zeit und Lust mit mir ins Theater zu gehen?“ Den letzten Satz wollte er sehr charmant, mit einem leichten Lächeln sagen, denn er hatte gelesen, dass es bei dem ersten Gespräch weniger auf den Inhalt, sondern vielmehr auf die Art und Weise, wie man es sagt, ankommt. Aber wie sollte es dann weitergehen? Es gab zwei Möglichkeiten, die eine: sie ist nicht abgeneigt, überlegt offensichtlich, ob es tatsächlich möglich wäre und die andere: sie lehnt sofort ab. Irgendwie hatte er aber das unbeschreibliche Gefühl, dass es nicht zu einer Absage kommen würde, wenn er denn das richtige Mädchen fand. Aber wo sollte er die Richtige entdecken? Wo war sie, wo versteckte sie sich? Er hielt Ausschau. Nun wollte er sich finden lassen. Früher oder später würde sie an dem kleinen Brunnen vorbei kommen und dann könne er sie fragen. So wartete er also und beobachtete die vorbeiziehende Menge. Die Sonne wärmte seine schwarze Sakkojacke auf, doch er wollte sie nicht ausziehen, weil er wusste, dass er darin gut aussah und so schwitzte er lieber. Als er sich gerade ein bisschen zurücklehnte, bemerkte er zwei hübsche Mädchen, die in seine Richtung gingen. Die Linke schien genau seinem Typ zu entsprechen. Dunkle lockige Haare, eher kurz als lang und genau der Kleidungsstil, den er bei Mädchen so liebte. Sie war modern gekleidet, ohne jedoch den aktuellen Trends nachzulaufen. Ihre Jacke war schwarz und figurbetont. Genauso das Hemd und die Hose. Ihre Tasche trug sie lässig über der linken Schulter. Sie sah aus, als wäre sie eine Pianistin, eine Künstlerin. Ein Mädchen, das selbstbewusst in ihrer eigenen Welt lebt und Tage wie diese schon allein wegen der Sonnenstrahlen genießt. Zuhause liebt sie große weite Pullover, die länger sind als ihre Arme, so dass sie mit den Fingern daran spielen kann. Sie liebt es im Bett zu frühstücken und hat glasige Augen, wenn sie das Regentropfen-Prelude von Chopin hört. Intelligenz ist ihr so wichtig wie Humor, so dass man mit ihr über Harald Schmidt lachen und genauso über Nietzsche philosophieren kann. Wenn sie auf der Straße einen Regenwurm sieht, dann scheut sie sich nicht, ihn mit den Fingern aufzuheben und in die nächste Wiese zu tragen. Dabei redet sie mit ihm und wünscht ihm zum Abschied noch einen schönen Tag. Wenn es regnet, dann möchte sie am liebsten auf einen Baum klettern und mit den Ästen im Wind schaukeln. So musste sie sein, so sah sie aus.
Sie kam näher. Sofort spürte er, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Ein kräftiger Adrenalinausstoß lähmte ihn vollständig. Der zuvor auswendig gelernte Text war wie weggeblasen. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Schritt für Schritt kam sie näher. Die Zeit war in diesem Moment nicht mehr sein Freund. Hatte er doch eigentlich lange genug die Möglichkeit gehabt, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten, so war er jetzt völlig überfordert. Einerseits lief alles in Zeitlupe ab, andererseits war der Zeitpunkt, sie im richtigen Atemzug anzusprechen, näher, als ihm lieb war. Er stand auf und strich seine Jacke glatt. Dies geschah jedoch völlig automatisch, ganz so, als würde er nicht selbst die Befehle dazu geben. Jetzt sah er ihre großen Augen und ihren wundervoll geschwungenen Mund. Alles schien an ihr perfekt. Alles war, wie er es sich immer erträumt hatte. Er konnte es nicht glauben, schloss die Augen und holte Luft. Sollte er sie wieder öffnen oder lieber nicht? Es war paradox, aber in diesem Moment war alles perfekt. Alles lief in seinem Kopf in Sekundenschnelle ab: Er spricht sie an, sie lächelt, er lädt sie ein, sie erwidert, dass sie das Theater liebt und sie erleben einen wunderschönen Abend. Nach der Vorstellung begleitet er sie heim. Sie lachen viel, haben Spaß und sind beide fasziniert von dem Abend. Ganz so, als ob sie sich schon viel länger kennen, scherzen sie herum und schwärmen von der wundervollen Aufführung. An ihrer Tür gibt sie ihm einen Abschiedskuss und sie verabreden sich für den nächsten Tag. Hinter der geschlossenen Tür schließt sie die Augen und steht ganz still. Er bleibt vor dem Haus noch kurz stehen und starrt auf die Hausnummer: Acht, seine Glückszahl.
Warum sollte er dieses schöne Gefühl mit dem öffnen der Augen aufgeben? War die Sehnsucht nicht schon mit dieser wunderschönen Vorstellung befriedigt? Es fühlte sich alles so echt an, warum also sollte er sich mit der Wirklichkeit konfrontieren? Er konnte den Duft ihrer Haare riechen und den Geschmack ihres Halses schmecken.
Dann öffnete er doch seine Augen. Sie war noch da. Ja, sie war sogar noch schöner als in seinen Vorstellungen. Bestimmt hatte sie einen Freund oder zumindest an jedem Finger einen Verehrer. Nein, so eine würde nie mit ihm etwas zu tun haben wollen. Aber was ist, wenn doch? Wenn dies nun seine große Chance ist? Was konnte er schon verlieren? Sie konnte ihn arrogant anlächeln und sagen: „Nee, Kleiner, aber nicht mit dir“. Aber wenn sie dies sagen würde, dann müsste er doch froh sein, denn dann war sie ja nicht die Richtige. Dann könnte er sich aber sagen, dass er alles versucht hat. Also kann er doch gar nicht verlieren, wenn er sie einfach fragen würde. Aber da war ja noch ihre Freundin. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten? Ignorieren konnte er sie nicht, denn das wäre unhöflich, aber wenn nur ihre Freundin angeflirtet wird, dann fühlt sie sich vielleicht zurückgesetzt. Er müsste also irgendwie beide ansprechen, um sich dann auf das Traummädchen konzentrieren zu können. Sie waren ein paar Schritte vor ihm. Das süße Mädchen bemerkte ihn. Er versuchte zu Lächeln, doch es schien verkrampft. Sie lächelte zurück, aber er war sich nicht sicher, ob dies ein zurückgebendes Lächeln ihrerseits war oder ob sie über seinen Versuch zu Lächeln nur amüsiert war. Jetzt oder nie, egal was passieren würde, er sprach sie mit einem zaghaftem „Hallo“ an. Sie blieben stehen.
„Also, ich hätte zwei Karten für die heutige Theatervorstellung im Residenztheater. Es läuft ‚Warten auf Godot’ von Sam Beckett und es beginnt um 19 Uhr. Hättet ihr vielleicht Lust hinzugehen?“ Sie schauten sich beide an. „Was würden denn die Karten kosten?“ fragte das dunkelhaarige Mädchen mit einer zauberhaften Stimme. „Nichts“, antwortete er schnell. Er hatte vergessen, zu lächeln und versuchte es schnell nachzuholen. „Ja, also Du kannst sie uns gerne geben, wenn du unbedingt möchtest“, sagte ihre Freundin nach einer kurzen Pause. Jetzt erst merkte er, was er für einen Fehler gemacht hat. Er hat ihnen beide Karten angeboten. Sie dachten wohl, dass er ähnlich wie die Kugelschreiber-Verteiler das ganze mit Theaterkarten machen würde. Wie sollte er denn da jetzt wieder herauskommen? Das hinreißende Mädchen lächelte ihn an. Was sie für wunderschöne dunkle Augen hat, dachte er sich. Nein, er konnte ihr nichts abschlagen. Wenn sie beide Karten haben wollte, dann würde er ihr auch beide geben. Er nahm seine Rolle an, die ihm durch das Missverständnis auferlegt wurde und fischte sie aus seinem Geldbeutel heraus. Er gab sie dem süßen Mädchen mit der naiven Hoffnung, dass sie dann sagen würde, dass sie viel lieber mit ihm dort hingehen möchte, als mit ihrer Freundin. Sie nahm die Karten und lächelte wieder. „Vielen Dank“, sagte sie. „Gern geschehen und viel Spaß im Theater“, antwortete er ihr. Sie machten den Ansatz weiterzugehen, doch merkten, dass er noch etwas sagen wollte. Doch er brachte nichts mehr heraus, er starrte nur das zauberhafte Mädchen an. Und so gingen sie dann doch an ihm vorbei und verabschiedeten sich. Er blickte ihnen nach. Sein Traummädchen drehte sich noch einmal um und lächelte. Er wusste nicht mehr was er gerade tat. Lächelte er noch, oder starrte er einfach so vor sich hin? Da tauchten sie in der Masse unter. Verschwanden in der Menge, wurden unsichtbar. Er stand noch immer wie versteinert da. Er konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Er wollte gehen, blieb aber stehen.