Die Tote im Wald
Es war einer dieser verregneten Abende, an denen man nicht mal einen Hund vor die Tür jagen möchte. Markus stellte den Kragen seines Mantels auf und stieg aus dem Wagen. Er war in dieser Nacht zu einem besonders düsteren Tatort gerufen worden. Ein Waldarbeiter hatte eine übel zugerichtete Frauenleiche mitten im Wald entdeckt. Dieser kauerte nun in eine Decke gehüllt neben dem Einsatzwagen. Als Markus in das blasse Gesicht des Mannes sah, konnte er nur erahnen, welch schauriges Bild der Mann gesehen haben musste. Ein Polizist kam auf ihn zu. „Gut, dass Sie da sind Herr Kommissar. Ich begleite sie zum Fundort der Leiche.“
Der Wald war dunkel und der feuchte Boden schmatzte laut unter ihren Schuhen. Bei diesen Wetterverhältnissen würde es schwer sein, Spuren zu finden. „Hier ist es. Die Spurensicherung war schon da, viel hat sie leider nicht gefunden.“ sagte der Beamte und bestätigte somit seinen Verdacht. Der leblose Körper war mit einer dunklen Plane abgedeckt. Markus hockte sich hin und hob die Abdeckung vorsichtig an. Es war eine junge Frau, vielleicht Anfang 30. Ihr ehemals hübsches Gesicht war mit tiefen Schnitten übersäht. Markus legte den Körper jetzt ganz frei. Obwohl er in seiner Laufbahn schon viele Leichen gesehen hatte, ließ ihn dieser Anblick sichtlich erschaudern. Der Körper der jungen Frau war von oben bis unten zerkratzt, die klaffenden Wunden erinnerten an einen Raubtierangriff. Der linke Arm war total zerfetzt und kaum noch zu erkennen. Angewidert von soviel Grausamkeit deckte Markus die Leiche wieder zu und verließ den Tatort.
In dieser Nacht dachte Markus noch lange über den Fall nach. Welcher Mensch würde eine so grausame Tat begehen. War es überhaupt ein Mensch gewesen? Die Schnitte waren schließlich sternförmig angeordnet, so als ob ein Raubtier über die Frau hergefallen wäre. Und auch der zerfetzte Arm passte nicht in das Bild eines menschlichen Mörders.
Am nächsten Morgen erhielt Markus einen neuen Hinweis aus der Spurensicherung. Der durchgeweichte Boden am Fundort hatte es den Kollegen nicht leicht gemacht, aber dennoch hatten sie eine Spur entdecken können. Den großen Abdruck einer Wolfspranke, direkt neben der Leiche. Hatten sie es hier doch mit einem Raubtier zu tun? Markus telefonierte alle Zoos in der Umgebung ab, aber in keinem war ein Wolf ausgebrochen. Außerdem versicherte ihm ein Zoodirektor, dass es für einen Wolf höchst untypisch wäre einen Menschen anzufallen. Im Wald gäbe es doch genügend natürliche Beute. Aber auch in den nächsten Wochen kamen die Beamten mit dem Fall einfach nicht weiter. Markus befürchtete schon, dass dieser Fall in dem Schrank für „ungelösten Mordfälle“ verschwinden würde, als ihn ein Hinweis erneut hoffen lies.
Er hörte eines Morgens zufällig wie eine alte Frau seinen Kollegen im Revier von ihrem Erlebnis beim Pilze sammeln im Wald erzählte. Sie war ganz aufgebracht und behauptete einen riesigen Wolf gesehen zu haben. Es war der gleiche Wald, in dem sie die Leiche der jungen Frau gefunden hatten. Markus horchte auf. „Er hatte riesige Pranken mit langen Krallen und lief auf seinen Hinterbeinen.“ sagte die alte Frau aufgeregt. Markus sprang auf und ging auf die Frau zu. „ Die Alte ist total verrückt.“ flüsterte sein Kollege und grinste. „Kommen Sie doch bitte in mein Büro und erzählen Sie mir alles noch mal ganz genau.“ sagte Markus. Es hörte sich zwar alles fantastisch an, aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass dieses Erlebnis etwas mit dem Mord zu tun haben könnte.
Der kalte Waldboden erschwerte das Warten. Markus und seine Kollegen hatten sich im ganzen Waldgebiet positioniert und warteten angespannt auf den vermeintlichen Wolf. Vier Stunden waren bereits vergangen und die Kälte kroch immer weiter unter die Uniformen. Lange würden sie es hier nicht mehr aushalten. Plötzlich ertönte ein Schuss. „Da vorne ist der Wolf!“ rief einer der Männer und nahm die Verfolgung auf. Jetzt sah auch Markus das riesige Tier. Es war bestimmt zwei Meter groß, lief auf zwei Beinen und stürzte sich hektisch ins Unterholz. „Lasst die Hunde los!“ rief er. Die Schäferhunde nahmen sofort die Fährte des Wolfes auf und rannten mit lautem Gebell in den Wald. Markus hatte Angst bekommen, als er das riesige Tier gesehen hatte, doch die Neugier trieb ihn voran. Auf einer Lichtung erreichte er die Hunde. Sie liefen aufgeregt im Kreis. Wo ist der Wolf? dachte Markus und sah sich verwirrt um. Plötzlich erblickte er in einiger Entfernung den Giebel einer Holzhütte. „Wir teilen uns auf. Die Hundestaffel sucht den Fluss ab, Schultes Gruppe geht rechts und die Anderen sehen sich das Auengebiet an. Heiner und ich sehen uns diese Holzhütte mal genauer an.“ sagte Markus und deutet auf den Giebel.
Die Hütte war alt und verwittert. Unkraut wucherte zu beiden Seiten, nur ein kleiner Pfad ließ erkennen, dass noch vor kurzer Zeit jemand die Hütte betreten haben musste. Markus und sein Kollege schlichen langsam und in geduckter Haltung zum Seitenfenster. Vorsichtig nahm er einen Strauch zur Seite und blickte durch die Scheibe. Er sah einen großen Mann, der mit dem Rücken zu ihm auf einem Stuhl saß. Markus hielt sein Gesicht näher an die Scheibe, um noch mehr erkennen zu können. Plötzlich drehte sich der Mann um und blickte ihm direkt in die Augen. Markus taumelte erschrocken zurück. „Was ist los?“ fragte Heiner. „Er hat gelbe Augen!“ stotterte Markus und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Heiner rannte sofort zum Vordereingang. „Oh nein! Er läuft weg. Ich gebe schnell einen Funkspruch durch!“ Gemeinsam betraten sie nun die Hütte. Der kleine Raum war spartanisch eingerichtet. Aber durch den kleinen Ofen und die Felle auf dem Boden wirkte er irgendwie gemütlich. Plötzlich schrie Heiner auf, er hatte etwas entdeckt. In einer Ecke lag die komplette Hülle eines Wolfes. Markus nahm das Fell hoch und blickte es an. Es sah wie ein Wolf-Anzug aus. Kopf, Zähne, Pranken, alles war vorhanden. Der Mann muss sich dieses abartige Kostüm selbst angefertigt haben. „Wir haben den Mann gefasst!“ knisterte es aus dem Funkgerät.
Später auf dem Revier war aus dem Furcht einflössenden Wolfsmenschen ein geisteskranker Mann geworden. Ohne die gelben Kontaktlinsen und das Wolfskostüm wirkte er harmlos, aber sein Blick ließ Markus trotzdem erschaudern. „Er glaubt, dass er ein Werwolf ist.“ sagte Heiner und schüttelte den Kopf.
Zwei Anstaltsmitarbeiter schoben den Täter mit festem Griff an ihnen vorbei. Plötzlich sah er Markus direkt in die Augen. „Wir sehen uns sehr bald wieder!“ zischte er.