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Die Treppe
Es war ein wunderschöner Sommertag und es begann langsam zu dämmern, die Luft war erfüllt von Gegrilltem und vom frischen Klee und vom nassen Geruch der Pflastersteine in den Parks. Die Stadt war belebt, es herrschte ein stetiges Kommen und Gehen, Menschen kamen von der Arbeit, andere, weniger glückliche, mussten erst zur Arbeit. Es gab Jugendliche in allen Alterstufen, vom halben Kind bis hin zum Abiturienten, die sich auf den Weg machten um Erinnerungen zu sammeln auf ihrem Weg in die Welt der Arbeiten und Pflichten. Doch fast unberührt von all dem Leben stand jener Wohnblock da, wie ein schwarzes Monument, groß und bedrohlich. Und in diesem Wohnblock, genauer, in seiner Vorhalle, saß Tim in seinem Rollstuhl und fixierte entschlossen zwei Worte.
Außer Betrieb.
Es war ein handschriftlicher Zettel, an die Aufzugstür geheftet und Tim las die Worte Dutzende Male, bis er seinen Weg forsetzte.
TIm fuhr ins Treppenhaus, blieb am Fuß der ersten Treppe stehen. Er sah nach oben, zählte neun Stufen, dann um die Ecke und die nächsten neun Stufen, endlos fortgesetzt bis immer weiter nach oben.
Er schluckte schwer, nahm ein kleines Bild aus seiner Hosentasche, abgenutzt und alt und zerknittert vom fielen aus der Tasche ziehen und wieder hineinschieben in ungezählten Tagen wie auch Nächten.
Wieder sah er nach oben, warf das Bild ohne einen zweiten Blick zu riskieren von sich.
Und ließ sich aus seinem Rollstuhl fallen.
Auf Knien und Handballen kroch er durch den Staub, behutsam erklomm er Stufe um Stufe und war bald am oberen Treppenabsatz angekommen, wo er einen kurzen Augenblick durchatmete. Konzentriert, angestrengt und verbissen ging es weiter, die zweite Treppe hinauf bis zum Absatz. Der erste Stock war erreicht, Tim schnaufte bereits schwer, geriet außer Atem, hasste sich dafür. Es musste weiter gehen, er musste ihn Bewegung bleiben.
Die dritte Treppe, der nächste Absatz, Tim keuchte immer mehr. Sein Körper blieb eine Ruine und es spielte keine Rolle wie sehr er sich bemühte, wie sehr er kämpfte.
Doch es musste weitergehen.
„Verdammte…Scheiße!“, keuchte er in den Raum hinein, erschrak vor dem Klang seiner Stimme. Er begann die vierte Treppe, sah den zweiten Stock näher und näher kommen. Dann wiederholte er sich.
„Verdammte…Scheiße…so…eine…Scheiße!“, keuchte er, zwischen jedem Wort holte er tief rasselnd Luft. Seine Stimme hallte durch das Treppenhaus.
Der zweite Stock, er spürte, wie Schweißtropfen seinen Haaransatz hinunterfloßen.
Die nächsten Stufen, mehr Schweiß. Er spürte es überall, unter seinen Armen, auf seinem Rücken, es juckte, es zwickte, es kratzte. Der dritte Stock kam in Sicht. Tim wurde langsam heiß, die Hitze begann, ihm zu Kopf zu steigen. Er riss sich die locker gebundene Krawatte vom Hals, warf sie einfach hinter sich, öffnete dann alle Knöpfe an seinem Hemd. Als die kalten Treppenstufen seine heiße, schweißnasse Haut berührten, war es Tim, als bliebe sein Herz stehen. Doch mit jeder Stufe fühlte er sich etwas besser, kühlte etwas ab. Schnaufend kletterte er weiter.
Der nächste, vierte Stock war schnell erreicht, Tim fasste neuen Mut. Wieder und wieder, schneller und schneller drückte er sich mit den Handballen hoch, seine Muskeln, Knochen und Gelenke begannen aufgrund jahrelanger Vernachlässigung zu protestieren. Es knackte, es schmerzte, es zog wieder und wieder, mehr und mehr, Stufe für Stufe.
ab. Schnaufend kletterte er weiter.
Als der fünfte Stock in Sicht kam wurde Tim wieder entsetzlich heiß, er rastete kurz auf dem Treppenabsatz und zog sein Hemd nun ganz aus. Der Boden war so kalt das Tim nun noch stärker das Gefühl bekam, sein Herz würde die Kälte nicht ertragen können.
Der fünfte Stock war erreicht, jede Bewegung begann zu brennen, zu schmerzen. Besonders seine Schultern fühlten sich schlecht an, als würden sie ihn, wie lange zuvor seine Beine, im Stich lassen.
„Mir…egal!“,rief Tim nun wesentlich lauter, der Schweiß floß noch stärker in seine Augen, fließen und brannte entsetzlich. Er verharrte einen Augenblick und horchte seinem eigenen, erschöpften, röchelndem Atem.
„HÖRT IHR MICH?“, brüllte er und fuhr dann fort, sowohl zu Sprechen, als auch zu Klettern:
„Ich…verrecke…nicht…in…diesem…scheiß…drecks…Treppenhaus!“
Der nächste Treppenabsatz, dann der sechste Stock und die Schmerzen nahmen weiter zu. Hinter Tims Stirn begann es zu Kribbeln, dann zu ziehen und als er den nächsten Absatz erreichte, wurde ihm schlecht.
Mit aller Macht drückte er sein Gewicht über die nächste Stufe auf den Absatz, dann knickten seine Arme ein und er fiel einfach der Länge nach hin, mit dem Gesicht in den Dreck. Ihm war unglaublich schwindelig, langsam wurde er müde. Vielleicht wäre eine kleine Pause angebracht, vielleicht konnte er ein kurzes Nickerchen machen…
Nein.
„Nein…Nein…NEIN!“, brüllte Tim und stieß sich wieder vom Boden ab.
Ihm ging es noch schlechter als zuvor, doch er war wieder wach und bereit, weiterzukämpfen, weiterzukriechen.
Der nächste Absatz, der siebte Stock.
Der Schweiß rann ihm in Strömen in die Augen, jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, seine Gedanken wurden immer stumpfer und stumpfer.
Doch ein Gedanke verließ ihn nicht, auch nicht jetzt.
Du musst weiter.
Der nächste Treppenabsatz, zu dem Schweiß gesellten sich Tränen.
Der achte Stock, wieder gaben seine Arme nach, knickten einfach ein unter dem Gewicht der Ruine, die einst sein Körper war. Doch die Ruine, die einst sein Verstand war, schrie ihn an.
VORWÄRTS!
IMMER WEITER!
Der nächste Absatz, Tim würgte, ihm wurde mit einem mal wieder schwindelig, schlimmer als je zuvor und als er kurz inne hielt, um das Gefühl abzuwarten, begannens seine Arme wie verrückt zu zittern, bis sie ihn dann wieder stürzen ließen. Schwer atmend ging er zu Boden, rollte sich auf den Rücken, spürte die Kälte in seine Glieder kriechen. Seine Augenlider schienen aus blei, sein Körper wie mit den Fliesen verwachsen. Alles war gedämpft, seine Gedanken wurden entsetzlich dumpf, glitten ins leere. Er sah alles so merkwürdig verschwommen, wie im Rausch.
Er sah nach oben, sah die grelle Neonlampe an, die ihm fast völlig die Sicht nahm und dann, nach ein paar Sekunden des Überlegens, erkannte er noch etwas Anderes.
Ein paar Fliegen, einfache Stubenfliegen, schwirrten über ihm.
Wie über einem Kadaver, schoss es ihm durch den Kopf.
Noch nicht.
Tim kämpfte sich ins Bewusstsein, ins Diesseits zurück und zugleich auch zurück auf seinen Bauch. Weiter…
Doch seine Arme begannen wieder zu zittern, als er sie ausstreckte. Sein Rücken, durch die unnatürliche Haltung beim kriechen durch das Treppenhaus auf nie geplante Weise belastet und durch sein Gefängnis auf Rädern geschwächt, sendete brennende Schmerzen durch seinen Körper.
Tim holte tief Luft, stieß dann mit einem mal alles wieder hinaus und seinen Körper vom Boden ab, Stufe um Stufe ging es weiter hinauf. Aus dem Keuchen wurde ein Hecheln, seine Augen brannten durch den Schweiß und begannen furchtbar zu Schmerzen.
Tim kroch blind weiter hinauf, zählte jede Stufe bis zum Absatz. Irgendwo weit unter ihm hörte er eine Tür aufgehen und hastige Schritte. Für einen kurzen Moment fürchtete ein Teil in ihm, jemand würde ihm folgen und ihn finden. Doch genauso hoffte ein Teil von ihm darauf. Für einen Moment war Tim unentschlossen, doch kurz darauf hörte er wieder eine Tür, dieses mal ein wenig näher unter ihm, zuschlagen.
Alles klar, weiter geht’s!
Er hatte aufgehört zu zählen, es gab nun nur noch Fliesen und Wände, die er unter seinen zerschundenen Händen zu fühlen vermochte, kalt und glatt unter ihm und hart und rau an seiner Seite. Er schloss die Augen, kniff sie fest zusammen, versuchte nicht zu viel zu denken, weder an seine Erschöpfung, noch an sein Ziel.
Ausgerechnet jetzt kamen sie wieder zurück, auch an diesem Tag, der so anders angefangen hatte. So lange hatten sie ihn gejagt, gefoltert, ihn verändert und am heutigen Tag war Ruhe gewesen. Bis jetzt.
Er konnte jene Bilder sehen, so glaubte er, war sich sicher.
Es waren seine Eltern, ein gedeckter Mittagstisch, es waren er selbst und sein Bruder.
Sie alle waren es.
Und er hörte nur diese Worte als er ihre Gesichter zu sehen glaubte.
Er hörte sie und sobald es anfing blieb er stehen. Wieder und wieder.
„Mein Gott Tim…
Wieder und wieder hörte er sie.
…warum kannst du nicht…
Seines Vaters tiefe, rauchige Stimme, Tag für Tag.
…so sein wie dein Bruder?“
So oft wieder und wieder hatte er diese Worte an diesem Tisch hören müssen und wie viele tausend und abertausend Male in jedem einzelnen Moment des Zweifels und der Verzweiflung in seinem fortwährenden Leben.
Tim wurde schwindelig, als sich diese Worte in seinem Kopf zu wiederholen schienen, bis sie zu einem Rauschen anschwollen, dass seinen Kopf furchtbar schmerzen ließ. Erneut drückte er sich vom Boden hoch, riss die Augen weit auf, keuchte, spukte aus und sah nach oben, zum nächsten Absatz.
Da konnte er sie sehen, wie er sie zuletzt gesehen hatte, um kein Stück gealtert.
Da stand sein Vater, mit seinen hundertzehn Kilo Kampfgewicht auf einen Meter sechsundneunzig, mit einem seiner rot-kariertem Hemden bis zu seinen dichten Brusthaaren aufgeknöpft. Ein schwer arbeitender Mann mit Händen wie Leder und einem Gesicht, so ernst und bestimmt wie nur das eines Menschen werden kann, der sein Leben auch nur ernst geführt hat.
Und seine Mutter an seiner Seite, leicht hinter seinem massigen Körper verborgen, ihre Hand in der seinen. Eine verbrauchte, erschöpfte Frau der man dennoch einiges von ihrer fast vergangenen Schönheit ansah, mit Haaren, noch immer so schwarz wie in ihren besten Jahren.
Sie sahen auf ihn hinab, sie schüttelten nur den Kopf.
Tim kannte diese Besorgnis, diese Ratlosigkeit in ihren Augen, meist untermalt mit einem Satz.
Ach, Junge! Was machst du nur?
Tim senkte den Kopf, keuchte, fasste dann einen für ihn endgültigen Entschluss und gab in Gedanken die Antwort, die er Jahre zuvor stets versäumt hatte, zu geben.
Ich WEIß schon, was ich mache!
Er hob den Kopf, die beiden waren verschwunden. Es ging weiter.
Durch eines der wenigen Fenster im Treppenhaus konnte Tim sehen, das die Sonne fast völlig verschwunden war. Wie lange kletterte er schon?
Er wusste es nicht, wollte nichts mehr wissen, wollte nur noch weiter, sein Ziel erreichen.
Stufe um Stufe ging es weiter, in seinem Kopf glaubte er, ganz leise, noch mehr zu hören, Stimmen, Gelächter.
Der nächste Absatz, dann hörte er wieder eine Stimme, so deutlich, als hätte tatsächlich jemand gesprochen und ihr Klang raubte Tim den dringend nötigen Atem.
„Warte!“, hörte er es hinter sich und rollte auf die Seite, warf einen Blick über seine Schulter zurück.
Er konnte sie sehen. Es war fast so umwerfend wie beim ersten Mal, als er dieses unglaublich schöne, engelsgleiche Gesicht gesehen hatte. Blondes Haar, wie gold und ein voller weicher Mund und ein Lächeln, das einfach so richtig aussah, als hätte man sie zum Lächeln geschaffen, als wäre sie dazu gemacht, dieses Strahlen in die Welt zu tragen. Sie war der Schlüssel, sie war die Lösung, sie war fast mehr als er ertragen konnte.
Und dort hinter ihm, kam sie die Treppe hinauf, kam ihm entgegen, die Arme ausgebreitet, ihm in die seinen zu fallen.
Er wusste irgendwo, dass sie nicht wahr, nicht real sein konnte, sie war schon zu lange tot um dort zu sein. Doch er wollte dennoch antworten, für ihn hatten Dinge wie Realität oder Wahrheit keinen Platz in diesem Moment.
„Keine Sorge“, kahm ihm eine seiner eigenen so ähnlichen Stimme zuvor, „Ich bleibe bei dir!“
Jemand kam auf dem Absatz zum Vorschein, ein junger Mann, höchstens dreißig Jahre alt, mit einem fein geschnittenen Gesicht und kurzem, schwarzen Haar, auf dem Kopf wie um sein Kinn. Er hatte die Augen seiner Mutter und das Lächeln eines kleinen Jungen, der den ganzen Sommer mit seinen Freunden so erlebt, wie es nur kleine Jungen können. Ein Lächeln, für das es keinen Anfang gab, kein Ende, keine Sorgen.
Er lächelte auch dieses Mal, einnehmend, liebenswert, doch Tim wollte dieses Lächeln nicht sehen und als der Mann sich leicht zu ihm hinunterbeugte wollte er es ihm einschlagen, sein Lächeln, sein Gesicht, seinen Schädel, wollte ihn packen und wieder und wieder zuschlagen.
Denn vielleicht würde es dann aufhören, Tim zu verfolgen, dieses furchtbare Lächeln.
Der Mann richtete sich wieder auf, lachte lautlos, mit leuchtenden Augen und stieg über Tim hinweg, über das, was von seinem einst so vielverpsrechenden Bruder übrig geblieben war als ihm klar wurde, dass dies Glück das auf ihn zukam nicht das seine war.
Sie wäre es gewesen, sie wäre die Frau an Tim´s Seite gewesen. Die geliebte des Helden, für die er große Taten vollbringt.
Doch sie wählte jemand anders.
Aus dem Held wurde eine gefallene Kreatur, verbittert und krank und mörderisch.
Die beiden erreichten einander und sahen sich endlos vertraut in die Augen, um sich dann leidenschaftlich zu küssen. Für Tim war es wieder wie damals, war es einer der Momente, die ihm den Verstand hatten verlieren lassen. Sie stiegen über ihn hinweg, wie er dort lag, gefallen, zerschlagen und es kümmerte sie keine Sekunde.
Das war einfach nicht fair!
Tim war ein Lebensweg voller Erfolg und Glück vorgezeichnet, doch jemand Anders hatte überall seinen Platz eingenommen. Er schluckte schwer, der Anblick ließ sein Herz so heftig schlagen, dass er fürchtete, es könnte daran kaputtgehen.
Er wollte ihnen die Wahrheit entgegen brüllen, wollte sie auseinander reißen, ihnen ins Gesicht schreien. Wollte ihnen erzählen, dass er an jenem Tag ganz vergessen hatte, ihnen zu sagen, dass die Bremsen seines Polos nicht mehr richtig funktionierten. Er wollte ihnen erzählen, dass die Strecke zum See, die er ihnen empfohlen hatte ganz bewusst an jener Haarnadelkurve vorbeiführte, bei der er selbst mit tadellosen Bremsen immer mal wieder vom Weg abkam und nur knapp vor dem Abhang zum stehen kommen konnte. Wollte ihnen erzählen das er kurz zuvor, als er alles noch mal überprüft hatte, versehentlich eine der Bremsleitungen beschädigt hatte.
Er wollte ihnen so Einiges sagen. Doch es war zu spät.
Tim war wahnsinnig geworden, verzweifelt und dieser eine Moment des Wahnsinns, dieser eine Moment war der, auf den es letztendlich ankam.
Tim fing zu weinen an, hemmunglos und aus tiefstem Herzen.
Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich um, kämpfte sich die nächsten Stufen hoch. Es musste sein, musste einfach sein. Er rieb sich die Hände mit seinen schmutzigen Fäusten trocken, fuhr mit dem Unterarm über seine Stirn, fuhr verbissen fort.
Mein Gott! Wie viel hätte er für eine Flasche Schnaps gegeben, für nur ein einziges Glas teures, brennendes Vergessen. Doch er konnte und wollte nicht mehr davonlaufen, nicht jetzt. Er würde es endlich schaffen. Die nächsten Stufen konnte er noch mit schmerzendem Rücken und zitternden Armen hinter sich bringen, dann rollte er sich wieder auf den Absatz und sah nach oben.
Das dreizehnte Stockwerk war erreicht, zwei standen noch aus, zwei Stockwerke musste er noch hinter sich bringen, dann würde er auf dem Dach ankommen.
Tim holte tief Luft, versuchte sich hochzurücken, doch seine Arme gaben dieses Mal sofort, ohne langes Zittern nach und er schlug hart auf die Stufen auf. Ein beißender Schmerz umfing sein Gesicht und er spürte Blut aus seiner Nase auf seine Oberlippe fließen, langsam und dickflüssig seinen Rachen hinuntergleiten.
Er würgte daran, ihm blieb die Luft weg. Langsam begann er nach dem schmiedeeisernen Geländer zu tasten. Er musste es schaffen, es blieb nicht mehr viel Zeit. Er griff nach dem Geländer, fasste mit einem Mal neuen Mut, neue Kraft, zog mit aller Gewalt, mit all der Kraft die noch in ihm steckte.
Er spürte Stufe wie Stufe unter ihm davongleiten und schob seinen Oberkörper auf den Absatz, robbte dann weiter, blieb schwer atmend liegen. Lange schon hatte er das Treppenhaus verlassen, lange schon war dies nicht mehr der riesige Wohnblock, in dem er als junger Student gewohnt hatte. Dieser Ort, diese Treppe, war längst etwas Anderes für ihn geworden.
Er sah wieder nach oben und sah wieder etwas, dass einfach nicht existieren durfte.
Nicht hier.
Es war seine Frau, seine Ex-Frau, ein Gesicht, nie wirklich geliebt, jedoch sehr geschätzt und letztendlich verhasst. Ein Gesicht, dass ihn schon lange Zeit nicht mehr verträumt und verliebt angesehen hatte, sondern mittlerweile nur noch feindselig.
Als hätte sie es gespürt.
Ein Teil von ihm starb jeden Tag, den sie zusammenlebten, in dem jemand anders nicht ihren Platz eingenommen hatte. Doch sie sah nicht mehr feindselig aus, sondern einfach nur grenzenlos traurig, nicht wütend oder vorwurfsvoll.
Und mit einem Mal verstand Tim sie, so wie nie zuvor, alle Wut auf sie, aller Hass war verschwunden und es gab nur noch Bedauern. Sie konnte nichts dafür, konnte ihm nicht helfen.
Sie trat wortlos zur Seite und ein kleiner Junge kam zum Vorschein, vielleicht acht Jahre alt, mit dichten braunen Locken und wache, klugen Augen, so blau wie der Himmel. Der Junge sah ihn lange an, ohne zu lächeln. Tim blieb fast das Herz stehen.
Es war falsch, er durfte ihn nicht mehr sehen, er war nicht mehr sein Kind, darüber hatte ein Mann in einer Robe entschieden, den Hammer zum Entschluß geschwungen. Doch da stand er doch, ihm gegenüber, nur neun Stufen entfernt.
Was für ein wundervoller Junge.
Was für ein Geschenk, was für ein Traum.
Mit einem Mal fühlte Tim sich sehr, sehr schwach.
Doch auch sehr, sehr glücklich.
Er zog sich, Stufe um Stufe, langsam hinauf und ließ dabei seinen Sohn nicht aus den Augen, der seinen Vater nun doch mit einem Lächeln erwartete. Als Tim den vierzehnten Stock fast erreicht hatte, hob sein Sohn die Hand.
Er winkte ihm zum Abschied.
Dann waren sie verschwunden, so schnell, wie sie erschienen waren.
Sie waren so real gewesen wie alle anderen Menschen, doch, von einem Moment auf den anderen waren sie seinen Fingern entglitten. So wie alles Andere, dass ihm je sein Leben bedeutet hatte.
Doch Tim war nicht mehr traurig. Es war genug, er hatte alles gesehen, die ganze Wahrheit, ungeschönt, unverfälscht.
Er war bereit.
Die Erschöpfung, die Übelkeit, die Angst, alles war wie weggeblasen und ruhig, ruhiger noch als er das Treppenhaus betreten hatte, drückte er sich wieder vom Boden weg und erklomm langsam und bedächtig die nächsten neun Stufen bis zum Absatz.
Er konnte nun die Tür sehen, die auf das Dach hinaus führte.
Sonst sah er nichts mehr, keine Toten, keine Lebenden, er hörte keine Stimmen mehr und fühlte nichts als Dankbarkeit. So abwegig es ihm am Fuß der Treppe hätte vorkommen müssen es zu lieben, so abwegig kam es ihm nun vor, das Leben zu hassen..
Völlig ruhig erklomm er die nächsten Stufen, erreichte dann den Gang zur Stahlttür, die auf das Dach hinausführte. Er kroch hindurch, durch Staub und Dreck und Ungeziefer hindurch, von der Hüfte abwärts tot, ein Rabenvater, ein Säufer, ein Mörder mit dem breitesten Lächeln seit langer, langer Zeit.
Er erreichte die Tür, zog sich an der Klinke ein wenig in eine aufrechte Position, stieß sie dann auf und tauchte ein in die nasskalte Abendluft. Es war wie damals, unten am Stausee, als er noch ein kleiner, dummer Junge gewesen war, der dachte, er könnte ewig Leben. Als er zum allerersten Mal dort gewesen war, mit seinem Vater und seinem Bruder, zum allerersten Mal die Sonne hatte vom Wasser widerscheinen sehen.
Er war hinuntergetaucht, hatte versucht, den Grund zu finden ohne zu wissen, wie tief es wirklich nach unten ging und hatte seine Luftreserven bis zum letzten Moment ausgereizt, war dann nach einer halben Ewigkeit aufgetaucht. Er hatte das drückende, schmerzende Wasser durchstoßen und war zu der klaren, warmen Luft durchgedrungen, obwohl ein Teil von ihm zuvor immer fürchtete, dass sein Atem nicht reichen und er nicht mehr auftauchen würde.
Doch er war aufgetaucht mit einem wuchtigen Stoß und hatte in das hellrot funkelnde Sonnenlicht geblickt, so schön, wie es nur im Spätsommer sein konnte, kurz bevor es dunkel wurde.
Er hatte diesen Moment nie vergessen.
Es war genau wie damals.
Tim kroch auf das Dach, es regnete leicht und dennoch war der Mond am Himmel zu erkennen, voll und strahlend ließ er jeden Tropfen hell funkeln.
Er kroch durch den nassen Dreck auf den Dachfirst zu, den Blick zu Boden gewandt, als er plötzlich in eine Pfütze sah. Doch es war kein verbrauchter, kaputter Mann mehr, der ihm entgegen sah. Sein Haar schien wieder voller geworden zu sein, seine Augen wacher. Er schien so gesund, so befreit, wie damals, als er das Letzte Mal auf diesem Dach gesessen hatte. Er sah nach vorn, sah den Dachfirst im Mondschein silbrig glänzen.
Tim seufzte und kroch die letzten Meter zum Dachfirst, blickte über die Kante, fünfzehn Stockwerke hinunter.
Er warf einen letzten Blick auf den Mond und all die fallenden, funkelnden Diamanten, die er schuf, stieß sich dann ein letztes Mal vom Boden ab, meisterte eine letzte Stufe, glitt über sie hinaus ins Nichts.
Als er den Boden immer näher kommen sah, hatte er keine Angst. Nicht vor dem Aufprall, nicht vor den Schmerzen. Er stellte sich nur noch die letzte Frage, jene, die sich jeder Mann stellt, kurz bevor es vorbei ist.
Sollte er dafür gelebt haben?
Ja.
Das wäre sehr schön.