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Die Treppenagathe

Bas

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16.09.2018
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Anmerkungen zum Text

Wer Interesse hat, tiefer einzutauchen: Hier tauchen Agathe und der Schmied zum ersten Mal auf. Hier erfährt man mehr über Agathes Mutter – und ihre Tochter.

Die Treppenagathe

Der Schmied packt zusammen. An einem Regentag wie heute wagen sich die Leute nicht raus, da erledigen sie das Nötigste und gehen keinen Schritt weiter.
Ja, der Regen ist schuld. Überhaupt das Wetter, aber auch die Leute selbst. Denn als der Schmied jung war, hätte ihn das bisschen Nass nicht aufgehalten. Da hätte ihn überhaupt nichts aufgehalten, da war er wie ein Stier – Blick auf den Boden und dann die Hörner voraus. Ganz egal, was sich in den Weg stellt. Denn nur so hat er es ja so weit geschafft. Die eigene Schmiede, ganz ohne Hilfe. Und trotzdem geht das Pack jetzt zum Kristoffersen und seinem Sohn, mit ihrer neuen Gerätschaft aus der Stadt. Geht ja alles viel schneller. Aber Handwerk ist das nicht. Was der Schmied schafft, ist für immer, für die Ewigkeit, da unterscheidet er sich auch deutlich von den Menschen. Er lebt fort, ist unendlich. Und die Menschen selbst sind ja Bäume, sind kein Metall, sie sind aus Holz und sie verfaulen von etwas Regen und …
»Machst du schon Feierabend, Schmied?«
Will einer wissen, in seinem Mantel, triefend nass.
»Ja«, sagt der Schmied bloß, schaut kaum hin. Einen Auftrag könnte er schon brauchen, Geld wächst nicht auf Bäumen, aber für heute hat er genug, will keinen mehr sehen.
»Für einen alten Freund machst du doch sicher eine Ausnahme?«
»Musst mich verwechseln, ich hab keine Freunde.«
»Aber, aber, Schmied, du irrst dich. Ich bin ein Freund der Familie. Soll sogar Grüße ausrichten, von deiner Frau.«
Da dreht sich der Schmied dann doch um und sieht, wen er nicht sehen will.
»Danilo Semëryč.«
»Kennst du mich also doch! Jedenfalls, meine Anjuschka braucht neue Eisen und da dachte ich, ich statte dir mal wieder einen Besuch ab. Wird ja nicht viel kosten? Wohl eher gar nichts? Und einen Schnaps hast du wohl auch da, zum Anstoßen, auf die Freundschaft?«
»Was sprichst du von meiner toten Frau?«, haucht der Schmied in den Ofen, dass man es kaum hört.
»Ach ja, der arme Witwer … Gestürzt von den Stufen, war’s nicht so? Mit dem Kind noch im Bauch. Die deshalb wurde, wie sie jetzt ist – dumm wie Stroh, deshalb sitzt sie ja auch da draußen im Regen«, lacht der Kutscher.
»Sitzt sie wieder draußen?« Und der Schmied legt die Zange ab und stapft zur Tür. Zieht das lahme Bein nach, lässt es über den rußigen Boden schleifen, was er vor Kunden sonst nicht macht. Da ist er bedacht. Da muss er zeigen, dass er wer ist, der Ewige Schmied. Aber Danilo Semëryč ist kein Kunde und die Agathe sitzt nicht draußen.
»Da sitzt keiner.«
»Dann hab ich mich wohl versehen«, lacht der Kutscher wieder.
Und der Schmied sieht ihn an und ist noch immer ein Stier, hat noch immer die Hörner und er weiß sie zu nutzen. Aber er hat auch Angst. Weil er weiß, was der andere weiß. Und geht deshalb zurück zu seinem Ofen.
»Gibt einen neuen Polizist jetzt in N., den Lundin. Großes Tier. War schon in Halm. Ein Schnüffler. Jedenfalls, mit deiner Frau, mit der ist’s aus jetzt, und diesmal wirklich. Hat sich erhängt. Wird nicht mehr reden, das kannst du glauben.«
Schweißperlen rinnen über das glutgefärbte Gesicht des Schmieds. Der sonst keine Miene verzieht.
»Aber dass die Leute dann umso mehr reden, kannst du dir denken. Da kommt dann eines zum andern. Dann erzählt der eine, was er gehört hat und auch der andere hat sie gesehen. Lange her. Hieß auch noch anders. Sah anders aus. Aber wohl hier. Bei dir. In der Schmiede.«
Wasser zischt, Dampf steigt auf, als der Schmied das Eisen eintaucht.
»Und dass der Schnüffler da dann große Ohren macht, kannst du ja glauben. Aber zum Glück war ich auch da und konnte alles bezeugen. Das mit den Stufen und dem armen Witwer und wenn einer sich auskennt, dann der Kutscher. Der kommt ja rum, der spricht mit jedem. Dem vertraut man. Auch mal ein Kind an. ’nen kleinen Säugling. Aber das weiß keiner, falls du dich fragst.«
»Hab ich mich gefragt? Hab ich nicht gehört. Wo ist deine Stute, die Eisen sind fertig.«
»Steht gleich da draußen, soll ich dich stützen? Läufst ja gar nicht mehr rund, Schmied, ist wohl das Alter. Vielleicht auch das Gewissen, das dich plagt? Also die Kleine …«
»Sprich nicht so laut, Semëryč.«
»Wer soll mich denn hören? Brummt ja nicht gerade, der Laden, rennt dir wohl kaum wer die Tür ein. Die Kleine hat jetzt also eine Narbe, von ihrem Bruder, haut ihr den Stock quer durch’s Gesicht, ritsch ratsch. Sagt keinen Ton, wieso und warum. Kinder. Aber noch immer Zucker, noch immer schön, das kleine Mädchen. Ganz wie die Mutter. Wie die Agathe.«
»Halt deine Schnauze, hab ich gesagt!«
»Spricht man so mit alten Freunden, Schmied?«
»Hast du gerufen, Vater?«
In der Haustür steht die Agathe. Mit einer Schürze um und welligem Haar.
»Soll die ganze Kälte ins Haus kommen? Stehst da in der Tür rum und glotzt! Dann kannst du ja auch sehen, dass ich Kundschaft hab und warum soll ich dich da rufen, du kannst ja doch nichts, geh wieder rein jetzt, gleich komm ich essen!«

Und Agathe geht wieder rein und fühlt sich schlecht. Jetzt hat der Vater endlich Kundschaft und sie stört. Er saß ja den ganzen Tag da, in seiner Schmiede mit seinen Gedanken und sonst nichts zu tun. Und sicher dachte er auch wieder daran, was für eine Last so eine Tochter ist. Die nichts kann und trotzdem kostet. Und warum eine Tochter, warum kein Sohn. Wie der Kristoffersen. Dann würde es laufen, das Geschäft, dann könnte er sich neue Gerätschaften kaufen und müsste nicht als alter Mann noch da stehen und schuften wie ein Esel.
Kann einem fast leid tun. Könnte sich aber auch selbst leid tun, die Agathe. Die ja hier festsitzt, mit ihrem Vater. Der sie nicht rauslässt, nur mal zum Laden. Und sonst schrubbt sie und kocht und hört sein Schmatzen und seinen Unsinn. Er spricht ja fast nur von Bäumen. Früher hatten die Bäume ja noch Flügel, kann er sagen, und flogen von Planet zu Planet. Ließen sie sich auf der Erde nieder und wurden Wälder. Und dann zogen manche von ihnen die Wurzeln aus der Erde heraus und wurden Menschen und auch ihre Mutter war ein Baum und Agathe war ein fauler Apfel, der hinabfiel. Doch sogar Agathe weiß, dass das nicht wahr ist. Denn auch sie weiß von den Stufen und dass die Mutter tot ist. Dass Agathe bei dem Sturz noch im Bauch war und als der Arzt sie dann da herausschnitt, hatte sie am Kopf eine Beule und seitdem ist sie dumm. Das weiß sie aus dem Laden. Denn wo sonst sieht sie Leute, wo sonst hört sie eine andere Stimmen als die hohle ihres Vaters.
Außer heute. Die vom Kutscher. Als sie auf der Bank saß, im warmen Regen. Weil sie das gerne hat und da kam der Kutscher und sprach sie an, ob sie die Agathe sei, sie sei so groß jetzt, fast wie die Mutter, schon richtig Frau. Und sie hörte noch mehr, aus der Schmiede, aber dann hörte sie das Humpeln und das Keuchen und dann streckte der Vater seinen Kopf zur Tür raus. Und Agathe presste sich flach an die Wand. Ging lieber rein dann. Kochte die Grütze. Und da steht sie jetzt noch immer, am Herd, sie rührt die Grütze und hört die Hufe, dann ist der Kutscher wohl fort. Dann kommt der Vater wohl auch gleich. Dann sitzt sie wieder da und hört sein Schmatzen und seinen Unsinn von seinen Bäumen und sehnt sich weg hier, nach woanders.

***​

Und ab da wurde es schlimmer. Mit dem Vater. Jetzt war er noch misstrauischer als sonst. Er fragte gleich, wo sie gesteckt hat. So lange war. Ist ja bloß der Laden. So weit ist der nicht. Ob jemand mit ihr gesprochen hat, auch nur geguckt hat. Agathe sagte nein, aber geglaubt wurde ihr nicht.
Sonst bleibt er draußen, in seiner Schmiede, und Agathe bleibt hier. Putzt die Kartoffeln, denkt an die Mutter. Wie sie wohl war. Und wie es wäre. Wenn sie noch wär.
Und nur kurz, weil es so weh tut, auch an die Händchen. Die kleinen Finger, wie krumme Bohnen. Die nach ihr greifen. An ihre Tochter.
Das Wechselbalg.
Die Brut vom Fremden.
Das bleibt nicht hier!
Das kannst du glauben!
Sobald’s da raus ist, kommt’s in den Ofen,
und du am besten hinterher!
Sagte der Vater. Aber zumindest da hin kam es dann doch nicht. Bloß in den Sack. Wie die Kartoffeln. Und der Vater trat spät in der Nacht mit dem Sack vor die Tür.
Und Agathe lag im Bett und sah verschwommen hinauf zur Decke, sah zu den Balken, ob die sie tragen? Sah durch die Seen in ihren Augen, hörte den Regen, der aufs Dach fiel. Hörte das Knallen einer Peitsche, danach die Räder einer Kutsche. Die sich dann nach und nach entfernte.

Und Agathe denkt. Kommt nicht zum Ende. Sie schrubbt den Boden und denkt in Kreisen, sie kommt zum Anfang und sieht nur ihn, den alten Vater. Wie er da steht. Im kalten Regen. Mit seinem Sack. Und den Kartoffeln. Die ja ihr Kind sind.

***​

Als er in die Stube tritt, setzt er sich gleich an den Tisch. Wäscht sich davor nicht die Hände. Das macht er nie, denn wozu, werden ja doch wieder dreckig.
»Der verdammte Kristoffersen«, fängt er an, »mit seiner neuen Gerätschaft«, und schmatzt.
Was soll sie da sagen?
»Und was ist mit dem Handwerk, hä? Ist das noch Handwerk? Und was macht der Kristoffersen, wenn die Leute herausfinden, dass es keinen Kristoffersen braucht, um so einen Apparat zu bedienen? Dass das jeder Esel kann?«
»I-ah«, sagt Agathe da, denn was soll man sonst dazu sagen.
»Ja, ja, mach du nur deine Späße, du hast ja deinen privaten Esel, der für dich schuftet, du musst dir ja keine Gedanken machen, du fauler Apfel! Sitzt da und drehst Däumchen und glaubst, das Essen fällt von den Bäumen! Wart bloß mal ab, wenn dein Esel nicht mehr da ist, was machst du dann? Hast du daran schon mal gedacht? Aber du denkst ja an gar nichts, dafür bist du ja zu dumm, in deinem Schädel sitzt ja kein einziger Gedanke, höchstens ein Wurm, und der kann einem leid tun, weil er da kläglich verhungert! Was weißt du denn vom Leben? Von den Menschen? Davon, dass sie mal Bäume waren, davon hast du wohl schon gehört? Aber wahrscheinlich doch nichts behalten, da zieht ja nur der Wind durch, durch deinen Schädel …«
Und da greift die Agathe mit der Hand in die Schüssel und wirft dem Vater die Grütze ins Gesicht.

Und der Schmied hat ja nur darauf gewartet. Schon lange. Hat es geahnt. Dass sie nach ihr kommt, nach ihrer Mutter, der alten Hexe. Schon bei der Sache mit dem Knecht wusste er Bescheid und deshalb sagt er auch jetzt nichts zu ihrer Frechheit. Sagt gar nichts. Sitzt weiter da, wischt sich die Grütze nicht mal aus dem Bart. Isst seine eigene Grütze weiter und sieht sie an, mit Schleim in den Wimpern, mit Brocken an der Wange, einer löst sich, fällt wie schmelzender Schnee vom Dach, im Frühling, und als Agathe es nicht mehr aushält, geht sie nach oben, auf ihr Zimmer. Und es schüttelt ihn und er überlegt, was er als nächstes mit ihr macht.
Doch auch als nächstes macht er gar nichts. Alles geht seinen gewohnten Gang. Vielleicht hat er’s verstanden, denkt Agathe. Dass sie was verstanden hat, obwohl sie dumm ist. Geht sogar selbst zum Laden, eines Tages. Bleib heute hier, meine Agathe, hat er gesagt, ich übernehm das. Kommt ja doch keiner her, sind wir mal ehrlich.

Dann aber doch. Tage später. Als Agathe auf der Bank sitzt. Kommt eine Kutsche. Und sie kennt den jungen Mann, der sie lenkt, es ist der Sohn vom Kristoffersen, und neben ihm sitzt der Kristoffersen selbst. Die beiden Männer steigen ab, bleiben kurz stehen, sagen Guten Tag, grüß dich Agathe, gehen in die Schmiede und kommen zu dritt wieder raus. Mit dem Schmied, dem man das lahme Bein nicht ansieht. Ganz im Gegenteil, er sieht ja wichtig aus, wie er jetzt da steht und gestikuliert und sagt: »Dann zeigt mal her.«
Und der Kristoffersen und sein Sohn lösen die Plane an der Kutsche und der Schmied kneift das linke Auge zusammen und reckt das Kinn hoch, kratzt sich den Bart an seiner Wange. Verschränkt die Arme. Er zündet ein Feuerwerk an Gesten und macht so mächtig Eindruck auf die beiden anderen.
»Es ist natürlich gebraucht, aber das wirkt sich ja im Umkehrschluss auch auf den Preis aus. Ein Neues ist kaum bezahlbar«, sagt der Kristoffersen, als würde er sich entschuldigen.
»Ja, nun, auf die paar Taler kommt’s mir kaum an«, sagt der Schmied bloß und wendet sich dann an den Sohn. »Du weißt wohl schon Bescheid? Hat dir dein Vater wohl schon berichtet, auf der Fahrt hier her, wohl auch schon früher? Wie man mich nennt?«
»Jawoll, Herr Olaus, das weiß ich«, nickt der Sohn.
»He he, ja, Herr Olaus, aber auch den Ewigen Schmied.« Und er schürzt die Lippen und und fährt mit den ungewaschenen Fingern darüber. »Ich mache hier ja echtes Handwerk, schon seit Jahrzehnten, ganz ohne Hilfe. Und das wird noch vieles überdauern, so manchen Menschen, he he.« Und er zwinkert.
»Ach so, ja, davon habe ich gehört«, sagt der Sohn.
»Jedenfalls, Olaus, laden wir jetzt ab, das Geld gibst du dann wie besprochen der Bank. Man kennt mich da, der Name wird genug sein«, sagt der Kristoffersen und der Schmied nickt. Wie im Halbkreis, in einem Bogen, und auch der Kristoffersen sieht’s und schüttelt den Kopf, während er ablädt.

»Also dann«, sagt er wenig später, noch außer Puste. Wischt sich den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn und reicht dem Schmied dann seine Hand.
»Ja, also dann«, sagt auch der Schmied und rollt die Schultern und nimmt die Hand und nickt dem Sohn zu und sagt noch: »Denk dran! Wie man mich nennt!«
Und der Sohn nickt auch und sagt ja, Herr Olaus, und Kristoffersen wischt sich noch mal mit dem Tuch über die Hand und dann fahren sie fort.

***​

Jetzt dringen neue Geräusche aus der Schmiede, jetzt sieht man den Schmied kaum noch. Das Essen stellt Agathe jetzt auf die Werkbank und der Vater ist wie ein Fuchs, der in den Bau kriecht. Der halbe Körper steckt ja in der neuen Gerätschaft, und er hämmert und er flucht, verdammter Kristoffersen, hört sie ihn sagen, mit seinem Tuch und seiner Bank, wo man seinen Namen ja so gut kennt und sein frecher Sohn erst und wenn die wüssten und Agathe geht hinaus und genießt die neue Freiheit in der Stube.
Aber sie merkt auch, dass es schwer fällt, denn wo sie früher an den Regen gedacht hat und an die Wolken, an das Gras, das sich im Wind wiegt und an die Meisen draußen am Fenster, denkt sie jetzt immer wieder an die Worte des Vaters und was sie tun wird, wenn er nicht da ist. Dann hat sie niemand.
Sie könnte arbeiten im Laden, doch schon der Einkauf fällt ihr schwer. Sie spürt die Blicke der Leute ja viel zu tief in ihre Haut dringen. Wie wenn sie barfuß im Sommer in eine Tannennadel tritt. Und sie weiß ja immer ganz genau, was sie besorgen muss, doch es kann vorkommen, dass mal kein Hafer da ist, dass die Lieferung sich verzögert, und dann steht sie da und weiß nicht weiter.
»Was darf es sonst sein«, fragt der Gehilfe und Agathe lächelt und zeigt ihre Zähne und wird rot.
»Armes Mädchen«, sagt die Frau vom Kaufmann, »aber wen wundert’s, bei so ’nem Unmensch«, sagt sie noch, »sogar der Kristoffersen versucht zu helfen«, und gibt ihr zwei Äpfel. »Die sind für dich, für keinen sonst!«

Und jetzt sitzt Agathe in der Stube und denkt im Kreis und isst den Apfel und da tritt der Vater in den Raum.
»So.« Sagt er bloß. Und sieht zum Apfel.
Und Agathe sagt nichts.
»Dann komm mal mit«, sagt der Schmied da, und Agathe folgt ihm, legt noch den Apfel auf dem Tisch ab, geht durch die Tür. Es herrscht ein Nebel sondergleichen. Jetzt schon seit Tagen. Man sieht fast gar nichts, sieht selbst den Mollehügel nicht.
»Geh da rein«, sagt der Vater, stößt seine Tochter, dass sie kurz stolpert, und schließt die Tür.
»Das ist ein neuer Apparat.«
Agathe weiß schon, sagt deshalb nichts.
»Und du isst jetzt Äpfel?«
Agathe schweigt.
»Ja, besser schweigen, anstatt zu lügen. Aber teilen wolltest du wohl nicht?«
»Die Frau vom Kaufmann …«
»Was interessiert mich die Frau vom Kaufmann! Was interessiert mich überhaupt wer! Vor allem Frauen, Teufelsweiber, allesamt!«
Was soll sie dazu sagen.
»Jedenfalls ist das ein neuer Apparat. Aus der Stadt. Man muss ja mit der Zeit gehen, hab ich gedacht, man muss ja auch sehen, wo man bleibt. Ich war ja dem Fortschritt auch von Beginn an nicht abgeneigt, wo käme man denn hin, wen man nur auf der Stelle tritt, sich nicht vorauswagt? Und außerdem dachte ich dann noch: Kinder sind die Zukunft! Und deshalb will ich dir jetzt zeigen, wie der Apparat funktioniert. Denn wenn ich, wenn der Ewige Schmied nicht mehr da ist, dann ist es an dir, weiterzumachen. Dann setzt du deinen Namen bei der Bank unter die Briefe – Agathe Olaussohn, ja, genau, ein Wechsel über fünfhundert Taler, das ist ja gar nichts, wirst du dann sagen, und dann holst du dein Tuch heraus und wischst dir die feuchte Tinte von den Fingern, he he. Genug der Worte!«
Und der Schmied klatscht in die Hände und vor den Fenstern sitzt der Nebel, so dick wie Schnee, sonst ist da keiner.
»Zuerst legst du dort deinen Arm rein.«
Und Agathe stutzt.
»Steh da nicht rum und mach, was ich dir sage!«
Was soll sie tun? Die Gerätschaft macht ihr Angst, ist wie ein Bär mit zwanzig Hebeln und dreizehn Rädern, aber sie kann ja froh sein. Denn vielleicht wird ja alles gut. Vielleicht ist das ja ihre Zukunft.
»Und jetzt greifst du nach oben.«
Und sie greift nach oben, den Arm im rechten Winkel, und spürt eine Kugel, groß wie ein Apfel.
»Leg deine Hand da um die Kugel« und der Schmied sabbert, als er es ausspricht, »und drück fest zu.« Und Agathe drückt und der Schmied zieht an einem der zwanzig Hebel und sie hört es knacken, sie spürt, wie ihre Hand da drin zertrümmert wird. Wie die Kugel gegen die Wand schlägt, immer wieder, jetzt ist da nichts mehr, womit sie greifen kann, nur noch Schmerz, der in den Kopf steigt, so dicht wie Nebel, aber nicht weiß und still, sondern rot und laut und sie zieht an ihrem Arm und fällt nach hinten und von ihrer Hand ist nichts mehr übrig. Der Arm liegt neben ihr im rechten Winkel und noch in drei Winkeln mehr und über ihr steht der Vater, der Ewige Vater, und drückt den Stiefel in die tote Masse und drückt noch zu, als wär’s ein Käfer und spuckt der Tochter ins Gesicht.
»Verfluchte Göre! Das lässt du dir nicht gefallen, vom Kristoffersen, hab ich recht? Das erzählst du im Dorf rum, im Laden, der Frau vom Kaufmann und dem Kaufmann selbst und auch am Gericht, wenn sie dich fragen - schuld ist der Apparat, du wolltest nur mal probieren und dann ist das da passiert«, und er drückt noch mal zu, mit seinem Stiefel, und Agathe wird schwarz vor Augen, schwarz und rot im Wechsel, und als sie aufwacht, in ihrem Zimmer, liegt auf dem Nachtschrank nur ein verfaulter, toter Apfel.

***​

Irgendwann kommt der Arzt vorbei. Erst hört sie Gemurmel, unten in der Stube, dann geht die Tür auf, sie sieht den Kittel und dann den Vater und riecht den beißenden Gestank, fällt dann zurück in ihren Schlaf.
Und dann noch mehr, andere Menschen und immer Männer, sie stellen Fragen. Agathe nickt. Wenns in ihr nein sagt. Schüttelt den Kopf, in ihr schreits ja. Draußen wirds hell, draußen wirds dunkel, sie hört die Meisen und den Vater, er bringt ihr Grütze, er spricht von Bäumen.
Und er wird älter. Sie hört ihn keuchen, er schafft es kaum bis in ihr Zimmer. Er bleibt schon stehen auf der Treppe. Bleibt noch mal stehen vor der Tür. Sie hört ihn schnaufen. Doch als er eintritt. Rollt er die Schultern. Kratzt seine Wange. Schürzt seine Lippen. Ist wieder ewig. Spricht vom Gericht und spricht vom Urteil, jetzt ist Kristoffersen bankrott.
Aber Agathe hört nicht zu. Agathe denkt sich weg. Denkt an den Sack und an den Kutscher und ballt die Fäuste, spürt den Schmerz. Weil etwas fehlt. Nicht nur die Faust.

Und der Schmied keucht weiter auf der Treppe und in der Hand hält er die Grütze, er zieht sein Bein nach, hält kurz inne, geht dann weiter, bleibt dann stehen. Denn auf dem Absatz steht Agathe. Jetzt hat der Nebel sich gelöst. Und Agathe ist für immer. Ist die Ewige Agathe. Ist ihre Mutter und die Tochter und jetzt stehen sie zu dritt da und jede tritt den alten Mann, tritt ihn da runter von der Treppe, und da stürzt der alte Olaus und kommt so blöd mit dem Genick auf, dass es kracht
wie ein Zweig
an dem Baum,
der er ist.

Und Agathe steigt hinab.
Steigt von der Treppe,
von den Stufen.
Greift einen Sack.
Verlässt die Stube.
Streift ihn noch kurz mit ihren Wurzeln.

 

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