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- 21.02.2006
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Die Uhr
Die Kostbarkeit thront auf kobaltblauem Samt, prunkt weiterhin mit unzähligen Diamanten, als sei nichts geschehen. „Lupenrein Top Wesselton“ steht nach wie vor in verschlungen Lettern auf dem unschuldig-weißen Kärtchen daneben. Dabei ist der Luxuszeitmesser Auslöser einer Tragödie griechisches Ausmaßes.
Bereits in Zeiten antiker Helden wurden Dramen durch Bagatellen ausgelöst, vergleichbar mit dem Flügelschlag des Schmetterlings, der zum Wirbelsturm kumuliert. Warum schlugen wir an jenem verhängnisvollen Sonntag einen anderen Weg als üblich ein? Weil es zu regnen begann? Spielte der Film, den wir gemeinsam betrachteten, eine Rolle? Eigentlich bewegt „Lawrence von Arabien“ niemanden zum Bruch geltender Gepflogenheiten. War es meiner oder Hans-Peters Einfall von der Langen Straße nicht wie sonst in die Breite Straße abzubiegen, sondern den Nachtspaziergang durch die Schmale Gasse abzukürzen? Meine Existenz wäre nicht gefährdet, hätten wir nicht dem abstrusen Wunsch nachgegeben, unseren Heimweg durch Variation zu adeln. Warum zog das leicht bläuliche Licht, das ein Viereck auf das Kopfsteinpflaster zauberte, mich magisch an? Ein Blick durch das Schaufenster auf den schillernden Kosmos hochkarätiger Preziosen brachte meine ansonsten pragmatisch-nüchterne Welt ins Wanken.
„Ach, Barbara, pflegte Hans-Peter öfters zu seufzen, „ein paar Schnörkel könnten deiner verbissenen Gradlinigkeit nicht schaden.“
Stets pochte ich auf meine preußische Erziehung, verwies auf das Familienmotto, das unser Verhalten seit Generationen prägt: Nichts als Fleiß und Disziplin bringen uns zum Ziele hin. Dieses Weisheit ist auf einem zartrosa Bändchen verewigt, das sich auf dem Familienwappen um eine Forke windet.
Bis zu meinem Eintritt ins Jenseits wird mich die Frage quälen, ob mich der Teufel höchstpersönlich anstachelte, mit dem Zeigefinger auf dem edelsten aller Chronometer zu deuten, folgende Worte in die klamme Nacht zu hauchen:
„Dieser Stundenzähler, der Krösus selbst zur Ehre gereicht, bringt mein Blut zum Sieden.“
Meine unbedachte Äußerung veranlasste ihn, am folgenden Tag mit gezogener Waffe des Eldorados Schwelle zu überwinden, um des Kleinodes habhaft zuwerden. Der Hüter des Glimmers weigerte sich zunächst, gab sich erst geschlagen, nachdem Hans-Peter zwei Mitarbeiter und eine Kundin niedergestreckt hatte. Unerfahren in der Durchführung derartiger Aktivitäten, hatte er versäumt, seine Identität durch Maskeraden zu verbergen, demzufolge fiel er unweit des Geschehens den Gesetzeshütern anheim.
Bevor er in der Zelle seine Beinkleider zu Strangulationsvollstreckern degradierte, bekräftigte er durch Wandkritzeleien, unsere Liebe könne selbst der Tod nicht tilgen. Allein, wer begleicht nun die Forderungen, die der Besitzer des Penthauses unnachgiebig an mich stellt?