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Die Unglücksphilosophen
12.11.1741
Vom Loch Laggan waren die Nebelschwaden herüber gezogen. Es war kalt und fing an zu dämmern. Die rechte Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen, dachte sich John Lamont, ging zurück ins Haus und schloss die Türe hinter sich. Ihm fiel auf, dass es im Inneren nur unwesentlich wärmer war. Wieder an seinem Schreibpult angekommen, beendete er seinen Brief:
So mache ich mich denn auf den Weg, vor einen Richter zu treten, der sich darauf verstehen wird, ein Urteil zu sprechen über jene Ungeheuerlichkeit, welche ihresgleichen sucht in der Geschichte der zivilisierten Menschheit und für welche ich der einzig Verantwortliche bin. Ich sterbe in der festen Hoffnung, dass es jemanden geben wird, der sich meiner Hinterlassenschaften annimmt und sie nutzen möchte, zum Wohle der Menschheit, so dass jene Tat, die ich in eitlem Wahn vollbrachte, wenigstens den Hauch eines Segens bringt für die kultivierten Völker dieser Welt.
John steckte die Feder ins Tintenfass und rieb sich ein letztes Mal die klammen Hände, um sie aufzuwärmen. Es hatte angefangen zu regnen, als er mit klammen Fingern den Hahn der Pistole spannte.
23.11.2003
Ein verwaschener Lichtfleck ließ erahnen, dass unter dem wabernden Grau der Flughafen lag. Die Maschine tauchte in den Nebel ein und nach einer bangen Ewigkeit folgte der obligatorische Ruck beim Aufsetzen. Der erste Teil von Vanessas Reise war zu Ende. Nun würden noch eine halbe Stunde S-Bahn, zwei Stunden Zug und ein paar Minuten Bus folgen.
Doch als sie das Flughafengebäude verließ und in der klammen Luft des Novemberabends stand, getränkt von seiner gräulichen Feuchte, die sich begierig an allen Oberflächen niederschlug, sei es der Boden, Kleidung oder ihr Haar, bezweifelte sie für einen kurzen Moment, Schottland tatsächlich verlassen zu haben. Und sie zweifelte daran, in ihr wahres Zuhause zurückzukehren, denn ihre Heimat war eine Kleinstadt, die 700 Kilometer nördlich lag.
Aber als Geisteswissenschaftlerin durfte sie nicht wählerisch sein. Zumindest eine halbe Stelle erhalten zu haben, war in ihrem Fachgebiet ein echter Glücksfall. Und sie hatte kurz nach Beginn ihrer Tätigkeit am Institut für Wissenschaftsgeschichte sogar schon eine kurze Forschungsreise antreten dürfen. Nun war sie auf dem Heimweg, und die Unterlagen, welche sie in der Sicherheit ihres Handgepäcks verstaut hatte, würden die Zukunft sichern, ihre wissenschaftliche Zukunft zumindest.
Beschwingt von Träumen des Erfolges schwebte sie auf der Rolltreppe hinunter in den Untergrund und verschwendete keine Sekunde daran, sich von der Länge der bisherigen Reise erschöpft zu fühlen oder daran zu denken, dass es bis Regensburg noch ein weiter Weg sei. Sie brachte Beute mit, Rohmaterial dessen Wert sich nun noch nicht abschätzen ließ: Ein ungehobener Schatz. Es war ein großartiges Gefühl.
Die Welle derselben Euphorie trug sie schließlich durch die Stunden der Dunkelheit bis in ihr kleines Appartement. Die herbstlichen Verspätungen der Deutschen Bahn konnten sie ebenso wenig beeindrucken, wie die unkenden Stimmen ihres Unterbewusstseins, die ihr einflüstern hätten wollen, dass viel Arbeit vor ihr lag, verdammt viel Arbeit.
24.11.2003
"Und was hast du uns schönes mitgebracht, Vanessa?", fragte Dr. Gerbauer, ohne sich die Zeit für eine Begrüßung genommen zu haben. Die ganze Arbeitsgruppe fieberte ihrem Eintreffen entgegen, dass um diese Uhrzeit schon alle anwesend waren, auch die Werkstudenten, war ungewöhnlich.
"Ich habe Kopien der Tagebücher und des gesamten Briefwechsels inklusive des Abschiedsbriefes", antwortete Vanessa.
"Hat Francis tatsächlich nicht übertrieben? Ist der Code dabei?"
"So wie es aussieht, ist es kein Code, sondern ein Wörterbuch und eine Grammatik!"
Allgemeines Kopfschütteln brach aus, die Anwesenden hatten Vanessa umringt, sie war im wahrsten Sinne des Wortes der Mittelpunkt des Geschehens.
"Nun lass' schon sehen ..."
Sie zog die Ordner mit den Kopien hervor und es sollte mehrere Stunden dauern, bis sich die ungläubige Neugier gelegt hatte und wieder die Ruhe eines normalen Arbeitstags eingekehrt war. Die Dokumente waren in Sicherheit gebracht und Vanessa fand sich in Dr. Gerbauers Büro wieder. Er bot ihr eine Tasse Kaffee an, berührte sie mit seiner Hand sanft am Rücken, um gleichzeitig zu fragen:
"Und wie weit meinst du, sind unsere schottischen Freunde mittlerweile? Wer gewinnt das Rennen?"
Vanessa sah ihn erstaunt an. Sie musste zugeben, ihn nicht wirklich zu kennen, diesen Privatdozenten Herrn Doktor Wolfgang Gerbauer. Er war ihr persönlichen Betreuer, ein Mitvierziger und geistiger Kopf des Lamont Projektes. Und während sie sich kurz über die seltsame Vertrautheit wunderte, fiel ihr auf, dass sie recht wenig wusste, was Fördermittel, wissenschaftlichen Konkurrenzkampf und internationale Kooperationen betraf. Sie würde viel zu lernen haben in den nächsten Jahren.
"Ich habe viel mit Francis gesprochen. Er ist echt ein netter Kerl. Und er meinte, dass sie ganz am Anfang stehen."
"Gut", antwortete Dr. Gerbauer und grinste.
16.8.2005
Ich bin ein Teil der Menschheit und bin zugleich kein Teil von ihr, denn was ich als Menschheit definieren muss, jene Menge uns in vielem ähnlicher Wesen, ist von mir so verschieden, dass es unangebracht erschiene, mich und sie der gleichen Gruppe zuzuordnen, also jener Ansammlung von Individuen, für welche ich eben keine bessere Definition als den Begriff "Menschheit" kenne.
Vanessa hatte den gesamten Vormittag mit der Übersetzung dieses einen Satzes verbracht. In unzähligen Varianten hatte sie ihn niedergeschrieben, versucht einen Kompromiss zwischen nötiger Freiheit der Übersetzung und Nähe zum Original zu erzwingen und sich dabei in einem scheinbar undurchdringlichen Netz der Unzulänglichkeiten verstrickt.
Als sie schließlich den Kampf aufgegeben und das provisorische Endergebnis auf einem Schmierblatt fixiert hatte, um in Wolfgangs Büro hinüber zu gehen, fühlte sie sich unendlich erschöpft. Ein zwölfjähriger Junge war der Urheber dieser Gedanken und wofür sie 60 Worte benötigte, war er mit einem knappen Drittel ausgekommen.
"Schatz, ich schaffe das nicht! Sieh dir das bitte an: Soviel habe ich heute zu Wege gebracht." Sie legte ihm das Schmierblatt auf den Schreibtisch. Wolfgang überflog die Zeilen, sah dann zu ihr auf und sein Gesicht nahm den leichten Ausdruck seines Missfallens an.
"Van, mein Goldstück. Das ist alles?"
Sie nickte. "Ich komme mir so unfähig vor. Der Junge war 12, als er das geschrieben hat. Stell' dir das einmal vor!"
Wolfgangs Blick verdüsterte sich weiter. Hatte sie mit ihrer Bemerkung eine alte Wunde aufgerissen oder war er einfach nur unzufrieden mit ihrer Arbeit?
"Du musst einfach dranbleiben. Das wird schon, aber ich kann dir dabei nicht helfen. Van ich glaube an dich!" Tat er das wirklich? Zumindest brauchte er sie. Er war kein sprachbegabter Mensch, die Wissenschaftgeschichte war jene Nische gewesen, in welcher er gehofft hatte, sich als Historiker profilieren zu können ohne perfekte Kenntnisse der lateinischen oder griechischen Sprache zu benötigen.
Vanessa hatte, was ihm fehlte. Sprachen zu lernen, das Spiel mit Worten fiel ihr leicht und so hatte es wie die perfekte Symbiose ausgesehen, als sie vor zwei Jahren gemeinsam begonnen hatten, das Lamont-Projekt zu bearbeiten. Aus der Zusammenarbeit war schließlich eine Beziehung geworden, eine enge Verflechtung beruflicher und privater Interessen, so dass die Summe der gemeinsam verbrachten Zeit längst angefangen hatte, beängstigend groß zu werden.
"Vielleicht sollte ich wieder nach Schottland fliegen", schlug Vanessa vor.
"Unser Reisebudget ist fast aufgebraucht. Außerdem sehe ich keinen Sinn darin, dass du wieder wochenlang Francis auf der Pelle sitzt."
Hatte da ein Hauch von Eifersucht in Wolfgangs Stimme mitgeschwungen? Aber er würde sie nicht von dieser Idee abbringen können. Es trieb sie die Verzweiflung ohne Unterstützung, ohne Austausch nicht weiter kommen zu können. Im Gegensatz zu Wolfgang hatte sich Francis tief eingearbeitet, sie hatten sich mit den gleichen Schwierigkeiten herumgeschlagen. Die Zeit, die sie in Schottland verbracht hatte, war so viel produktiver gewesen, als hier. Nein, sie würde nun Wolfgang nicht nachgeben, weder in seiner Rolle als Chef, noch dem Geliebten.
"Dann fliege ich auf eigene Kosten. Es ist mir die paar hundert Euro wert. Ich habe das Geburtstagsgeschenk meiner Großmutter noch nicht eingelöst. Zum Anfang des Semesters bin ich wieder da."
3.9.2005
"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu ihrem Tisch dazusetze?" Da war er also wieder, der Mann im Maßanzug, der schon vorher am Gate in ihrer Nähe gesessen hatte. Für Vanessa war es nicht so schlimm, durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in München hängen geblieben zu sein. Das von der Fluggesellschaft bezahlte Hotel war gut und dass sie einen Tag später ankommen würde, spielte keine Rolle. Nur die Schar der Geschäftsreisenden sowie die Kurzurlauber hatten gereizt und aggressiv reagiert, als sich sie mehreren Stunden Verspätung schließlich zum Totalausfall des Fluges ausgewachsen hatten.
"Bitte", antwortete Vanessa.
"Wenigstens ist das Essen gut, zum Glück passiert uns das nicht auf dem Rückweg von England. Haben Sie schon die Riesengarnelen probiert? Wirklich sehr zu empfehlen."
"Danke."
"Sie wollen auch nach London?"
"Nach Schottland eigentlich", entgegnete Vanessa im Sinne einer Klarstellung, "dann werde ich mich mal nach den Riesengarnelen umsehen." Sie stand auf und ging zum Buffet, während sie gleichzeitig versuchte, die Gedanken über den aufdringlichen Besucher an ihrem Tisch zu ordnen. Er mochte gegen Ende vierzig sein und wirkte wie der Prototyp des Geschäftsreisenden. Und sie hatte seinen Ehering bemerkt. Nach kurzem Nachdenken entschied sie sich für die geschmorte Schweinelende als Hauptgericht.
"Wissen Sie, wofür Wälzlager verwendet werden?" Vanessa schüttelte den Kopf, lächelnd setzte er zu einer Erklärung an:
"Ach, ist eigentlich auch nicht wichtig. Seien Sie froh, dass Sie mit den Dingern nichts zu tun haben. Man hat nur Ärger damit... Wobei mich brennend interessieren würde, womit Sie Ihr Geld verdienen." Und entgegen eines felsenfesten Vorsatzes entlockte ihr seine Frage ein Lächeln.
"Nun, 'Geld verdienen' ist etwas übertrieben. Ich habe eine halbe Stelle und arbeite an der Uni in Regensburg als Assistentin."
"Germanistik? Psychologie?"
"Nein, Wissenschaftsgeschichte." Wieder musste sie Lächeln, sein Auftreten hatte etwas Charmantes, die Art und Weise, wie er Interesse an ihr zeigte, gefiel ihr.
"Wow! Ich glaube, ich brauche erst einmal einen Nachtisch, um das zu verarbeiten."
"Ich möchte Sie nicht aufdringlich sein. Also wenn ihnen die Unterhaltung zu viel wird, bitte sagen Sie es rechtzeitig." Seine Worte überraschten Vanessa, sprach doch ein Einfühlungsvermögen aus ihnen, welches sie von einem Mann, erst recht nicht von einem Mann seines Alters und Aussehens erwartet hätte.
"Nein, kein Problem, ist schon in Ordnung..."
"Ich habe versucht, mir etwas unter 'Wissenschaftsgeschichte' vorzustellen. Wollen Sie mir nicht etwas weiter auf die Sprünge helfen? Wie verbringen Sie ihre Tage?"
Vanessa sah ihm kurz in die Augen. Wieviel dieses Interesses galt ihr als Person und wieviel als Lustobjekt? Schließlich verwarf sie den Gedanken, um eine wahrheitsgemäße Antwort zu geben: "Nun, ich bearbeite ein Projekt. Es geht um zwei schottische Philosophen, Vater und Sohn, John und David Lamont. Haben sie wahrscheinlich noch nicht von gehört, oder?"
"Was halten sie von folgendem Vorschlag. Ich nehme meine soziale Verantwortung als Unternehmer wahr und unterstütze die Wissenschaft, indem ich Sie noch zu einem Drink an die Bar einlade. Und Sie erzählen mir ein paar spannende Details über ihre Schotten."
Vanessa stelle ihren 'Swimmingpool' ab und sah ihn an. Sie hatte in Gedanken eine Grenzlinie gezogen, wie weit das Geplauder führen dürfte. Übertrat er diese, würde sie aufstehen und auf ihr Zimmer gehen. Alleine. Die Sicherheit dieses festen Entschlusses im Rücken und leicht beflügelt durch die Wirkung des Alkohols begann sie, sich auf einen unterhaltsamen Abend zu freuen.
"Haben Sie Kinder?"
"Ja. Einen Sohn und eine Tochter."
"Wie alt ist Ihr Sohn?"
"Er wird 13 im Frühjahr. Wieso fragen Sie?"
"Schwieriges Alter"
"Es geht so. Es ist relativ brav oder normal, je nach dem, wie man es nennen will."
Das Wort 'normal' war es, das Vanessa gedanklich auf eine Reise schickte, an ihren Schreibtisch, in die Tiefe der übersetzten oder zu übersetzenden Manuskripte. Schließlich antwortete sie: "Ich würde Ihnen gerne eine Geschichte erzählen. Es ist eine traurige Geschichte. Sie handelt von einem Jungen, der so alt war wie Ihr Sohn." Vanessas Gegenüber nickte und sie wartete auf eine oberflächliche Bemerkung seinerseits, doch er sah sie nur mit einem ernsten, leicht traurigen Blick an. Vanessa fuhr fort: "Das Ganze ist über 250 Jahre her. Die Mutter des Jungen war bei der Geburt verstorben. Ihr Mann muss sie abgöttisch geliebt haben, er hat ihren Tod niemals verkraftet."
"War es damals nicht normal, dass die Frauen an Kindbettfieber verstarben?"
"Mag sein. Aber es war jedenfalls nicht normal, sich als Vater mit seinem Kind in der Einöde zu verkriechen und es abgeschirmt von allen anderen Menschen großzuziehen."
"Hmm."
"Der Junge war hochintelligent. Und der Vater gab sich alle erdenkliche Mühe, ihn zu fördern... zu viel Mühe."
"Und was passierte dann?"
"Das herauszufinden, ist mein Job. Wir haben es noch nicht geschafft, alle Quellen komplett durchzuarbeiten. Das Projekt läuft erst seit zwei Jahren. Und wir arbeiten nur zu viert daran."
Vanessas Gesprächspartner schüttelte den Kopf und murmelte: "Acht Mannjahre, ohne konkretes Ergebnis. Unvorstellbar. Eine andere Welt, in der Tat."
"Es gibt ein Detail, das ich Ihnen verschwiegen habe. Aber Sie müssen versprechen, es für sich zu behalten!"
"Großes Indianerehrenwort."
"Die Dokumente die wir bearbeiten, müssen erst übersetzt werden. Sie sind in einer Sprache geschrieben, die nur von zwei Menschen gesprochen wurde."
"Nur zwei Menschen, heißt das ..."
"Der Vater hatte sich zur Erziehung seines Sohnes eine eigene Sprache ausgedacht."
"Und warum in Teufels Namen?"
"Isolation ist sicher der eine Grund. Dazu kommt seine fixe Idee, dass andere Sprachen ungeeignet seien, philosophische Gedankengänge präzise auszuformulieren."
"Heißt das, der Junge hatte nur seinen Vater, mit dem er reden konnte?"
"Ja."
8.10.2005
Einzelne Lichtpunkte wanderten langsam vorbei, ließen erahnen, dass dort draußen irgendwo Menschen lebten. Der Zug fraß sich durch die Nacht, rumpelte langsam aber sicher seinem Ziel entgegen. Vanessa sah hinaus in die niederbayrische Dunkelheit, verfolgte manche der Lichter mit den Augen, ignorierte andere. Es war dies ihre dritte Rückkehr aus Schottland. Wie weit entfernt war doch die Euphorie des ersten Mals? Hätte sie nun jemand gefragt, wie sie sich fühle, wäre ihre Antwort gewesen: "Müde."
Bald würde sie heimkehren, in ihre gewohnte Umgebung, in ihre Beziehung zu Wolfgang, in die Domstadt, die sie zu gewissem Teile lieb gewonnen hatte. Doch alle diese Aussichten lösten keine Euphorie mehr bei ihr aus, erwartete sie doch wieder der selbe Schreibtisch und das wohlbekannte Gefühl, nun wieder ohne Mitstreiter weiterkämpfen zu müssen.
Francis war der einzige, der ihre Ängste verstand und ihn hatte sie gerade verlassen müssen. Es war ein seltsamer Abschied gewesen und immer noch erinnerte sie sich an seinen Gesichtsausdruck. Etwas Schmerzliches, fast Mitleidiges war darin gewesen. Warum hatte er Mitleid mit ihr? Seltsam, denn er befand sich in einer vergleichbaren Situation. Aber er war ein Mann, renommierter Wissenschaftler und hatte es nicht mehr nötig, sich seine Sporen zu verdienen. Erfolg oder Misserfolg konnten ihm egal sein. Vielleicht hatte er deshalb Mitleid.
"Willkommen zuhause, Schatz!" Wolfgang hatte sie kommen hören, die Türe geöffnet, sie umarmt und in seiner Umarmung über die Schwelle gehoben.
"Schön, dass du wieder da bist. Wie war es?"
"Kann das bis morgen warten? Ich bin einfach hundemüde!"
"Wie du meinst, aber..."
"Aber was?"
"Es gibt Neuigkeiten, keine guten."
Vanessa hatte ihren Koffer abgestellt und den Mantel ausgezogen. Eigentlich wollte sie nur noch ins Bett, schlafen, nichts mehr wissen vom Elend der Welt, sei es aktuell oder Jahrhunderte vergangen. Wolfgang überging ihr offensichtliches Desinteresse und fuhr fort:
"Es ist ein Artikel in der 'History of the Human Sciences' erschienen. Der Autor ist..."
"Francis."
9.10.2005
Wieder und wieder sind es die Worte, die mir fehlen. Irgendwo tief in meinem Inneren passiert etwas, das ich hinausschreien möchte in die Welt oder zu Papier bringen und somit seiner Vergänglichkeit berauben. Allein, mir fehlen die Worte, die Begriffe, klare, eindeutige Bezeichnungen. Die Unaussprechlichkeit dessen, was in mir, mit mir passiert, lässt mich den Verstand verlieren. Was für ein Leben ist das? An Tagen wie diesen ersehne das Ende, das Verlöschen meiner Flamme, mit dem auch das ewige außerhalb der Welt Stehen enden wird.
Vanessa sah vom Schreibtisch auf, sie war alleine in der Wohnung. Wolfgang war zu Besuch bei seinen Eltern. Der Termin hatte sich nicht verschieben lassen, die sonntägliche Routine hätte andernfalls gelitten und mit ihr der Familienfriede. "Seltsam", dachte sie sich, "ich könnte mir einen schönen Tag machen, an der Donau entlangspazieren oder ins Café gehen. Und was tue ich? Ich sitze hier und übersetze. Nun, wo eigentlich alles zu spät ist."
Und mit einem leichten Kopfschütteln griff sie wieder zu Block, Bleistift und Radiergummi. Vor ihr lagen die letzten Seiten, die jener mittlerweile vierzehnjährige Junge zu Papier gebracht hatte. Was danach geschehen war, erschloss sich nur aus den Briefen seines Vaters. Vanessa mühte sich kurz mit dem nachfolgenden Absatz ab. Schließlich schob sie Block, Stift und Unterlagen beiseite und beschloss, zur steinernen Brücke zu spazieren.
Der beruhigende Blick auf die Fluten lockte sie von Zeit zu Zeit an diesen Ort. Doch an diesem Tage hatte der Fluss nichts beruhigendes. Die braunen Wassermassen zwängten sich zwischen den Brückenpfeilern hindurch und jenes Thema holte Vanessa ein, das sie eigentlich auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Ja, es hatte früher als eine sichere Sache gegolten: "Ich gehe ins Wasser!". Der Gedanke sich selbst in die Fluten zu stürzen, ließ ihr einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen. Die undurchsichtige bräunliche Brühe, in der die sich dann wiederfinden würde... ekelhaft.
"Und wie war dein Tag, Schatz?"
"Ich habe übersetzt, was sonst?"
"Braves Mädchen. Schöne Grüße von meinen Eltern, übrigens."
"Wolfgang? Was machen wir denn jetzt?"
"Du meinst wegen des Artikels von Francis? Ganz einfach. Wir schreiben eine Gegendarstellung. Wir weisen nach, dass das alles Quatsch ist, was Francis da behauptet. Das gibt einen prima Gelehrtenstreit, ich habe mir schon eine Strategie überlegt ..."
Vanessa sah ihn ungläubig an. Wo nahm er nur diese Energie her? Und während er mit der Euphorie eines antiken Feldherrn seine Planungen im Raum ausbreitete, wanderten Vanessas Gedanken Generation um Generation zurück in die Vergangenheit. Schließlich kam sie dort an, wo sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit trafen. Zwei Menschen waren damals gestorben, aus eigenem Entschluss jeweils. Sie waren das Opfer einer abstrakten Idee geworden.