- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Die vergessene Festung
Eisige Winde zogen über die Bergkämme und wirbelten den Schnee auf. Der Himmel war seit Tagen von finsteren Wolken bedeckt und Kälte umhüllte das Gebirge. Kein Leben mehr, keine Menschen, keine Tiere, nichts. Ein weisses Reich der Stürme.
Und inmitten dieser kargen Landschaft, kaum zu sehen zwischen hoch aufragenden Felsen und Schneemassen, ein einzelner Mann, furchtlos der Macht der Natur widerstehend. Er kletterte, kroch im Schnee, zog sich übers Eis der Gletscher. Kraftlos und müde, aber unerbittlich weiterkämpfend.
Der Wind heulte durch die Felsen. Ein einsamer Baumstamm barst unter dem Druck des Schnees, eine Lawine donnerte die gegenüberliegende Talseite hinunter.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht kämpfte sich der Mann weiter den Hang hinauf, wurde zurückgeworfen von neuen Böen, die tobend und lärmend über das Gebirge bliesen. Wärme! Nur die Erinnerung an ein prasselndes Feuer hielt ihn am Leben. Mühevoll stapfte er weiter, die Augen geschlossen, die Hände schützend vor dem Gesicht. Eisblöcke brachen ab, rollten hinunter und trafen ihn. Er stürzte aufschreiend.
Minutenlang blieb er liegen als ob er schon tot sei. Doch noch einmal rappelte er sich auf, hustete und riss seine Beine den Berg hinauf, wo in weiter Ferne die dunklen Mauern der Burg von Tunutal dem Himmel entgegen ragten. Dorthin musste er.
„Gib nicht auf!“, hörte er die Stimme seines Lehrmeisters in der Stadt des Königs. „Gib nie auf!“ Wie viele Male hatte er diese Worte gehört! Tunutal da oben, so stolz wie er der entfesselten Kraft des Sturms entgegentretend, war sein Ziel. Er würde nicht aufgeben, er würde die Burg erreichen, seinen Auftrag erfüllen. Aufzugeben mochte Ruhe, mochte Wärme bedeuten, aber auch Versagen. „Ich gebe nicht auf! Niemals!“, schrie der Mann in den Wind und stiess sein Schwert in den harten Schnee, um sich daran hochzuziehen.
Wie lange schon war er in diese Wüste aus Eis und Fels? Tage? Wochen? Die Zeit schien bedeutungslos. Erinnerungen entschwanden, es gab nur noch Tunutal, die Burg hoch über dem Tal des Frostes. Das alte Gemäuer, errichtet im Zeitalter der Römer, war die einzige Bastion, welche in diesem härtesten aller Winter noch den Pass bewachte. Nirgends sonst hatten die Menschen ausgeharrt, überall waren sie geflohen in die tiefer gelegenen Grafschaften. Tunutal aber, abgelegen und vergessen, hatte noch immer einen Burgherrn, noch immer eine Garnison. Der Mann biss auf die Zähne: Sein Auftrag, seine Bestimmung.
Und dann, nach endlos scheinendem Kampfe, erklomm er den Grat und konnte ins jenseitige Tal blicken, wo ebenso der Sturm blies und die grauen Nebelwände aufstiegen. Aber nur noch wenige Meter vor ihm stand nun Tunutal.
„Was suchst du hier?“, dröhnte eine laute Stimme durch den Sturm und da erkannte der Mann zwei Soldaten, welche sich hinter einem Felsen vor der Kraft des Windes schützten.
„Ich suche den Burgherrn von Tunutal.“
„Wer seid Ihr?“
„Ritter von Burgenroth, Lehnsherr des Königs.“ Ein Windstoss erfasste den Umhang des Ritters und er stürzte zurück, fiel beinahe die Felswand hinunter. Einer der Soldaten half ihm auf und führte ihn zum Portal der Festung.
„Aufmachen!“
Geräuschvoll wurde das Tor geöffnet und sie durchschritten es eilig. Im windgeschützten Innenhof der Festung Tunutal lächelte der Ritter, stolperte über eine Schwelle und fiel flach in den Schnee. Erschöpft schlief er ein.
„Ritter, der Herr von Tunutal will Euch sprechen.“
„Was?“, gähnte der Ritter von Burgenroth und fand sich erstaunt in einem warmen Bett an einer Feuerstelle wieder.
„Kommt mit mir!“, forderte die junge Magd. Der Ritter stand noch schwankend auf. Er war nur im Untergewand gekleidet. Das Kettenhemd, den Mantel und sein Schwert hatte man ihm abgenommen. „Worauf wartet Ihr?“, fragte die Magd und der Ritter folgte dem hübschen Mädchen durch die düsteren Gänge der Burg. Draussen pfiff noch immer der Wind und die kühle Luft drang durch die Löcher und Ritzen der Mauer. Über eine schmale Brücke gelangten sie aus den inneren Gebäuden in den Bergfried, wo das Mädchen stehen blieb.
„Hier hinauf!“, sagte sie und wies auf eine breite Treppe, welche zu einer offenstehenden Türe führte. Der Ritter stieg die Stufen empor und betrat eine riesige Halle. Keine Fenster liessen Licht in den Saal, viele Ecken blieben dunkel und nur um den Thron am gegenüberliegenden Ende flackerten einzelne Kerzen. Schwach im fahlen Licht waren Gemälde zu erkennen, riesige Krieger, Heere und Schlachten aus der Legende Tunutals. Der Ritter bestaunte sie. Solch vollendete Kunstwerke hatte er nicht einmal in der Stadt des Königs gesehen.
„Prachtstücke, ja, grosse Künstler haben sie gemalt.“ Die brummige Stimme erklang vom Thron, auf welchem ein dürre Gestalt sass, ganz in Schwarz gekleidet.
„Ja, Herr von Tunutal, eine beachtenswerte Sammlung.“
Der Burgherr hustete, dann befahl er laut: „Tretet näher, Ritter!“
Die Anweisung befolgend schritt der Ritter von Burgenroth über den hallenden Steinboden und blieb erst wenige Meter vor dem erhöhten Thron stehen. Aus der Nähe betrachtet machte der Burgherr einen kümmerlichen Eindruck. Er erschien im Kerzenlicht klein, blass und schwach. Nur seine Stimme verlieh ihm eine geheimnisvolle Kraft.
„Es kommt nicht oft vor, dass Gäste hier in Tunutal weilen. Die Burg liegt weitab der Strassen und Städte, am äussersten Ende des Reiches und verirren kann man sich in dieser kargen Landschaft nicht. Weshalb seid Ihr trotzdem hier? Weshalb seid Ihr, Ritter von Burgenroth, gekommen? Was sucht ein Mann des Königs zu dieser Jahreszeit der tobenden Winterstürme auf der Festung Tunutal?“ Der Blick des Ritters schweifte zögernd durch den finsteren Saal. Er versuchte den Schatten und Schemen im Zwielicht Gestalt zu geben, er versuchte zu erkennen, was sich hinter den Säulen verbarg.
„Antwortet!“, forderte der Burgherr ungeduldig. Er berührte den Griff seines Schwerts.
„Mein Auftrag lautet, Euch eine Botschaft zu überbringen. Eine geheime Nachricht des Königs.“
„Und hierfür entsandt er einen seiner Ritter auf den beschwerlichen und weiten Weg in die Berge?“
„Ja, Herr von Tunutal.“
„Ist Krieg im Gange? Ruft der König seine Streitkräfte aufs Feld?“ Der Burgherr wirkte einen Augenblick lang aufgeregt, fast nervös.
„Nein, es ist Frieden. Aber über den Inhalt des Briefes, der mir gegeben wurde, ist mir nichts bekannt.“
„Dann gebt mir diese Nachricht!“, forderte der Burgherr und beugte sich vor, worauf der Ritter das zerknitterte Pergament überreichte.
„Des Königs Siegel.“, murmelte der Burgherr „Erst ein einziges Mal hab ich es gesehen, damals, als er mich hierher verbannte. Hierher, in die Ödniss des Gebirges. Nach Tunutal, in die vergessene Festung am Ende der Welt.“
„Mein Herr?“
„Ihr habt schon recht gehört.“ Er blickte auf und fuhr düster fort: „Ich halte nicht viel von meiner Heimat, obschon es mir grosse Mühe bereitete, die Burg wieder herzurichten. Mein Vorgänger hatte Tunutal verwahrlosen lassen, ein alter Greis wie ich es bin, enttäuscht vom Leben. Als er kinderlos und vom Wahnsinn ergriffen starb, wurde ein neuer Ritter gesucht. Vergeblich, niemand wünschte sich hier einen Posten. Und so übergab der König die Festung mir – einem jungen, aufstrebenden General mit grossen Ambitionen. Ich hätte Feldherr werden können, die Kreuzzüge anführen und glorreiche Siege erringen. Aber der König sah in mir nur einen Gegenspieler, eine potentielle Bedrohung und willkürlich, wie seine ganze Herrschaft, beschloss er mich auf diese Art auszuschalten. Ich sollte vergessen werden in der Ferne. Und Tunutal ist fern.“
„Es ist aber auch eine stolze Festung.“
„Es ist ein Ort des Vergessens, ein Ort jenseits des Lebens. Niemand kehrt hier ein. Fünf Tagesmärsche entfernt liegt das nächste grössere Dorf und der König mit seinem Hofstab befindet sich noch viel weiter entfernt im Flachland des Nordens. Es gab eine Zeit, ja, als im Süden noch die Römer aufmarschierten, als Schlachten gefochten wurden und Kriege geführt. Aber heute lebt Tunutal nur noch in den Legenden. Helden werden hier keine mehr geboren, nein, wer einmal hier ist, wird immer hier bleiben. Er ist vergessen.“
Der Ritter sah dem Herrn in die Augen: „Ich werde zurückkehren, sobald der Frühling den Winter ablöst.“
„Ja natürlich, Ihr schon, Ritter Burgenroths. Und vielleicht ...“ Er sagte es sehr leise, fast unverständlich. „Geh nun!“, fuhr er lauter fort, „Trink und iss! Eine anstrengende Reise liegt hinter dir.“
Der Ritter neigte den Kopf leicht, wandte sich nach kurzem Zögern ab und schritt durch die Schatten des Saals zurück. Hinter sich hörte er, wie der Burgherr den Brief des Königs öffnete und dann plötzlich ein leises Lächeln.
Der Ritter erzitterte und tiefe Furcht kam in seinem Innersten auf. Hatte der Burgherr ihn durchschaut? Die List erkannt?
Vor der Halle wartete noch immer die junge Dienerin. Sie sprach kühl: „Im Speisesaal wurde ein Mahl für Euch vorbereitet.“
Erwachend aus Zweifel und Unsicherheit blieb der Ritter stehen und starrte das Mädchen an. Erst nach Sekunden entgegnete er: „Das ist gut! Ich bin hungrig.“
Sie nickte stumm und zeigte ihm den Weg in einen verlassenen Raum mit zahlreichen Holzbänken und Tischen. Dem Ritter fiel auf, dass er seit seiner Ankunft auf der Burg nur die Magd und den Burgherrn gesehen hatte. Sonst schienen die Gänge und Hallen wie ausgestorben. Der Sturm heulte über die Bergkämme hinweg. Es war kalt, unruhig.
„Setzt Euch!“, bat das Dienstmädchen und verschwand aus dem Raum. Bald kam sie wieder mit Fleisch, Brot und heisser Suppe. Sie stellte alles vor den Ritter und setzte sich ihm gegenüber.
„Willst du auch etwas essen?“, erkundigte sich der Ritter, doch sie schüttelte den Kopf. Er betrachtete das Mädchen. Sie hatte langes, hellbraunes Haar, dunkle Augen und war noch sehr jung. Weder ihr ärmliches Kleid noch das müde Gesicht täuschten über die verborgene Schönheit hinweg.
„Wie heisst du?“, fragte der Ritter.
„Enidja.“
„Lebst du schon lange hier?“
„Ja.“
„Gefällt es dir?“
Sie schüttelte den Kopf. Der Ritter runzelte die Stirn und tauchte, vom Mädchen beobachtet, den Löffel in die heisse Suppe. Einen Augenblick lang hielt er inne. Er erinnerte sich an das Lächeln des Burgherrn, als dieser den Brief las. War die Suppe vergiftet? Hatte der Burgherr ihn durchschaut? In der Tat war die Botschaft des Königs nur ein Trick, eine Ablenkung, Lüge. Er war nicht Ritter, auch nicht Bote des Königs. In Wahrheit lautete sein Auftrag, den Vergessenen auszuschalten. Er war ein Attentäter.
„Ist die Suppe zu heiss?“, fragte die Magd.
„Nein, nein, es ist nur ...“
Eilig trank er die Brühe und fühlte, wie angenehm sich die Hitze in seinem Innern ausbreitete. Dabei erinnerte sich der Attentäter an den Tag, als er vom König den Befehl erhalten hatte, durch die Schneestürme zur Festung Tunutal zu wandern und dort den Herrn zu erstechen. Wieso wusste er nicht. Nie zuvor hatte er von der vergessenen Festung Tunutal gehört. Doch schliesslich zählte nur das Gold.
Als der Attentäter die Suppe ausgelöffelt und das Fleisch bis auf den Knochen abgenagt hatte, fragte er das Mädchen: „Ich würde gerne die Burg etwas ansehen. Kann ich vielleicht ...“
„Es ist Gästen untersagt, sich ausserhalb der für sie vorgesehenen Räumlichkeiten aufzuhalten.“
„Ähm, ich bin Gesandter des Königs, da wird der Burgherr doch wohl ...“
„Nein, Ritter, diese Regeln gelten für alle Gäste.“
„Dann ... dann wird es aber doch sicher möglich sein, mit einem Offizier zu sprechen?“
„Nein, mein Herr, auch dies ist verboten.“
„So?“ Der Attentäter zögerte. Er hätte den Burgherrn schon in der Halle töten sollen, aber dort hatte er befürchtet, dass sich in den Schatten Männer versteckt hielten. Nun sah die Sache jedoch noch weit aussichtsloser aus. „Wäre es vielleicht möglich, noch einmal den Burgherrn zu sprechen.“
„Nein.“
Hatte man seine Absichten durchschaut? Dieses Lächeln des Burgherrn, als er den Brief las! Was mochte es bedeuten? War es zu offensichtlich, zu klar? Aber weshalb war er noch nicht tot?
Er nahm noch ein Stück Brot und während er schluckte, studierte er das Gesicht der Magd genauer. Ein wahrlich bezaubernd schönes Wesen. Er lächelte sie an, sie schloss die Augen, atmete tief ein.
„Wenn Ihr es wünscht“, flüsterte das Mädchen, „werde ich Euch in der Nacht Gesellschaft leisten.“
Sie blickte ihn ernst an und fuhr noch leiser fort: „Ein Angebot des Burgherrn.“
Einen Augenblick lang musste der Attentäter sein Verlangen unterdrücken, aber er wusste, dass er sich keine Sekunde der Schwäche leisten konnte. Soviel hatte man ihn gelehrt in der kurzen Zeit vor der Abreise. Deshalb schüttelte er den Kopf. „Du bist jung. Geh und ruh dich aus! Ich komme alleine zurecht.“
Aber sie blieb sitzen. Der Attentäter lächelte: „Du darfst mich nicht alleine lassen, wie?“
Keine Reaktion.
„Nun, es ist bestimmt schon spät. Geleite mich in meine Kammer!“
Sie stand auf und trat hinaus auf den Gang, in welchem unterdessen Fackeln brannten. Doch ansonsten war nach wie vor nichts zu sehen ausser der kahlen Wand und einzelnen Schiessscharten in der Aussenmauer. Kein Anzeichen von Leben. Über die Brücke gelangten sie aus dem Festungsteil zurück in die inneren Gebäude, wo bald die scheinbar unberührte Kammer erreicht war. Der Attentäter hörte Stimmen vom Hof und blickte durch ein vergittertes, trübes Fenster hinaus. Knapp im Dunkel erkennbar standen zwanzig Soldaten bewegungslos auf dem Platz.
„Die wollen aber nicht die ganze Nacht bei der Kälte so draussen stehen bleiben?“
Die Magd, welche währenddem ein kleines Feuer im Kamin anzufachen versuchte, erwiderte: „Ich weiss nicht.“
Lächelnd meinte der Attentäter: „Wenigstens eine Antwort! Ich geh jetzt schlafen – Ach, lieber kein Feuer.“
Sie runzelte die Stirn, zuckte dann aber gleichgültig mit den Achseln und setzte sich auf einen Lehnstuhl. Der Attentäter legte sich ins Bett und zog die Decke wärmend über sich. Eine Zeitlang blieb er still mit offenen Augen liegen und dachte nach. Schliesslich bat er: „Komm doch etwas näher, Mädchen.“
Sie zögerte.
„Keine Angst, Enidja, ich werde dir nichts antun.“
Vorsichtig stand sie auf, blickte noch einmal wachsam um sich und schritt dann zum Kopfende des Bettes, wo sie unsicher auf den Attentäter nieder blickte.
„Ein Kuss?“, flüsterte er, „Damit ich gut schlafen kann?“
Sie zitterte.
„Nur ein Kuss.“
Schliesslich überwand sie sich und beugte ihren Oberkörper sachte über den unbekannten Mann. Sie legte die eine Hand auf dessen Brust, schloss die Augen, ihre Lippen berührten seine und – In dem Moment schnellte eine kräftige Hand empor, umfasste ihren Nacken und schleuderte den Kopf gegen die Mauer. Ächzend brach sie zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen.
Eilig stand der Mörder auf und legte den leblosen Körper aufs Bett. Unter dem ärmlichen Mantel der Magd fand er einen Dolch mit scharfer Klinge und nahm ihn an sich. Das Herz des Mädchens schlug noch und der Attentäter wollte sein Werk vollenden, aber da fiel sein Blick auf das unschuldige, blutüberströmte Gesicht. Er hätte sie töten sollen, ihr Herz durchbohren. Aber er konnte es nicht, so sehr er es auch wollte. Mit sich selber ringend schritt er auf und ab, die Stimme des Lehrmeisters hörend: „Töte sie!“ Aber so oft er auch schon in der Schlacht getötet hatte, dieses Mädchen war keine Kriegerin, keine Bedrohung. Sie war nur ein armes, kleines Kind in dieser unwirklichen Wildnis der Berge. So riss er ihr lediglich einige Stofffetzen des Kleides ab, fesselte damit ihre Glieder und knebelte sie.
Als er fertig war, kniete der Attentäter in den Kamin und blickte hinauf. Der Schacht war eng, aber irgendwie schaffte er es, sich hochzuziehen und aufs Dach des Gebäudes zu gelangen. Heftig wehte der Wind und der Attentäter musste sich festklammern. Alles war mit Schnee bedeckt, die Hände brannten im Eis. Zitternd ohne Mantel blickte der Attentäter auf den Burghof, wo noch immer 20 Männer starr im Licht einer Fackel standen. Sahen sie ihn nicht im Dunkel der Nacht?
Nach einer kurzen Zeit des Luftholens hechtete der Attentäter auf das Dach des Stallgebäudes. Von dort kletterte er hinauf zur Brustwehr, schwang sich über die Zinnen und blieb, sich vorsichtig umschauend, stehen. Der Boden war schneebedeckt und teilweise vereist, obwohl die Wehr bedacht war. Zwei Wachen schritten in seine Richtung und auf dem Turm am Ende der Mauer verharrte eine weitere Gruppe von drei Kriegern trotz der Kälte.
Schnell huschte der Attentäter nun zu einem kleinen Vorbau der Mauer, wo er geduckt im Schatten wartete, bis die ersten Wachen vorübermarschiert waren. Dann schlich er weiter dem Turm entgegen. Ihm blieb nicht viel Zeit, bis die anderen Wachen zurückkehrten, er musste also schnell handeln. So sprang er gleich hervor und stiess dem ersten überraschten Soldaten den Dolch in die Brust. Die beiden anderen hörten trotz des heulenden Windes den Schrei und sprangen ihm entgegen. Zwei mächtige Kämpfer mit riesigen Schwertern, doch der Attentäter duckte sich unter ihren Schlägen hinweg und stach einem den Dolch in den Rücken. Der andere wandte sich um, wurde aber noch im selben Augenblick vom Fuss des Attentäters am Kinn getroffen, strauchelte zurück und verlor unter der Kraft einer stürmischen Böe das Gleichgewicht. Aufschreiend stürzte über die Zinnen und fiel hinunter in die Schwärze des Tals.
Nicht viel Zeit blieb übrig, bald würden die anderen Wachen zurückkehren! Also öffnete der Attentäter ohne auf den Lärm zu achten eine Falltüre, welche ihm den Weg hinunter in den Bergfried eröffnete. Es war dunkel, keine Fackeln, keine Kerzen, nur eine steile Treppe, an deren Ende sich ein kleiner Raum mit einer Türe befand. Ohne zu überlegen öffnete der Attentäter sie und fand sich wieder in dem Gang, den er am vergangenen Abend mit dem schönen Mädchen beschritten hatte. Kein Mensch war zu sehen, alles kahl und verlassen. Draussen heulte der Wind.
Der Attentäter fand rasch die Treppe, welche in die grosse Halle führte. Leise stiess er die schwere Türe auf. Das Innere war unbeleuchtet und still. Die Halle schien verlassen und der Attentäter wollte schon die Türe vorsichtig schliessen, als er plötzlich Schritte im Dunkeln vernahm. Sie hallten bedrohlich wider, wurden lauter. Der Attentäter atmete tief ein. Jemand kam auf ihn zu. Der Burgherr? Schritte, lauter. Wie nahe? Sollte er die Tür schliessen, wegrennen? Er musste sich entscheiden, schnell! Ein Lächeln, gefährlich, böse. Der Attentäter erstarrte.
„Du bist gekommen!“, sprach es aus der Dunkelheit, „Ich habe dich erwartet.“
Da flammten alle Feuer auf und die Halle schien zu brennen, so grell leuchteten die Lichter. All die stolzen Gemälde, die goldenen Prunkstücke, die Statuen, die Marmorsäulen erstrahlten in ihrer blühenden Pracht. Und mitten in dieser Schönheit stand der alte, schwache Greis. Der Attentäter erbebte.
„Du bist gekommen um mich zu töten. Ich weiss es nun!“
Der Attentäter starrte auf ihn mit offenem Mund, dann erwiderte er leise und zweifelnd: „Und dennoch seid Ihr alleine. Unbeschützt.“
„Ich fürchte mich nicht vor dir, der du gekommen bist um mich zu töten.“
„So lautet mein Auftrag und ich werde mein Werk vollenden.“, sprach der Attentäter energisch und wollte zustechen. Aber der Burgherr winkte lächelnd ab.
„Du bist unentschlossen, redest dir Stärke und Mut ein. Aber weisst du, in was für einer Welt du dich befindest? Hat man dir gesagt, weshalb du diesen Auftrag erhalten hast? Hat man dich über irgendetwas aufgeklärt? Oder befahl man dir bloss, mich zu töten?“
„Ich wurde nicht über den Sinn des Auftrags in Kenntnis gesetzt, aber ich kann mir nun selber denken, weshalb ich Euch ermorden soll. Seit Monaten tobt hier im Gebirge ein mörderischer Sturm und alle Garnisonen sind abgezogen aus diesem verfluchten Land – Ihr bliebt. Diese Tatsache hat die Aufmerksamkeit des Königs auf sich gezogen und er hat gefolgert, dass es auf Tunutal etwas gibt, was verheimlicht werden soll, ein Geheimnis.“
„Und du kennst dieses Geheimnis?“
„Ihr erzähltet von Eurem Hass auf den König, Ihr erzähltet, dass Ihr zu seinem Herausforderer geworden seid, als er Euch auf diese Burg schickte. Nun habt Ihr hier, verborgen und vergessen, eine Armee aufgestellt, um sie gegen den König zu führen.“
Der Greis lachte laut. „Eine Armee, stark genug um die Streitkräfte des Reichs zu besiegen? Nicht die Heere der Römer hätten dies vollbracht! Meine Truppen können Tunutal verteidigen, mehr nicht.“
„Was ist es dann?“
„Es gibt subtilere Mittel, weniger gewaltvolle Wege einen König zu stürzen. Um die Wahrheit zu sagen: Ein Attentäter kann in dieser Hinsicht weit effektiver sein.“
„Dann bildet Ihr also Mörder aus?“
„In der Tat. Die besten Männer aus den Ländern jenseits des Passes. Wäre ich in diesem Winter abgezogen, hätte man sie sofort erkannt als Südländer. Aber in diesem Sommer werden endlich meine talentiertesten Leute als Händler verkleidet losziehen und die Tat durchführen.“
„Ihr vergesst dabei, dass nun Euch ein Attentäter gegenübersteht!“ Der Attentäter hob erneut den Dolch zum Stich an.
„Du? Du bist kein Attentäter! Ein Attentäter hätte die Magd ermordet und sie nicht nur gefesselt. Ein Attentäter hätte seine Flucht vorbereitet und wäre nicht im Untergewand hier erschienen. Ein Attentäter hätte mich sofort erstochen, anstatt zu warten, bis meine Männer hier sind.“
Im selben Augenblick erschienen zwei muskulöse Krieger und legten ihre Pranken auf die Schultern des Attentäters.
„Siehst du?“, lächelte der Burgherr selbstgefällig und blickte auf ein Gemälde, welches den erhabenen König Artus in der Schlacht zeigte.
Der Attentäter rief: „Mein Auftrag lautet, Euch zu töten!“ Er versuchte sich aus dem harten Griff der Wächter zu befreien.
„Ja, aber Attentäter bist du dennoch nicht. Genauso wenig bist du Ritter, Burgenroth findet sich nirgends auf der Karte. Nein, du bist ein einfacher Soldat. Vielleicht hat man dir eine kurze Ausbildung zuteil kommen lassen, ein paar Tipps gegeben, aber du bist nicht mehr als ein einfacher Soldat.“
„Wie kommt ihr darauf, dass der König einen einfachen Soldaten für einen so wichtigen und gefährlichen Auftrag auswählen würde?“
„Weil du nicht hier bist, um mich zu töten. Der König schätzt die Chance hierzu wohl sehr gering ein. Er wusste, dass ich ebenso gewieft bin wie er und alles durchschauen würde. Er wusste auch, dass die Täuschung durch den Brief nicht gelingen konnte, schliesslich hat er mir seit Jahren keine Botschaft mehr geschickt. Nein, dich will er opfern um mich selbstsicher zu machen. Er will mir den Glauben geben, alles zu überblicken, Zeit zu haben. Und dann steht er am ersten Tag des Sommers mit seiner Armee vor den Toren der Festung.“
„Nun, tatsächlich bin ich Freiwilliger.“, gestand der Soldat zweifelnd, „Aber wieso schickt der König mich voraus? Er könnte Euch komplett ungewarnt lassen.“
„Mit einem Angriff haben wir hier auf Tunutal schon seit Wochen gerechnet. In den Aufzeichnungen der alten Burgherren liest man oft vom Abzug der Truppen in besonders harten Wintern und wir hörten auch von anderen Garnisonen, die ihre Festungen verliessen. Der Pass wird zu dieser Jahreszeit sowieso nicht überstiegen. Also rechneten wir damit, dass der König auf uns aufmerksam wurde und das dachte sich der auch.“
Der Soldat überlegte einen Augenblick und stellte dann die alles entscheidende Frage: „Aber trotzdem: Wieso lebe ich noch immer? Ihr habt den Tod einer Magd und mehrerer Wächter riskiert.“
Der Burgherr nickte betrübt und sprach dann mit seiner tiefen Stimme: „Auch ich mache Fehler. Ich glaubte anfangs, du wärst ein Spion und würdest die Stärke der Truppen erkunden. Deshalb täuschte ich die Schwäche der Besatzung vor.“
„Auch einen Spion hättet Ihr töten können.“
„Natürlich, aber sowohl in einem Spion als auch in einem Attentäter sehe ich keine Bedrohung, viel mehr eine Chance. Nur zu leicht glaubt sich der König in falscher Sicherheit.“
„Und das soll heissen?“
Der Burgherr berührte die Armlehne seines Throns. „Für Geld würdest du alles tun?“
„Ja.“, antwortete der Soldat kurzentschlossen.
„Ich habe Geld. Sehr viel Geld. Die Zölle für den Passweg sind hoch und die Schatzkammern Tunutals randvoll. Weisst du, Geld bedeutet mir nichts – ich will meine Rache, ich will Ruhm. Natürlich sind meine Leute nicht billig, aber auch nach dem Sturz des Königs wird genug übrig bleiben, um dich angemessen zu entlöhnen. Selbstverständlich nur dann, wenn du deinen Auftrag erwartungsgemäss erfüllt hast.“
Es folgte eine Pause, während der der Herr Tunutals von Gemälde zu Gemälde schritt und träumerisch auf die stolzen Krieger und Herrscher blickte.
„Was verlangt Ihr von mir?“ Die Frage des Soldaten durchschnitt die Stille und der Burgherr riss sich los von den Bildnissen. Er schritt auf den Soldaten zu.
„Kehrt zurück zum König und sagt, das Werk sei verrichtet. Ich sei tot.“
Lange sahen sich der Burgherr und der Soldat an, dann lächelten beide und der Attentäter legte den Dolch weg, worauf sich der Griff der beiden Wächter lockerte. Der Burgherr bat beinahe euphorisch: „Wenn du beim König bist, erzähl ihm, ich hätte ihn verwünscht im Angesicht des Todes.“
„Das werde ich.“
„Doch sag mir, wie viele Leibgarden hat der König?“
„Viele, aber Eure Attentäter werden sie überwinden.“
„Mit Sicherheit. Ich sehe schon, mit dir gewinne ich einen tapferen Verbündeten!“
Mit einer Handbewegung schickte er die beiden Krieger aus dem Saal und im selben Moment trat das befreite Mädchen ein. Die Wunde an ihrer Stirn blutete noch und ihr Blick auf den Soldaten, der seinen König verriet, war böse.
„Ein bezauberndes Kind.“, murmelte der Burgherr, „Ich glaube nicht, dass einer meiner Männer sie hätte töten können. Nicht meine besten.“
Er winkte sie zu sich, gab ihr den Dolch zurück und streichelte ihr Haar. „Seidig, schön, nicht wie das einer gemeinen Magd, sondern wie das einer Königin.“, flüsterte der alte Mann und liess ab von ihr. „Geh jetzt und hole die Ausrüstung dieses guten Mannes!“
Einige Minuten lang verschwand sie und währenddem erklärte der Burgherr seinen genauen Plan, er erzählte, wie er den König stürzen wollte. Und ständig hörte man draussen den Sturm, den nie ablassenden, tosenden Wind. Dann kam das Mädchen zurück. Der Soldat und Verräter zog seinen Mantel an, band den Gurt um die Hüfte und schliesslich nahm er das lange Schwert entgegen. Er dankte dem Mädchen, welches seinem Blick auswich und wortlos verschwand.
„Mit dir wird sie wohl nie mehr eine Nacht verbringen.“, ahnte der Burgherr schmunzelnd und stand auf, „Aber hörst du, der Wind lässt nach und bald schon wird die Sonne am Himmel erscheinen. Dann solltest du schnellstmöglich zurückreisen und den König aufhalten, während wir hier alles vorbereiten.“
„Ja, Herr von Tunutal.“
Der streckte seine Arme der Hallendecke entgegen und lachte. „Ha, bald wird aus der vergessenen Festung das Schloss des Königs!“
Er verstummte, als die bluttriefende Schwertklinge des Verräters durch seine Brust stiess. Keuchen, Ächzen. Die Augen des Burgherrn starrten entsetzt auf den Mörder. „Wieso?“, hustete er, während er langsam zu Boden glitt.
„Die Bezahlung – Das Angebot des Königs war besser.“
„Wie ... wie kannst du sicher sein, dass ich nicht mehr hätte bieten können?“
„Er versprach mir Tunutal mit all seinen Schätzen.“
„Tunutal ist vergessen!“
„Ruhm bedeutet mir nichts. Und die Schätze dieser Burg sind wertvoller als die Welt.“
Der Mörder durchschnitt die Kehle des Greisen. Auf dem Steinboden blieb er im eigenen Blut liegen, die Gemälde der Helden und Kaiser mit offenen Augen anstarrend. Im Aufstehen schob der Mörder das blutige Schwert zurück in die Scheide. Zur Leiche sprach er: „Nun habt Ihr meine Flucht vorbereitet.“
Er zog seinen Mantel dichter um sich, und verliess den Saal. Zu den vor der Türe wartenden Garden sprach der Mörder: „Ich werde im ersten Morgengrauen abreisen. Der Burgherr ist müde und wünscht nicht gestört zu werden.“
Die Wachen nickten gehorsam und der Mörder hastete in den Burghof hinunter. Es war schon recht hell, die Nacht ging dem Ende entgegen. Schnee fiel kaum mehr, der Wind hatte nachgelassen.
Der Mörder blickte zurück auf den Bergfried. Wie lange mochte die Leiche des Burgherren unentdeckt bleiben? Er musste schnell reisen, trotz seiner Müdigkeit und so nahm er kaum Proviant mit sich.
Da sah der Mörder im Schnee das Mädchen zum Stall hin schreiten. Er trat zu ihr, ergriff ihren Arm und sagte: „Es tut mir leid ... du weisst schon, das mit dem Kuss ...“
Sie blickte auf. „Ihr verlasst uns?“
„Ja. Ich habe meinen Auftrag erfüllt.“
Einen Augenblick lang verharrte das Mädchen, dann flüsterte sie hoffnungsvoll: „Ihr habt Ihn getötet.“
Der Mörder lächelte. „Dich nicht.“
Da wurde das Burgtor geöffnet und draussen strahlte die aufgehende Sonne über den weissen Bergkämmen. Der Mörder küsste die kalte Wange des erschaudernden Mädchens und versprach: „Ich komme wieder!“