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Die vergessene Geschichte.
Draußen hatte es geschneit. Nun war es ruhig geworden. Die Nacht war eisig klar und die Sterne funkelten am pechschwarzen Himmel. Es war fast so, als wäre alles Leben eingefroren.
Der Boden war weiß, nur hier und da traute sich ein Grashalm der sonst so stolzen grünen Wiese, die Decke der Millionen Eiskristalle zu durchbrechen.
Die Äste der Bäume trugen schwere Lasten von weißer Pracht und ächzten darunter.
Der Wald wirkte in dieser Nacht wie eine undurchdringliche Mauer, die das Dorf samt der Wiese von der Welt der Tiere trennte.
Der alte Mann musterte die Umgebung von Wiese und Wald, sich wohl wissend im Schutz seiner kleinen Hütte. Er saß auf einem Schaukelstuhl und wippte gemächlich. In dem Raum war es dunkel und das faltige Gesicht des Mannes war nur in dem kurzem Moment zu erblicken, da er an seiner Pfeife zog.
Er wendete seinen Blick vom Fenster ab und schweifte hinüber in eine vom Mondlicht silbrig erhellte Ecke. Mit einer erhaben Stimme rief er: „Fogo appereko!“
Im Bruchteil einer Sekunde was das Zimmer in ein angenehm warmes Licht getaucht.
Ein Feuer brannte nun in der Ecke, eingedämmt zwischen alten Steinen, die einen Kamin bildeten.
Der Mann stand von seinem Stuhl auf. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, der bis auf den Boden reichte und seine Füße überdeckte. Die Haare des Alten waren lang, zerzaust und ungepflegt. Lange Strähnen hingen ihm im Gesicht.
Er tat einige Schritte Richtung Wand und blieb vor einigen Brettern stehen, die dort angebracht, so etwas wie ein Regal bildeten. Auf dem Regal, das immerhin die ganze breite der Wand über ein dutzend Bretter einschloss, standen unzählige Bücher. Die meisten Einbände waren abgenutzt. Der Mann führte seinen Finger an den Büchern vorbei, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er griff nach einem dicken, in Leder eingebunden Buch, auf dessen Vorderseite in Goldbuchstaben geschrieben stand: „Vergiss niemals…“
Mit dem Buch in der Hand nahm der Alte wieder in seinem Schaukelstuhl platz, der immer noch hin und her wippte.
Er legte sich das Buch auf den Schoß, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und seufzte.
Dann öffnete er langsam und behutsam den Einband des dicken Buches. Er fing an die Wörter zu lesen, die in mühevoller Handarbeit säuberlich auf das Papier geschrieben waren. Er las ein Wort, zwei Wörter. Aus den Wörtern wurden Sätze, aus den Sätzen wurden Geschichten, die sich zu riesigen Bilder, zu Fantasien ohne Grenzen bildeten.
Plötzlich schrak der Mann auf. Da draußen hatte sich etwas bewegt, ein Schatten. Der Alte legte das Buch auf das Fensterbrett vor sich. Er erhob sich und beugte sich zum Fenster vor.
Langsam kam er mit dem Gesicht näher zur Glasscheibe. Er konnte die Kälte spüren. Irgendetwas war da. Er konnte ein leises Knirschen von draußen vernehmen. Er beugte sich noch näher ans Fenster, bereit sich zu verteidigen, denn er wusste um die Gefahren, die vom Wald ausgingen. Das Knirschen war da, es bewegte sich ums Haus herum. Angespannt glitten die Hände des alten Mannes zu den Schlössern des doppelseitigen Fensters. Er wartete, bis das Knirschen verstummte. Rechts oder links? Mit einem Ruck riss der Alte das Fenster auf und brüllte los: „LOS ZEIG DICH!“ Nichts. Rechts war alles dunkel. Hastig drehte er den Kopf in die andere Richtung. Auch hier war niemand. Draußen ging ein eisiger Wind um, daher schloss er das Fenster wieder und lies sich zurück in seinen Stuhl fallen.
Erleichtert griff er nach dem Buch, das noch aufgeschlagen auf dem Sims lag. Es war noch immer Kalt. Er spürte den eisigen Wind der Nacht überall auf seiner Haut.
Das Feuer wärmte ihn langsam wieder und entspannt nahm er das Buch un begann damit, ein neues Kapitel zu lesen: „Vergiss nie … die Täuschungen der Umbdu“
Das Buch glitt dem alten langsam aus seinen erstarrten Händen. Sein Mund war weit geöffnete und seine Augen, weit aufgerissen, zeigten Furcht.
Er bemerkte, dass die Tür, zu der er mit dem Rücken zugekehrt war, offen stand und im Wind der Nacht klapperte. Armer, alter Narr. Er hätte es wissen müssen.
Zu spät hatte der Alte die Schatten hinter sich bemerkt. Gegen List und Schnelligkeit gab es keinen Zauber. Er konnte nur noch die Sekunden vergehen lassen, ehe er in die Unendlichkeit entführt wurde.
Das Buch lag am Boden. Der anfang des Kapitels aufgeschlagen. Der Wind blätterte bis zum Ende des Kapitel, wo geschrieben stand:
Und es war der alte Weise, der die närrische Täuschung des Waldvolkes nicht erkannte.
(c) Thomas G.