Die Verschwörung
Die Verschwörung
Mein Weg führte mich wie immer durch das schon bereits geöffnete Fenster im Erdgeschoß, hinaus auf den Wä-scheplatz. Dort wartete ich wie so oft mehrere Sekundenlang darauf, ob sich etwas tat. Links von mir verliefen die Treppen in das Kellergeschoß hinab und obwohl die Tür geöffnet war, konnte ich von hier oben aus kein Geräusch im Keller wahrnehmen. Ich mochte die meisten Leute aus unserem Haus nicht und vor allem den kleinen Jungen von Obendrüber vermeide ich, so oft es geht. Der Wäscheplatz selbst war leer, doch einige der Nachbarn von Ge-genüber saßen einmal mehr mit ihren insgesamt drei Hunden auf Ausklappstühlen vor dem Haus. Ich beschloß, so langsam wie möglich die Wiese ungesehen zu überqueren, um nach der kurzen Peilung der Lage nun endlich mit der Erfüllung meiner monatlichen Aufgabe zu beginnen.
Doch natürlich klappt nie irgend etwas so, wie man sich das vorher vorstellt. Menschen und Hunde machen meist das, was der Gegenüber nicht will. Also rannte ich, überquerte die Wiese, hastete durch die kleine Gasse entlang eines Schuppens zur nächsten Seitenstraße und konnte noch rechtzeitig rechts abbiegen, ehe der Besitzer des Hundes laut rief und Dieser seinem Herrchen gehorchte.
Ich atmete laut auf und lief nun langsamer, die kleine Steigung der Straße hinauf. Ich wich den wenigen Autos aus und grüße Susi aus Hausnummer achtzehn ebenso wie Jimmy aus Nummer fünf, ohne mich länger mit beiden auf-zuhalten. Dazu hatte ich heute keine Zeit.
Die Straße endete in einem etwas größerem Platz, welcher von weiteren Häusern umgeben war und der als Park-platz diente. Eines der Häuser stand schon seit Ewigkeiten leer und zu genau Diesen trieb es mich jetzt. Ich betrat den Vorgarten und schlich mich zu dem Punkt, an dem sich Haus und Garage trafen und dort eine kleine Ecke bildeten.
Das Garagentor war aus Holz und durch die lange Vernachlässigung morsch und splitterig. Unten rechts in der Ecke, fast genau dort, wo das Haus begann, befand sich ein Loch, welches höchstwahrscheinlich einmal von einer herzensguten Dame für die herrenlosen Katzen aufgebrochen wurde. Die Jahreszeiten hatten mit Regen, Schlamm und dem Laub des nahestehenden Kastanienbaums ihr übriges getan. Das Loch würde für eine Katze reichen, aber noch nie habe ich hier eine hinaus- oder hineinschlüpfen sehen. Das Loch war dreckig, verkrustet und kaum mehr passierbar – aber immerhin war es ein Loch, welches mir schon seit Monaten gute Dienste erwies.
Wie immer setzte ich mich in einiger Entfernung in das hohe Gras, mit gutem Blick auf die Garagenecke, und versuchte, mich so gut es ging zu verbergen. Ich wartete. Wartete auf das Geschenk, welches ich einer Freundin allmonatlich machte. Und ich hatte Geduld – darin war ich geübt und fand die Minuten und Stunden, die verstrichen, keinesfalls langweilig.
Als winzige Bewegungen an dem Loch sichtbar wurden, mochten zirka drei Stunden vergangen sein. Ich sah etwas wackeln und ein kleines Geschöpf vorsichtig die Nase hinstrecken, um nach Gefahr zu wittern. Noch immer blieb ich geduldig, auch, als es weitere Minuten dauerte, ehe die junge Ratte endlich die geschützte Garage verließ und ihren ganzen Mut zusammennahm, um ihre erste Erkundungstour zu wagen.
Sie dauerte nicht lange – und manchmal dachte ich schon darüber nach, dass es eigentlich unfair war, ein kleines, sich auf das Leben vorbereitende Tier noch vor dessen erstem Genuß der Freiheit und der frischen Luft aus seinem bisher gehütetem Nest zu entreißen. Ohne auf Hoffnung auf Rückkehr. Aber die Welt war nun einmal mal unfair. Für Menschen ebenso wie für Tiere. Und die Letzteren waren da wohl noch schlimmer dran.
Ich packte die kleine Ratte mit einem einzigem Hieb, darauf bedacht, sie nicht zu töten, und sie fiepte entsetzt und unwissend, was mit ihr passiert. Nun war Eile gefragt, um sie nicht wieder entkommen zu lassen, also durchquerte ich schnurstracks den Vorgarten und den Parkplatz, rannte die Straße hinunter und achtete darauf, die sich winden-de, quietschende Ratte weder zu stark zu verletzten noch zu verlieren.
Ich benutzte die kleine Gasse ein weiteres Mal, hechtete mit großen Sätzen über den begrasten Wäscheplatz und wußte, dass in wenigen Sekunden auch der Hund mir wieder nachsteigen würde. Doch das störte mich nicht – der Wäscheplatz reichte für einen guten Anlauf aus. Mit einem hohem Satz sprang ich hinauf ins Fenster und stellte erst während des Sprungs fest, dass irgend Jemand es während meiner Abwesenheit wieder geschlossen hatte.
Wie schon so oft prahlte ich laut krachend mit der Stirn gegen die Fensterscheibe, wurde von der Wucht zurück-geworfen und schaffte es gerade noch so, mich trotz allem auf dem breitem Fensterbrett zu halten. Unter mir kläffte tiefgrollend und dumm der Hund von Gegenüber und wie erwartet öffnete meine vorhin schon erwähnte Freundin Diana recht schnell das Fenster – meinen lauten Knall hätte sie einfach gar nicht überhören können.
„Hi, Tom-Muerte...?“, begrüßte sie mich in einem fragendem Ton, wie immer, wenn ich das Fenster benutzte, um in die Wohnung zu kommen. In all den anderen Fällen, wenn sie mich ansprach, benutzte sie nur meinen Erstna-men.
Ich war froh, mich von dem Sprint erholend auf Dianas Bett fallen zu lassen und erst jetzt fiel der Ratte nach dem schnellem Transport wieder ein, dass sie ja eigentlich verletzt und gleichzeitig geschockt darüber war. Sie quietschte wieder laut, so, als wenn sie genau wüßte, was ihr bevorstand.
Ich ließ das junge Tier los und erschöpft nahm es die Chance auf, leicht blutend einen Fluchtversuch über Dianas Bett zu wagen. Doch Diana war schneller. Sie griff nach deren Schwanz und hob sie hinauf, brachte sie auf die Höhe ihres Gesichtes und lächelte sie dann an.
„Danke, Tom“, meinte sie an mich gewandt und warf noch schnell einen Blick hinaus ins Wohnzimmer, um sich auch ganz sicher zu sein, dass Niemand sie beobachtete, bevor sie die Ratte noch höher hob, eine kleine Weile über ihrem Mund hin- und herpendeln ließ und ihr dann, noch ehe die Ratte wußte, was geschah, und noch ehe sie hätte gar ihre Zähne anwenden können, den Kopf abbiß.
Ich atmete laut aus, weil ich die ganze Prozedur schon kannte und absolut nichts Neues war, und beschäftigte mich vorerst damit, das bißchen des Bluts der Ratte wieder von meinem Körper zu bekommen.
Währenddessen ließ Diana sich neben mich aufs Bett fallen und schmatzte laut, als die den Kopf der Ratte zerbiß und hinunterschluckte. Es knirschte hin und wieder und während ihre Lippen sich hier und da mit Blut verschmier-ten, fing sie mit ihren Händen das Blut aus dem mittlerweile kopflosen Körper auf.
Als sie mit dem Kopf fertig war, schlürfte sie das Blut aus ihrer linken Hand und biß dann wie in ein Brötchen das zweite Drittel der kleinen Ratte ab, kaute und schmatzte wiederholt hingebungsvoll, lächelte und grinste. Ja, mein Geschenk war wie jeden Monat ein voller Erfolg, obwohl mir noch immer nicht so ganz klar war, was ihr die ganze, so unübliche, unmenschliche Sache brachte. Sie war oft traurig und lief dann stundenlang verloren in der Wohnung umher, schwieg oder war gereizt, wenn man sie ansprach – aber bekam sie eine Ratte von mir geschenkt, war sie daraufhin jedes Mal über mehrere Tage hinweg gut gelaunt.
Ich glaube, ein paar Tage Sonnenschein in einem derzeitig regnerischem Leben war viel mehr Hilfe, als man ihr hätte auf normalem Wege geben können. Die Abgründe der Menschen sind höchstwahrscheinlich bodenlos.
Und trotzdem empfand ich diese tierische Macke nie als sehr störend in unserer Freundschaft.
Das Ritual endete damit, dass Diana das letzte Dritten, also den Schwanz und ein Stück des Hinterteils, vor mir auf dem Bett plazierte, hinüber ins Badezimmer huschte, sich saubermachte und wieder zurückkehrte.
Sie beugte sich zu mir hinüber und gab mir einen Eskimokuß, schloß kurz die Augen und lächelte – eine liebe Geste unter Freunden –, ehe sie aufstand und sich Richtung Wohnzimmer wand.
„Maaa?“, rief sie hinüber. „Tom hat schon wieder eine Ratte mitgebracht!“
„Halb aufgefressen?“, erklang es gedämpft von drüben.
„Ja!“
„Lass mich raten – ich kann das Bett wieder neu beziehen?“
„Ja!“, wiederholte Diana laut. „Oder glaubst du, ich mag in einem Bett schlafen, auf dem eine halbzerkaute Ratte alles vollgeblutet hat?“
Ein genervtes Seufzen erklang aus dem Wohnzimmer und Diana drehte sich noch einmal zu mir um. Eines ihrer Augen bewegte sich und erneut lächelte sie, bevor sie ins Wohnzimmer hinüberging, um die neuen Bettbezüge zu holen.
Kurzzeitig befand ich mich tatsächlich in dem Glauben, dass nicht nur wir Katzen, sondern auch die Menschen Blinzeln und somit einen stummen Akt des Vertrauens leisten können. Dann verwarf ich den Gedanken jedoch wieder. So schlau waren die Menschen dann wohl doch wieder nicht.