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- 19.06.2001
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Die Verständnislosigkeit nach der Erkenntnis
DIE VERSTÄNDNISLOSIGKEIT NACH DER ERKENNTNIS
13. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Das unscheinbare, dennoch seriös wirkende Inserat in einer der großen, überregionalen Zeitungen hatte fünfzehn Menschen angelockt. Oleg Kurskov war ein wenig enttäuscht. Sich mit der Zunge über die spröden Lippen fahrend, blickte er durch die Glasscheibe in den hellen, großen Raum, wo die potentiellen Kandidaten in bequemen Sesseln lungerten, sich mißtrauisch ansahen und nervös in seine Richtung starrten. Sie sahen nur einen sehr breiten Spiegel, aber Kurskov war sich sicher, dass sie wußten, dass sie beobachtet wurden. „Das sind alle?“, fragte er den jungen Offizier neben sich, der unsicher wirkte. „Alles in Ordnung, Andropow?“
„Ja, Doktor. Ich fühle mich nur etwas...“ Der Mann zupfte an seiner Uniform. Schweißperlen liefen an seinem Gesicht herab. „Es ist sehr... warm.“ Verlegen sah er an Kurskov vorbei, irgendeinen Punkt an der Wand fixierend.
„Ja.“ Kurskov nickte. „So muß es auch sein.“ Er ging zu einem kleinen Tisch, wo Papier und Bleistifte ordentlich nebeneinander in Ablagen einsortiert waren. „Also gut.“ Kurskov setzte sich, nahm Papier und Bleistift zur Hand und kritzelte schnell Nummern auf das Blatt. „Diese hier können gleich wieder gehen. Bleiben also acht übrig. Wir brauchen aber nur vier. Ächzend wuchtete er seine gut einhundertdreißig Kilogramm Körpergewicht wieder hoch und winkte den Offizier zu sich. „Also, die Nummern hier auf dem Papier beschreiben die Reihenfolge von links nach rechts, wenn Sie den Raum betreten. Soweit alles verstanden? Ja?“ Unsicher sah ihn Andropow an. Kurskov verzog das Gesicht. „So schwer ist das nicht! Sie gehen rein, sehen auf den Zettel und filtern dann von links nach rechts aus. Sie nehmen die Zahl auf dem Papier und gehen entsprechend von Sessel zu Sessel. Von links nach rechts. Ganz einfach, junger Mann!“
Andropow räusperte sich: „Ja...“ Er nahm das Blatt Papier entgegen.
„Also?“ Verärgert machte Kurskov eine eindeutige Handbewegung Richtung Tür.
„Oh...“ Der junge Mann verstand. „Sie meinen, jetzt gleich?“
„Ja, jetzt gleich.“ Kopfschüttelnd nestelte der Doktor eine Zigarettenschachtel aus einer der vielen Taschen des nicht mehr ganz so weißen Kittels, den er trug. „Beeilen Sie sich, Mann!“ Andropow verließ schnell das kleine Beobachtungszimmer. „Idiot!“, murmelte Kurskov und zündete sich eine Zigarette an. Obwohl es eigentlich nicht lustig war, registrierte er mit einem leichten Lächeln, wie sich Andropow redlich bemühte, die unbrauchbaren Personen aus dem Raum zu lotsen. Armer Kerl, dachte Kurskov. Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nase wieder aus. Er spürte ein Kribbeln, unterdrückte aber den aufkommenden Niesreiz. (Mann, wie lange dauert das!) Jetzt standen fünf wild gestikulierende Menschen um Andropow herum, der hoffnungslos überfordert war. (Okay, das reicht!) Kurskov drückte einen Schalter an der Wand und sagte mit klarer Stimme: „Guten Morgen! Bitte folgen Sie den Anweisungen von Offizier Andropow. Alle Personen, die nicht in Frage kommen, melden sich bitte am Ausgang Z12 des Gebäudes. Sie erhalten dort eine beachtliche, finanzielle Aufwandsentschädigung.“ Er wartete einen Moment. Alles was er sah, waren verständnislose Gesichter. Sehr schön, dachte Kurskov. „Die Entschädigung wird in Höhe eines Jahresgehalts ausgezahlt. Und wir sprechen hier von einem Jahresgehalt, was eine Bürokraft im Kreml verdient, meine Herren!“ Es dauerte nicht einmal zehn Sekunden, bis nur noch acht Personen übrig waren und ein irritiert aussehender Andropow den Raum verließ. Lächelnd nahm Kurskov einen weiteren Zug von seiner Zigarette und drückte sie anschließend aus. (Na, geht doch!) Andropow betrat den Beobachtungsraum. Kurskov nickte gnädig. „Sehen Sie? So wird das gemacht!“
„Entschädigung? Kreml?“, fragte der Offizier, der noch mehr zu schwitzen schien.
Etwas angewidert versuchte Kurskov, die kleinen Schweißflecken auf der Uniform zu übersehen. „Ach, kommen Sie, Mann! Sie wissen so gut wie ich, dass von denen keiner das Gebäude verlassen wird.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber Sie haben sich da drinnen nicht gerade wie ein aufrechter Verfechter des Systems erwiesen.“ Bei diesem Satz bleckte er die Zähne und fuhr sich durchs Haar. Dann winkte er ab. „Wie auch immer. Ich schätze, die werden für biologische Waffen herhalten müssen. Arme Schweine, sowas kann äußerst unangenehm ausfallen...“ Für einen Moment hielt er inne. „Äußerst... unangenehm!“
Andropow räusperte sich und fragte: „Ist das nicht verboten?“
„Nicht, dass ich wüßte“, antwortete der Doktor und hustete leicht. „Aber das muß uns nicht interessieren!“ Er drückte wieder den Schalter an der Wand. „Ja... Vielen Dank! Sie sind in die engere Auswahl gekommen, meine Herren. Wir werden morgen früh um Punkt Sieben Uhr mit der Testreihe fortfahren. Ruhen Sie sich aus!“ Kurskov hustete erneut, dann fuhr er fort: „Falls Sie ein Hungergefühl verspüren... In der Kantine für Testpersonen werden kostenlos Mahlzeiten ausgeschenkt. Auf Wunsch auch mit fettfreiem Fleisch. Anschließend sollten Sie sich in die Ihnen zugewiesenen Unterkünfte begeben. Glauben Sie mir, das ist einfach sicherer für Sie! Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, meine Herren!“ Zufrieden ließ er den Schalter los. (Gute Ansprache, alter Junge!) Die verbliebenen acht Testpersonen verließen ohne großartiges Drumherum den Raum. „So macht man das, Andropow!“, murmelte er. „So macht man das!“
Der junge Offizier kratzte sich am Kinn. „Das haben Sie toll hinbekommen, Doktor!“
„Ja, weiß ich.“ Kurskov dehnte sich und atmete tief durch. „Sagen Sie mal, bereuen Sie es, hierher versetzt worden zu sein?“
„Nein... Nein!“
„Gut“, sagte Kurskov. „Dann sehen Sie mal zu, dass von denen keiner Extratouren macht. Das können wir auf gar keinen Fall gebrauchen!“
„Ja!“ Andropow salutierte kurz, drehte sich, wie er es bei den Schleifern in der Armee gelernt hatte, um und ging dann schnell aus dem Zimmer.
Doktor Oleg Kurskov setzte sich auf einen Stuhl und zündete sich eine neue Zigarette an. „Na, da kann man ja mal gespannt sein.“ Der Qualm brannte in den Augen, und winzige Tränen kullerten über seine speckigen Wangen. Keiner von denen wird jemals zurückkommen, dachte Kurskov und lächelte. Aber das war auch nicht weiter wichtig. Er gähnte uns schaute zu der großen Uhr, die über der Tür hing. „Oh...“ Wenn er noch ein warmes Abendessen wollte, mußte er sich beeilen. „Verdammte Richtlinien!“
14. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Freundlich schüttelte Kurskov jedem der acht Testpersonen die Hand. „Angenehm... Guten Tag... Freut mich... Wie geht es Ihnen... Hallo... Schön, dass Sie es geschafft haben... Guten Morgen... Ich fühle mich geehrt...“ Er hatte sie alle in einem der unzähligen Tagungsräume des wissenschaftlichen, vom Militär betriebenen, Gebäudekomplex versammeln lassen. Die Testpersonen saßen nun nicht mehr in bequemen Sesseln, sondern wie in der Schule auf harten Holzstühlen, vor ihnen kleine, schmucklose Metalltische. „Sie müssen das ausfüllen, meine Herren!“ Kurskov verteilte Fragebögen. „Sie haben dafür dreißig Minuten Zeit. Hauptsächlich geht es uns um das körperliche Befinden von Ihnen. Intelligenz spielt nur eine untergeordnete Rolle. Hat noch jemand eine Frage?“ Er sah sich um. Alle waren vertieft in die Fragebögen, kauten an den Bleistiften herum und schluckten ab und zu. „Sehr schön. Die... Zeit... läuft... jetzt!“ Schnell ging er zu dem Pult, der ganz vorne neben der grünen, großen Schiefertafel stand und drückte auf eine Zeituhr, die er sich von einem wissenschaftlichen Kollegen aus dem Erdgeschoss geliehen hatte. Irgendwann, dachte Kurskov, irgendwann mußt du auch mal wieder eine Partie Schach spielen...
Klack... Klack... Fasziniert beobachtete Kurskov den Sekundenzeiger der Uhr. Eine komplette Umdrehung ergab sechzig Sekunden, die wiederrum eine ganze Minute... Schon als Kind hatte er sich für das Thema Zeit begeistert und oft genug nervte er seinen Vater mit Fragen wie „Wer hat die Zeit erfunden?“, „Ist Zeit endlich?“ oder „Kann man durch die Zeit reisen? Rückwärts? Vorwärts?“ Sein Vater, ein einfacher Fabrikarbeiter mit dem Intellekt eines Mannes, dem im großen vaterländischen Krieg Granatsplitter um die Ohren flogen, konnte dann meistens nur mit den Schultern zucken. Um Oleg nicht zu sehr zu enttäuschen, befreundete sich Andreij Kurskov mit hochrangigen Militärs an, die ein gutes Wort für Oleg einlegten, als es an der Zeit für ihn war, entweder zu studieren oder zur Armee zu gehen. Mit seinem Übergweicht und dem etwas schiefen Gang wäre aus Oleg sicherlich eine arme Lachnummer für die anderen Kameraden geworden, doch er studierte an der Universität in Ost-Berlin, absolvierte ein zweijähriges Praktikum bei einer hoch angesehenen, westdeutschen Technikfirma und ging dann nach Moskau zurück, um für das Militär an wissenschaftlichen Prestigeprojekten mitzuwirken. Beispielsweise war eine effiziente Trägerrakete neuen Typus seine Idee gewesen. Leider wurden die ‚Gagarin‘-Modelle nie entwickelt, aber der Name Oleg Kurskov wurde unter Insidern ein äußerst bekannter Name. Und das war hilfreich. Er konnte sich eine Eigentumswohnung, eine Datsche am Kaspischen Meer, einen gebrauchten Mercedes und eine Geliebte leisten, die ihn in seiner kargen Freizeit so manch ausgefallenen Wunsch erfüllte. Klack... Klack... Der Wecker klingelte und Oleg Kurskov schreckte hoch. Beinahe kippte er vom Stuhl, konnte sich aber im letzten Moment festhalten. (Oh verdammt! Bin ich etwa eingeschlafen?) Er sah zu den Testpersonen. Einige lächelten verlegen. Räuspernd stand Kurskov auf. „Haben Sie die Fragebögen komplett ausgefüllt?“ Er nickte freundlich. „Beim Hinausgehen legen Sie bitte die Bögen hier auf dem Schreibtisch vor mir ab. Sie haben dann den restlichen Tag frei. Ich rate Ihnen, in Ihren Unterkünften zu bleiben. Nur in dringenden Fällen sollten die Gäste-WCs oder die Kantine aufgesucht werden... Es ist sicherer für Sie, glauben Sie mir das! Die Ergebnisse werden Ihnen dann morgen um die selbe Uhrzeit mitgeteilt.“ Er gab jedem die Hand beim Hinausgehen. „Auf Wiedersehen... Vielen Dank... Ja, bis morgen... Noch einen angenehmen Tag... Bis morgen dann... Nein, telefonieren ist nicht erlaubt... Dankeschön... Vorsicht, stolpern Sie nicht...“
Er winkte Andropow zu sich herein. „Nehmen Sie Platz! Zigarette? Tee?“ Andropow lehnte dankend ab. „Fein...“, murmelte Kurskov und zündete sich eine Zigarette an. Er zeigte dem Offizier acht Fragebögen. „Sehen Sie das?“
„Ja, Doktor.“
„Und?“
„Ich...“ Unruhig rutschte Andropow auf dem Stuhl hin und her. Er kam sich wie ein kleiner Schuljunge vor, der bei einem einfachen Test zu versagen drohte. Schon war er durchgeschwitzt und das war ihm fast peinlicher als der Zusammenprall mit einem Major der Luftwaffe am frühen Morgen. (Gott, wie der mich angesehen hat!) „Ich... Was meinen Sie?“, gab Andropow resigniert auf.
„Da!“ Kurskov tippte mit der gelblichen, von Zigarettenqualm verursachten, Fingerspitze auf das untere, rechte Drittel eines Fragebogens. „Haben alle die Unterschrift vergessen, diese Idioten! Nicht, dass es egal wäre... Aber trotzdem, ich hasse das!“ Wütend zerknüllte er den Bogen und warf ihn in den Mülleimer. „Also, Andropow. Morgen früh bringen Sie mir... Haben Sie was zum Schreiben? Nein?“ Er deutete auf einen kleinen Notizblock. „Nehmen Sie den... Gut... Also! Folgende Personen bringen Sie morgen früh rüber in den H23-Gebäudeteil. Und zwar in Raum 213. Haben Sie? Gut... Die anderen schicken Sie zu Ausgang Z12. Noch Fragen?“ Andropow schüttelte den Kopf. „Gut! Wegtreten, Soldat!“ Schnell stand Andropow auf und verließ fast fluchtartig das Büro. „Arme Sau! Müßte mal ordentlich einen geblasen bekommen, der junge Kerl!“, sagte Kurskov leise zu sich und lachte dann laut auf. Andropow war wirklich ein Musterbeispiel für einen schlechten, leicht beeinflussbaren und jungen Offizier. Kopfschüttelnd zog der Doktor an der Zigarette und schloss dabei die Augen. Der Rauch tat gut, beruhigte ihn auf eine angenehme Art und Weise...
15. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Draußen fiel dichter Schnee. Im Raum 213 war es warm. Sehr warm. „Nun, die Heizung spielt wohl etwas verrückt“, bemerkte Kurskov trocken und wischte sich mit einem fleckigen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Erwartungsvoll sahen ihn die vier verbliebenen Testpersonen an, die er für das Projekt ausgewählt hatte. „Schön, dann wollen wir mal!“ Kurskov nahm eine Mappe zur Hand und blätterte, ab und zu seufzend, in den Unterlagen herum. „Also, da haben wir Sergej Jomowitsch?“ Eine Hand hob sich. „Ja, danke... Achtzehn Jahre alt... Sie kommen aus Kiew? Schöne Stadt! Ihre Interessen sind Fußball, Literatur der frühen Zwanziger und prähistorische Geschichte. Sehr schön, Herr Jomowitsch. Das finde ich gut.“ Freundlich nickte Kurskov dem schlaksig wirkenden Mann zu. „Dann haben wir... Moment, bitte!“ Er blätterte etwas vor. „Ah... Maxim Grushna?“ Ein Mann, der ganz links saß, meldete sich. „Hallo“, sagte Kurskov. „Vierundzwanzig Jahre alt, aus Minsk kommend, und Sie interessieren sich für Insektenkunde... Sonst nichts?“ Grushna verneinte. „Ich verstehe Sie, Herr Grushna. Es gibt millionen Insektenarten. Und bis jetzt hat man nur einen Bruchteil entdeckt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Er zwinkerte dem Mann zu, der einen engen Pullover trug, unter dem sich kräftige Muskeln abzeichneten. „Sehr schön. Weiter geht es mit... Andreij Raszinski. Ein schöner Name, mein Vater hieß Andreij. Wo? Ah...“ Raszinski war der älteste von den vier Personen. „Dreißig Jahre alt. Interessen sind... Naturheilkunde und Landwirtschaft?“ Der Mann nickte ohne auch nur eine einzige Regung zu zeigen. Schnell blätterte Kurskov weiter. „Und schließlich Pavel Gorki...“ Feixend sah Kurskov zu dem Mann. „Sind Sie verwandt mit? Nein? Gut... Sie sind siebenundzwanzig Jahre alt und als Interessen haben Sie Physik und Ingenieurskunst angegeben. Sehr interessant. Wirklich interessant, Herr Gorki.“ Er holte tief Luft, klappte die Mappe zusammen und legte sie weg. Dann klatschte er in die Hände. „Sehr schön! Jetzt wollen Sie bestimmt wissen, um was es sich bei der ganzen Angelegenheit eigentlich handelt, nicht wahr?“ Wohlwollend registrierte er, wie sich die vier Männer zuerst gegenseitig ansahen und dann stumm mit den Köpfen nickten. „Ja, dann folgen Sie mir einfach, meine Herren!“
Auf dem Weg zu einer großen Halle, die sich am Ende des Komplexes befand, erzählte Kurskov viel über das Phänomen Zeit, erklärte einiges über Gravitation und theorisierte vor allem über amerikanische Science-Fiction-Filme, in denen Außerirdische die Erde besuchten. „Sehen Sie, das ist ziemlich großer Quatsch. Nur imperialistische Dummköpfe können sich so etwas ausdenken. Allein die Unmengen von Energie, die nötig sind, um auch nur ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, sind aberwitzig. Das übersteigt jeglichen Kosten-Nutzen-Faktor. Ich sage Ihnen, meine Herren, wenn überhaupt, dann werden wir Menschen es in ferner Zukunft mal bis zum Mars schaffen, wenn überhaupt. Kleine, unbemannte Sonden können durchaus das Sonnensystem verlassen, aber das wars dann auch schon. Und warum sollte es den Außerirdischen anders ergehen? Warum sollten die Energie verschwenden, um in ferne Galaxien aufzubrechen? Das ist alles totaler Quatsch. Hollywood eben.“ Fragende Blicke trafen ihn. „Vergessen Sie es einfach! Reisen zu fernen Sonnensystemen ist in meinen Augen ein Ding der Unmöglichkeit!“ Dann hatten sie die große Halle erreicht. „Einiges wird Ihnen jetzt bestimmt fremdartig vorkommen, meine Herren!“ Er zeigte den zwei schwer bewaffneten Soldaten einen Ausweis. Diese gingen stumm zur Seite. „Folgen Sie mir! Fassen Sie nichts an!“ Kurskov drückte einen Knopf, eine große Wand schob sich leise summend zur Seite und vor ihnen erstreckte sich ein Areal, fast doppelt so groß wie ein Hangar, in der Flugzeuge zusammengebaut wurden. „Das hier, meine Herren...“, flüsterte Kurskov eher zu sich selbst, „Das hier ist unser ‚Traumland‘!“ Dann ging er in die Halle hinein. Stumm und überwältigt von unbeschreibbaren Gefühlen folgten ihm die vier Männer.
Jomowitsch, Grushna, Raszinski und Gorki hatten die riesige Halle kaum betreten, als sich hinter ihnen das Tor wieder schloss. Es gab ein Zischen, Dampf war zu sehen. Der Ausblick war wahrlich atemberaubend: Die Wände waren mit dicken Stahlträgern verkleidet, an der Decke hingen tausende Drähte, die wie ein vielschichtiges Netz aus Stromkabeln wirkten. Der Boden war mit Gummimatten ausgelegt. In der Mitte stand eine riesige Apparatur, um die im Abstand von fünfzig Metern dutzende Terminals standen, an denen Menschen in weißen Anzügen arbeiteten. „Mein Gott! Was ist das?“, fragte Raszinski leise und stieß Grushna sanft gegen den Arm. „Was haben die mit uns vor?“
Gorki drehte sich um und sagte: „Vielleicht ein neues Antriebssystem. Die Anordnung sieht wie bei einer Rakete aus. Unten sind die Brennkammern, dann die Tankfüllungen...“
„Meine Herren!“ Kurskov stellte sich zwischen sie. „Bitte gedulden Sie sich und folgen Sie mir. Sehen Sie die gelbe Linie?“ Er zeigte zum Boden. „Gut einen Meter breit. Verlassen Sie diese Linie nicht. Können wir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging er in leicht schiefer Haltung davon.
„Sieht jedenfalls beeindruckend aus...“, murmelte Jomowitsch und beeilte sich mit den anderen, dem Doktor zu folgen.
Alles wirkte fremdartig auf sie: Die vielen Maschinen; das allgegenwärtige Geräusch, das wie ein Grillenzirpen klang und sich langsam in das Unterbewußtsein einschlich; unzählige Terminals mit grünlichen, leicht gewölbten Monitoren, auf denen unablässig Zahlen und Diagramme erschienen; hektisch wirkende Menschen mit Zetteln in den Händen und seltsamen Dingern auf den Köpfen, die fast wie eine Miniaturausgabe eines Kopfhörers aussahen, den man für viele Rubel in den Läden bekommen konnte; gelbliche Blitze, die sich an den Stahlträgern entlang zur Decke hin schlängelten und in einem Knoten aus Drahtwirrwarr verschwanden; die Gummimatten, die bei jedem Schritt leicht nachgaben und das Gefühl vermittelten, dass sich unterhalb des Areals ein weiterer Raum befand, der vielleicht noch größer war... Und natürlich diese imposante Apparatur, die in der Mitte stand und wie ein gigantisches Wespennetz aussah... Nach fünfzehn Minuten Zickzackkurs durch die Halle erreichten sie eine Leiter, die sie nacheinander hinaufstiegen. Oben angekommen, befanden sie sich auf einer Plattform mit einem Baucontainer, in den sie Kurskov lächelnd hineinbat. „Kommen Sie! Nur herein!“ Als die vier Männer im Container waren, sah sich Kurskov noch einmal um. Er überflog schnell die Halle. Dann rieb er sich die Hände und ging ebenfalls in den Container.
Genau so, wie er es erwartet hatte, blickte er in mehr als fragende Gesichter. Kurskov setzte sich auf einen Stuhl, der unter seinem Gewicht bedrohlich zu wackeln begann. Gelassen holte er ein Päckchen Zigaretten hervor. Er bot jedem eine Zigarette an, aber die anderen winkten dankend ab. „Also gut...“ Er tastete die vielen Taschen seines Kittels ab, dann hatte er Streichhölter gefunden. „Sie denken bestimmt, was ich Ihnen vorhin erzählt habe...“ Gierig zog er an der Zigarette und warf das noch brennende Streichholz in einen Aschenbecher, wo die bläuliche Flamme nach kurzer Zeit erlosch. „Sie denken jetzt bestimmt, hier geht es um Außeriridische, Fluggeräte von fremden Systemen... Vergessen Sie das! Das da draußen...“ Er nickte zu einem schmalen Fenster. „Das ist eine Zeitmaschine!“ Erwartungsgemäß bekam er keine Antwort. „Ich wiederhole: Das ist eine Zeitmaschine!“
Nach und nach fielen die vier Männer aus der merkwürdigen Starre, die sie inne hatten. Es war Gorki, der schließlich fragte: „Es handelt sich um Was?“
Langsam wiederholte Kurskov: „Wie haben es hier mit einer Zeitmaschine zu tun!“
„Das ist technisch unmöglich!“, warf Gorki ein. Die anderen drei sagten nichts. „So etwas kann es nicht geben!“
„Und warum nicht?“, fragte der Doktor und aschte ab. „Warum soll es denn nicht möglich sein?“
Gorki fuhr sich durchs Haar und stand auf. „Das ist so, wie Sie es mit den Reisen zu fernen Planeten gesagt haben. Der Energieverbrauch ist geradezu irrational! Vollkommen lächerlich, dass es die Menschheit bei gegenwärtigem Stand der Technologie...“ Aprupt wurde er still und sah Kurskov mit großen Augen an. „Mein Gott, Sie glauben wirklich daran, oder?“
Kurskov drückte die Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. „Zugegeben, es handelt sich um das erste Modell. Deshalb sind Sie ja hier, meine Herren.“
„Um was zu tun?“, fragte Grushna. „Sie wollen uns doch nicht etwa...“
„Genau das wird aber geschehen!“, unterbrach ihn Kurskov barsch. „Wie gesagt: Deshalb sind Sie hier.“
„Ich steige aus!“, sagte Jomowitsch und stand auf.
„Sie werden gar nichts, Herr Jomowitsch! Setzen Sie sich wieder! Na los! Setzen Sie sich!“ Ärgerlich sah Kurskov in die Runde. Seine Hände zitterten leicht. „Was glauben Sie eigentlich, wie es weitergehen wird? Sie sagen ‚Nein‘ und wir lassen Sie einfach so gehen?“ Er schnippte mit den Fingern. „Einfach so? Zack! Zack! Da irren Sie sich aber gewaltig, meine Herren! Sie haben unser ‚Traumland‘ betreten, das Gegenstück zum amerikanischen ‚Dreamland‘. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie hier wieder rauskommen, nach allem, was Sie gesehen haben. Besser ist es da schon, in unserem Spiel mitzuspielen!“ Bedrohlich setzte er seine einhundertdreißig Kilogramm Körpergewicht in Szene.
Jomowitsch, Grushna und Raszinski senkten ihre Köpfe. Nur Gorki blieb standhaft und hakte nach: „Wie funktioniert es? Wie haben Sie das geschafft?“
Kurskov winkte ab. „Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen darf. Die da ganz oben machen um die ganze Sache ein gehöriges Brimborium! Um es vereinfacht auszudrücken: Betriebsgeheimnis! Wir verstehen uns?“ Er bekam keine Antwort. Der Doktor sah zu der großen, digitalen Uhr, die sich über dem schmalen Fenster des Containers befand. „Wir haben nicht viel Zeit, meine Herren! In weniger als vier Stunden beginnt ein Abenteuer für Sie, wie Sie es sich selbst in Ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt haben!“ Er entspannte sich. Die vier Männer saßen in sich zusammengesunken da und haderten ihrem Schicksal. Sehr schön, dachte Kurskov, doch die richtige Auswahl getroffen...
15. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Grushna übergab sich. Angeekelt wendete sich Raszinski ab und überprüfte, ob der Anzug, den man ihm angelegt hatte, richtig saß. Jomowitsch klopfte Grushna aufmunternd auf die Schulter. „Wird schon!“ Grushna lächelte schwach. Gorki saß grübelnd auf der Bank und dachte nach.
Raszinski setzte sich zu ihm. „Was denkst du?“
„Ach...“ Gorki winkte ab. „Es ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit!“
„Aber sie haben gesagt, dass sie es geschafft haben.“
„Nein! Es ist ein Testmodell!“ Gorki fuhr langsam mit dem linken Zeigefinger über seinen Hals. „Das bedeutet, dass es eine Testphase ist. Wir sind Versuchskanninchen, verstehst du? Ich glaube, wir sind die ersten, die eingesetzt werden...“
„Eingesetzt?“ Das Wort verursachte bei Raszinski leichte Magenkrämpfe. „Was soll das bedeuten?“
Gorki seufzte. „Vieles! Tod zum Beispiel. Bleibende Gehirnschäden... Abnormale Deformationen des Körpers... Unendlich viele Faktoren.“
„Oh...“
„Ja.“
Raszinski räusperte sich. „Und wenn es tatsächlich gelingen sollte?“
„Nun...“ Mit zusammengekniffenen Augen stand Gorki auf und sah zu Jomowitsch und Grushna. „Unsere Interessen sind sehr vielfältig. Sie werden wohl versuchen, uns in verschiedene Epochen zu schicken. Aber...“ Er winkte verächtlich lächelnd ab. „Das einzige, wohin sie uns schicken werden, ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Tod!“ Sie befanden sich in einer Kabine, vor deren Eingang Soldaten standen, die sie bewachten. Von Kurskov war seit der Ansprache im Container und der anschließenden Wegbringung keine Spur mehr. „Weißt du? Zeitreisen sind eigentlich unmöglich...“
„Warum?“ Raszinski stand auf und dehnte sich.
„Ich habe es vergessen...“
„So?“
„Ja.“ Ein hoher Pfeifton ertönte. Gorki bekreuzigte sich. (Ich glaube nicht an dich, Gott. Aber wenn es dich gibt, dann steht mir bei, okay?) Soldaten winkten sie mit entsicherten Maschinenpistolen heraus. Es ging los. „War nett, eure Bekanntschaft zu machen“, murmelte Gorki.
15. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Streng getrennt waren sie zu der Maschine geführt worden, die inmitten des Hangars wie das Herz eines gewaltigen Organismus alles für sich vereinnahmte. Über ihr knisterte der große Knoten aus Drähten und Kabeln, und ab und zu schossen kleine, grüne Blitze in die Halle hinaus, lösten sich jedoch nach wenigen Metern auf. Das Grillenzirpen hatte sich verstärkt. Seit sie sich in der Anlage befanden, wuchs es beständig. Grushna stand in einer Röhre, festgeschnallt. An seinem Anzug wurde eine Kunststoffkapsel angebracht. Es interessierte ihn nicht, warum und wozu. Gesichtslose Menschen in mit Sauerstoff gefüllten, unförmigen Anzügen gaben ihm Zeichen, die er nicht verstand. (Vor wenigen Tagen hast du noch ein fast sorgenfreies Leben geführt, Alter! Verdammtes Inserat! Verdammte Zeitung! Verdammter Staat!) Die gesichtslosen Menschen entfernten sich. Viele schnell pochende Herzschläge später begann sich die Röhre zu verfärben. Das Glas wurde dunkler. Das Grillenzirpen wurde unerträglich. Grushna spürte sanfte Stiche auf seiner Haut. Dann wurde es schnell abwechselnd dunkel und hell. Tausende, rötlich aussehende Blitze zuckten um ihn herum. Dann wurde es dunkel. Und so wie Grushna, wußten die anderen drei nicht, ob sie nun tot waren, oder das Experiment mit ihnen in einer tragenden Rolle ein Erfolg zu werden drohte...
15. Februar 1983. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Das Licht war verschwunden. Doktor Oleg Kurskov nickte zufrieden und wandte sich zu den Beobachtern des Militärs und des Kremls. „Wenn alles so verläuft, wie wir es berechnet haben, müßten jeden Moment die Telefone klingeln. Von uns finanzierte archäologische Teams müßten eigentlich auf Dinge stoßen, die... nun... sonderbar sind. Kapseln aus Kunststoff beispielsweise.“ Er zeigte zu der Maschine. „Unglaublich, oder? Es scheint so, als hätten wir es tatsächlich geschafft!“
Ein General gähnte. „Es ging zu wie in einem der Filme, die uns als das Böse verdammen, Doktor!“ Umständlich rieb er sich seine zahlreichen Orden. „War es denn ein Erfolg?“
„Das werden wir gleich sehen.“ Kurskov wurde nervös. (Eigentlich müßten die vier schon längst wieder da sein...) „Gleich...“
27. Januar 1988. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Jahre waren vergangen. Seine Karriere war Geschichte. Jeden Tag sah er in der Halle vorbei. Er blieb nicht lang, es brachte ja doch nichts. Gelangweilt sah Kurskov auf einen der Monitore. Nichts als die ständig gleichen Zahlen und Tabellen. „Und? Was gibt’s?“
„Nichts, Doktor Kurskov. Absolut nichts...“
„Hm...“ Die jungen Studenten, die nun die vielen Terminals überwachten und bedienten, schienen nicht sonderlich angetan von ihrer Sache zu sein. Kurskov wuße warum: In Fachkreisen war er ein Narr, ein Sonderling, der immer noch an seine Sache glaubte. Zugegeben, es war ein Wunder, dass das Projekt immer noch halbwegs finanziert wurde. Manchmal vermißte er Andropow. (Wo er wohl ist? Osteuropa?) Die Maschine in dem seit Monaten nicht mehr gewarteten Hangar summte leicht vor sich hin. Er tippte einem jungen Mann auf die Schulter. „Sie glauben nicht an die Sache, oder?“
„Nun...“ Der Student zuckte mit den Schultern. „Es hat halt nicht sollen sein.“
„Ja“, flüsterte Kurskov leise. „Es hat halt nicht sollen sein...“
Und als die wie ein Wespennest aussehende Maschine plötzlich anfing, ihr seit Jahren eher schwaches Grillenzirpen zu verstärken, fiel der Strom aus...
Oleg Kurskov stand im Dunklen. Er lächelte grimmig. Ihm war klar, dass der Lauf der Dinge nun auch sein Projekt erreicht hatte. „Ach, Scheiße!“ Obwohl es dunkel war, griff er zielsicher nach der Tasche seines Kittels, in der er die Packung Zigaretten verstaut hatte. „Ach, alles Scheiße!“
03. März 1988. Innerhalb des Kremls, Moskau, Sowjetunion...
Fasziniert hielt er eines der Artefakte in seiner Hand. „Millionen Jahre alt...“ Behutsam legte er es zurück. „Wir müssen diesen Kurskov danken... Nein!“ Fast zärtlich fuhr er mit seiner Hand über die vier Plastikkapseln. „Erstaunlich...“ Er räusperte sich. „Nun, wir sind uns einig, dass in spätestens zwei Jahren unser System finanziell kollabiert.“ Vier Kapseln aus Plastik lagen vor ihm. Die Analyse hatte ergeben, dass sie aus verschiedenen Epochen stammten. „Also ist es wirklich passiert? Wir haben Menschen zu den Dinosauriern, mitten ins Römische Reich, ins pestverseuchte Mittelalter und in den ersten Weltkrieg geschickt? Anhand einer Maschine?“ Man pflichtete ihm bei. „Ja“, sagte er lächelnd. „Faszinierend... Das behalten wir natürlich für uns!“
„Was ist mit den Chrononauten?“, fragte einer der anwesenden Generäle. „Wir haben sie ausfindig machen können. Sind in Wladiwostok im zweiten Hangar wieder aufgetaucht... Sie sind in Gewahrsam, aber leiden unter... nun, Wahnsinn! Was wird mit der Maschine?“
Er berührte eines der Artefakte. „Zerstören!“
„Was?“
„Mein Weg ist der richtige Weg! Vernichten Sie die Maschinen, die beiden Anlagen... Töten Sie diese vier Menschen! Reformen, meine Herren! Reformen! Womit wir auch zukünftig Geld verdienen können, ist die Raumfahrt!“
06. März 1988. Einhundert Kilometer außerhalb von Moskau, Sowjetunion...
Dreitausend Menschen innerhalb des gewaltigen Gebäudekomplex wunderten sich zunächst, dass sie das monumentale Produkt einer ausgeklügelten Architektur nicht verlassen durften. Stunden später, die Sonne ging gerade unter, verglühte der gesamte Komplex in einem gleißenden Feuerball...
Oleg Kurskov starb mit einem Lächeln. (Bei Gott, du hast Recht gehabt! Es hat funktioniert!)
ENDE
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17.04.2003