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Die Verwandlung der Eiskristalle

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18.05.2005
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Die Verwandlung der Eiskristalle

Für meinen Schatz

Schon seit Tagen lag dichter, gefrorener Schnee um die Hütte am Waldesrand. Iliani versuchte, etwas zu erkennen, doch ihr Blick verlor sich im grenzenlosen Weiß. An der Oberfläche des Glases waren Eisblumen gewachsen. Iliani betrachtete ihre feinen, kristallinen Formen, dann hauchte sie gegen die Scheibe. Nun veränderten sich die Kristalle: Sie schienen zu schmelzen und ineinander überzulaufen. Das Mädchen lächelte. Gerade war ihr eingefallen, dass ihr Name „Kristall“ bedeutete.
„Iliani!“
Sie wandte sich vom Fenster ab und starrte in den Raum. Ihre Mutter lehnte am Kachelofen, der Vater hatte sich am Tisch niedergelassen. Aus einem Grund, den sie nicht kannte, strahlte er.
„Wir haben eine frohe Nachricht für dich!“
Einen Augenblick schwieg er. Nur das Knistern des Ofenfeuers war noch zu vernehmen.
„Du wirst an der Schule des Königs aufgenommen!“
Es dauerte eine Weile, bis Iliani diese Botschaft zu erfassen vermochte. Dann brach sich ihre Verwirrung Bahn.
„Ich? Warum?“
„Nun…“, begann ihr Vater. „Dein Lehrer hat dich sehr gelobt. Er sagt, du seiest das klügste Kind der ganzen Klasse. Und könntest fechten wie ein Junge.“
Verlegen spielte Iliani mit ihren Haaren. Hatte ihr Lehrer all dies tatsächlich gesagt?
„Jedenfalls hat er dich dem Gesandten aus Tianera vorgeschlagen, und dieser war sogleich einverstanden. Weißt du, viele bemühen sich um eine Aufnahme an dieser Schule. Aber längst nicht jeder schafft es. Ich bin so stolz auf dich!“
Zärtlich strich er über ihren Kopf. Nun trat auch die Mutter hinzu und umarmte Iliani. Ihr Druck war etwas zu heftig. Iliani wusste nicht, ob sie sich nun freuen sollte. Sie verspürte ein unbestimmtes Angstgefühl.
„Es ist das, was ich mir immer gewünscht habe“, fuhr ihr Vater fort. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Wenn dieser Unfall nicht gewesen wäre…“
Er warf einen bitteren Blick auf seine Krücken, die an der Tischkante lehnten. Mutter legte einen Arm um seine Schultern, so, als wollte sie sagen: „Du hast doch mich!“
„Was lernt man denn an dieser Schule?“, fragte Iliani zögernd.
Nun kam wieder Leben in ihren Vater.
„Man wird dich zur Soldatin oder Spionin ausbilden, und wenn du erwachsen bist, wirst du dem König dienen“, schilderte er begeistert. „Es gibt nichts Ehrenvolleres, als für den König zu leben…, und für ihn zu sterben.“
„Sterben? Das will ich doch gar nicht!“, rief Iliani unvermittelt aus.
Sie war erst zehn Jahre alt. Noch nie war ihr in den Sinn gekommen, dass auch ihr Leben einmal ein Ende haben würde.
„Iliani, höre mir doch zu“, sagte ihr Vater sanft. „Nur, wer sein Leben für den König hingibt, gelangt in das Paradies der Götter. Denn, wie du weißt, ist er ein Abkömmling der Himmlischen.“
„Was ist mit den anderen, wenn sie sterben?“, fragte Iliani.
Die Miene ihres Vaters verfinsterte sich.
„Wir anderen kommen an einen Ort, an dem es furchtbar kalt ist“, antwortete er.
Seine Schultern hoben und senkten sich, als erschauere er. Die Mutter stand auf und warf ein neues Scheit in den Ofen. Danach trat sie wieder an den Tisch und umarmte ihre Familie.
„Du machst uns so glücklich, Iliani!“, sagte sie leise.
In ihren Augen schwammen Tränen. Vor Freude?
Iliani wusste es nicht.
„Ich habe ein Geschenk für dich“, unterbrach der Vater ihre Gedanken. „Du sollst es immer bei dir tragen.“
Mit diesen Worten griff er in seine Tasche und holte einen gläsernen Kristall hervor.
„Danke!“, sagte Iliani staunend.
Sie blickte nach dem Fenster, an dessen Scheibe erneut Eiskristalle entstanden waren.

* * *

Zehn Jahre waren vergangen, seit Iliani ihr Dorf verlassen hatte, um nach Tianera zu reisen. Sie erinnerte sich an ihre Tränen – sie hatte so heftig geweint, als wüsste sie, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen würde. Und so war es auch gekommen. Je älter sie wurde, desto mehr verblassten die Sehnsucht und der Schmerz. Nun aber wünschte sie, sie könnte sie noch einmal besuchen, um vom Ende ihrer Ausbildung zu berichten. Wie stolz Mutter und Vater auf sie wären… Allein, es war nicht möglich. Ihr erster Auftrag wartete auf sie.

Vor Ilianis Augen erstreckte sich der Park, der das Hauptgebäude ihrer Schule umgab. Seine grünen Wiesen waren vom Sonnenlicht durchflutet. Am Horizont erhoben sich die goldenen Türme von Tianera, der Hauptstadt des Königreiches Tula.
„Ist das nicht herrlich!“, schwärmte Sella, die neben ihr auf der steinernen Bank Platz genommen hatte.
„Und wie!“, stimmte Arine zu. „So werden wir noch im Paradies der Götter zusammen sitzen!“
Wie auf einen leisen Befehl hin hoben alle drei ihre Köpfe, um den tiefblauen Himmel zu betrachten. Das Paradies war ihr Ziel, ihr ganzes Wollen. Allerdings wusste niemand Genaueres darüber, und so konnte man es sich selbst in den glanzvollsten Farben ausmalen.
„Seht mal, dort!“
Arine deutete auf einen Soldaten, der einen Kampfdrachen am Halfter führte. Die drei Kameradinnen hoben ihre Hände, um den Mann in seiner roten Uniform zu grüßen. Er antwortete und setzte seinen Weg fort.
„Wie ich ihn beneide!“, meinte Sella verträumt. „Ein solches Tier in der Schlacht zu erleben, wild und gefährlich…“
„Jetzt sieht er jedenfalls ziemlich unscheinbar aus“, stellte Iliani fest.
Das entsprach den Tatsachen. Mit seinen schmutzig-grauen Schuppen schien der Drache nicht in der Lage zu sein, jemandem Angst einzujagen.
„Nun, wir werden eine Schlacht auch nie von Weitem sehen, schließlich sind wir Spioninnen“, sagte Arine.
Die Freundinnen lächelten einander zu, verschwörerisch, aber auch ein wenig ironisch. Sie wussten, dass sie nicht einmal ihren engsten Vertrauten etwas von ihren Aufträgen erzählen durften. Dies war nur eine der vielen Regeln, denen sie sich im Laufe der Zeit unterworfen hatten. Die Schule des Königs war eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie war das Zentrum, worum sich alles drehte. Nur zu Übungszwecken durften sie das Schulgelände verlassen und mit Fremden sprechen. Und doch hätte keine von ihnen gewagt, sich zu widersetzen. Schließlich waren all ihre Aufgaben zum Wohle des Königs bestimmt.
„Iliani Vorar!“
Iliani wandte sich um. Ein jüngerer Schüler kam geradewegs auf sie zugeeilt.
„Sie müssen sich bei Herrn Galen melden!“, sagte er atemlos und machte sogleich wieder kehrt.
Iliani ahnte, was das bedeutete. Herr Galen war einer ihrer Ausbilder gewesen. Vermutlich war er auch derjenige, der sie von ihrem ersten Einsatz in Kenntnis setzen würde.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich von Sella und Arine verabschiedete.
„Wir sehen uns nachher!“, rief sie noch und schlug den Weg zum Hauptgebäude ein.
Die Schule des Königs war ein nach außen hin unscheinbarer Bau aus rötlich-braunen Ziegelsteinen. Während Iliani sich dem Eingangstor näherte, war ihr traurig zu Mute. Es schien ihr, als sei die Trennung von Sella und Arine bereits endgültig. Die beiden kannten ihre Aufträge schon, das hatten sie zumindest angedeutet. Sie würden wohl noch einige Tage miteinander verbringen, doch dann gäbe es erneut einen Abschied in ihren Leben…

Bedächtig schritt Iliani den weißgekalkten Gang entlang. Gleich würde sie sich Herrn Galen gegenüber sehen. Er war ein erfahrener Spion, und sie war immer stolz gewesen, von einem solch fähigen Mann unterrichtet zu werden.
Herrn Galens Schreiberin führte sie in sein Zimmer.
„Setzen Sie sich, Iliani!“, sagte er.
Mit glühend roten Wangen betrachtete sie den älteren, weißhaarigen Mann, der an seinem breiten Tisch thronte. Sie hoffte, dass er ihre Aufregung nicht zur Sprache bringen würde. Schließlich sollte sie sich als Spionin besser in ihrer Gewalt haben.
„Sie wissen, dass Ihr Einsatzgebiet Eskera ist?“, fragte er.
Iliani nickte. Schließlich hatte sie seit Jahren die eskerische Sprache und Kultur studiert. Immer wieder waren Gerüchte laut geworden, dass die Eroberung Eskeras, des Nachbarstaates, unmittelbar bevorstehe. Allerdings wäre dies ein Segen für die Eskerier, denen unter König Akum von Tula ein neuer Wohlstand erblühen würde. Iliani wusste dies –man hatte es ihr stets aufs Neue erklärt.
„Sie werden die Identität einer Eskerierin annehmen. Ihr Name wird Millana Tenn sein.“
Iliani nickte erneut. Sie war gehorsam, wie immer.
„Sie werden in Eskeras Hauptstadt Amran Quartier beziehen. Ihre Aufgabe besteht darin, mit einer bestimmten Person Kontakt aufzunehmen und eine Beziehung zu ihr einzugehen.“
Einen Augenblick lang schwiegen beide. Iliani wusste nicht, wie sie Herrn Galens letzten Satz verstehen sollte.
„Der Name dieser Person ist Agolaro Karn“, fuhr Galen fort. „Er ist der Schreiber des Ministers für Außenpolitik. Sie müssen ihm Informationen über die Arbeit des Ministers und den Inhalt der Kabinettsgespräche entlocken. Diese müssen Sie an Ihre Kontaktperson weiterleiten.“
„Verzeihung?“, fragte Iliani schüchtern. „Bedeutet das, dass ich mit Agolaro Karn… wie Mann und Frau leben soll?“
„Das ist richtig“, antwortete Galen förmlich. „Wir haben festgestellt, dass Männer unter diesen Umständen besonders leicht zur Weitergabe von Informationen zu bewegen sind.“
Iliani senkte den Kopf und starrte auf die glänzende Tischplatte. Sie hätte auf einen solchen Einsatz vorbereitet sein sollen. Und dennoch verwirrte er sie. Aber war nicht alles zum Wohle des Königs?
„Ich werde Ihnen nun erklären, wie Sie ihre Kontaktperson erreichen“, sagte Herr Galen.
Nachdem er all dies und noch viel mehr erläutert hatte, legte er einen kleinen Gegenstand auf den Tisch.
„Sie wissen, was das ist?“, fragte er.
Iliani bejahte. Es war eine Phiole, gefüllt mit Gift. Sie musste sie von nun an immer am Leibe tragen. Wenn sie enttarnt würde und ihre Gefangennahme drohte, müsste sie daraus trinken. Das war eine ihrer Möglichkeiten, für den König zu sterben.
„Achten Sie gut darauf“, sagte Galen. „Und vor allem: Verbergen Sie sie vor Agolaro Karn!“
Iliani nickte.

Auf ihrem Weg zum Wohngebäude dachte Iliani über ihren Einsatz nach. Sie war bisher noch nie eine Beziehung eingegangen, und sie hatte auch keine Lust dazu verspürt. In ihrem Leben schien dafür kein Platz zu sein. Sicher, einige der älteren Kameradinnen waren verheiratet. Doch ihre Ehemänner sahen sie kaum, und ihre Kinder wurden an der Schule des Königs erzogen. Eine solche Familie schien Iliani nicht erstrebenswert. Nun aber sollte sie sich einem unbekannten Mann hingeben…
„Es ist doch nur ein Auftrag“, dachte sie. „Dabei geht es nicht um Gefühle. Schon gar nicht um meine eigenen.“
Sie gab sich einen Ruck.
„Ich werde ihn ausführen, so gut ich es vermag.“

Einen Tag vor ihrer Abreise erhielt Iliani die Erlaubnis, den Tempel der Kriegsgötter zu besuchen. Jeder, ob Spion oder Soldat, wollte vor einem Einsatz zu ihnen beten. Iliani betrat den weißen Marmortempel durch einen Seiteneingang. In einer hohen Halle standen die verhüllten Statuen der drei Kriegsgötter. Nur dem König selbst war es vergönnt, sie zu betrachten. Auch sein Bildnis befand sich hier. Er trug eine große, mit leuchtenden Rubinen besetzte Krone, die den Blick auf seine feinen Gesichtszüge lenkte. Iliani erinnerte sich an die letzte Parade, bei der sie ihn gesehen hatte. Eine unwirkliche Anziehungskraft ging von ihm aus, obgleich er so streng und unnahbar erschien.
„Alles für den König“, dachte Iliani unwillkürlich.
Dann wandte sie sich wieder den Göttern zu. Sie bat sie, ihr Erfolg zu bescheren, damit das Wohl des Königs gewahrt bliebe. Ihr Gebet schloss mit der rituellen Formel, dass sie, wenn sie bei dem Einsatz ihr Leben verlöre, in das Paradies aufgenommen werden möge. Nun aber sollte sie ihnen etwas opfern – etwas, das ihr sehr viel bedeutete. Iliani holte den Kristall hervor. Glänzend lag er in ihrer Hand. Abermals kamen ihr die Eltern in den Sinn, die Tränen ihrer Mutter, der Stolz ihres Vaters. Langsam und ein wenig verschämt steckte sie den Kristall wieder ein. Statt dessen legte sie ein Armband, das Sella ihr geschenkt hatte, zu den Füßen der Statuen nieder. Auch dieser Verlust schmerzte sie mehr, als er sollte. Schnell verließ Iliani den Tempel.

Im Vergleich zu Tianera war Amran eine Kleinstadt. Dennoch herrschte Tag und Nacht reges Treiben auf ihren Straßen. Menschen schoben ihre ratternden Wägen über das Kopfsteinpflaster, boten ihre Waren zum Verkauf an oder unterhielten sich von Fenster zu Fenster. Die Fassaden waren in vielen verschiedenen Farben getüncht, kein Haus glich dem anderen.
Iliani fühlte sich etwas verloren inmitten all dieser lärmenden, lebendigen Eskerier. Doch dieses Gefühl durfte sie nicht überwältigen – schließlich war sie nicht grundlos hier. Vor einigen Tagen war sie in Amran angekommen. In der Nähe der Prinzenstraße, Agolaro Karns Heimstatt, hatte sie eine kleine Dachwohnung bezogen. Auch ihre Kontaktperson hatte sie bereits kennen gelernt. Dena war eine etwa vierzigjährige Spionin, in deren Nähe sie ein seltsames Unbehagen verspürte. Es schien fast, als traue Dena ihr nicht, obwohl dazu nicht der geringste Anlass bestand.
Iliani warf einen Blick in die Fensterscheibe eines Tuchhändlers. In ihrem Spiegelbild erkannte sie eine junge Frau, welche die eskerische Landestracht trug: ein blaues Kleid, darüber ein weißes Schultertuch. Ihr langes, kastanienbraunes Haar war zu einem strengen Zopf geflochten. Mit einem Mal tauchte im Widerschein eine weitere Gestalt auf. Die glänzend gelbe Uniform eines Schreibers… Aus einer Laune heraus ließ Iliani sich fallen. Der Mann beugte sich über sie.
„Sind Sie verletzt?“, fragte er.
Iliani sah sein Gesicht, als schwebe er über ihr. Es war tatsächlich Agolaro Karn. Nun, sie hatte damit gerechnet, ihn hier anzutreffen. Sie wusste bereits, wann er sein Haus verließ und wann er zurückkehrte. Doch noch nie war sie ihm so nahe gewesen. Er war noch jung, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Aus der Ferne betrachtet war er unscheinbar, einer von vielen. Aber seine bernsteinfarbenen Augen blickten sie an, als kenne er sie bereits.
„Ja…, nein…, ich habe starke Schmerzen!“, stammelte sie.
Und verfluchte sich innerlich. All dies, was gerade vor sich ging, hatte sie nicht geplant.
„Soll ich Ihnen vielleicht eine Rikscha rufen?“, fragte Agolaro Karn, ehrlich besorgt.
„Nein danke, ich…“
Iliani erhob sich – langsam, denn sie musste ihr Schauspiel vollenden.
„Ich wohne nicht weit von hier.“
„Ich werde Sie begleiten!“
Iliani stützte sich auf Agolaro und ließ sich zu ihrem Wohnhaus führen. Nun hielten sie vor der hölzernen Treppe, die bis ins Dach hinauf führte.
„Es wäre am einfachsten, wenn ich Sie trage“, meinte Agolaro zögernd.
Iliani stimmte zu. Vorsichtig hob er sie hoch und erklomm die knarrenden Stufen. Obwohl er schwer atmete, ruhte er nicht einmal aus. Das Gefühl seines warmen Körpers war angenehmer, als sie sich eingestehen mochte.
„Hier sind wir“, sagte Iliani schließlich. „Vielen Dank für Ihre Hilfe!“
Agolaro ließ sie behutsam zu Boden gleiten und wartete, bis sie wieder auf eigenen Füßen stand.
„Tut es noch weh?“, fragte er.
„Ja, sehr“, antwortete Iliani.
„Vielleicht kommen Sie noch mit herein…“
Sie zog den Schlüssel aus ihrer Ledertasche und sperrte die Tür auf. Gemeinsam betraten sie den spärlich möblierten Raum. Während Iliani auf den einzigen Stuhl niedersank, holte Agolaro etwas Balsam aus ihrem Schrank. Iliani entblößte ihre Unterschenkel, die tatsächlich zerschrammt waren. Bedächtig trug Agolaro den Balsam auf.
„Danke, das tut wirklich gut!“, sagte Iliani aufrichtig. „Wie ist eigentlich Ihr Name?“
Nachdem er sich vorgestellt hatte, meinte sie: „Ich bin Millana. Millana Tenn.“
„Sie sind noch nicht lange in Amran, oder?“, wollte Agolaro wissen.
Iliani bejahte. Sie erzählte nun die Geschichte, die sie sich zurechtgelegt hatte: Sie stamme aus der nördlichen Provinz Kava. Ihre Eltern seien verstorben und hätten ihr ein bescheidenes Vermögen hinterlassen. Sie sei vor kurzem nach Amran gezogen, weil sie die Hauptstadt schon immer habe kennen lernen wollen.
„Amran ist wirklich sehr schön!“, meinte Agolaro. „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einiges zeigen.“
Iliani stimmte zu. Sie plauderten noch eine Weile, dann verabschiedete er sich. Iliani ertappte sich dabei, wie sie ihm verlangend nachblickte.

Von nun an sahen sie einander täglich. Agolaro hielt sein Versprechen, er führte sie jeden Abend durch die Straßen Amrans. Er zeigte ihr den anmutigen Roten Tempel, die blühenden Sommergärten, den weißen Königspalast mit seinen hohen Mauern. Einmal standen sie vor dem Sitz der Regierung, einem Prunkgebäude mit vielen Schnörkeln.
„Ich möchte wissen, ob es innen auch so verziert ist“, meinte Iliani.
„Nun, leider darfst du nicht hinein, nicht einmal mit mir“, sagte Agolaro. „Die Wächter sind sehr streng, besonders in Zeiten wie diesen.“
Er schwieg, und auch Iliani erwiderte nichts. Sie hatte bisher noch nicht versucht, ihm Informationen zu entlocken. Zu diesem Zweck sollte er sie besser kennen und ihr noch mehr vertrauen. Tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass es wohl noch einen anderen Grund für ihr Zögern gab, aber sie wollte ihm nicht nachspüren.

Bevor der junge Mann Iliani nach Hause brachte, kaufte er ihr meist Leckereien von einem Marktstand. Manchmal kehrten sie auch in einer Gaststube ein. An einem warmen Sommerabend, dessen Luft dennoch die Ahnung des Herbstes mit sich führte, besuchten sie eine kleine Taverne. Ihr Gewölbe aus Ziegelsteinen war von Kerzen schwach erleuchtet. Sie saßen an einem Ecktisch und tranken schweren, süßen Wein.
„Millana?“, fragte Agolaro.
Iliani hob den Kopf - ihr war bereits etwas schwindlig.
„Du kannst mich Ago nennen. Und du bist meine Mi!“
Iliani wusste, dass Eskerier, die einander nahe standen, Spitznamen gebrauchten. Ihr war plötzlich sehr sonderbar zu Mute.
Auf dem Heimweg durch die noch immer belebten Gassen legte Agolaro seinen Arm um Iliani. Schließlich waren sie vor ihrer Wohnung angekommen.
„Ich bin sehr müde, Mi“, sagte Agolaro.
„Dann schlafe doch bei mir“, meinte Iliani, und mit einem Mal erschien ihr dieser Satz wie selbstverständlich.
Sie traten in das dunkle Zimmer und entkleideten sich. Iliani fröstelte, doch nicht vor Kälte. Sorgsam legte sie ihre Kleider in den Schrank, dann ließ sie sich auf ihrem Bett nieder. Agolaro setzte sich neben sie, und sie umfing ihn so fest, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
Als sie erwachte, war es noch stockdunkel. Sie fühlte Agolaros Wärme neben ihr, hörte sein gleichmäßiges Atmen. Und dann konnte sie sich der Erkenntnis nicht länger erwehren.
„Ich bin dabei, mich zu verlieben“, dachte Iliani. „Ich habe mich schon verliebt.“
Dieses Gefühl hatte sie nicht allein deshalb ergriffen, weil seine Gestalt so anziehend war. Seine Hilfsbereitschaft, seine Güte, seine Fröhlichkeit…, all das hatte sie für ihn eingenommen.
„Ich bin eine schlechte Spionin!“, gestand sie.
Wie sollte sie nun noch daran denken, ihm Informationen abzuringen? Nun, da es ihr immer schwerer fiel, ihn überhaupt anzulügen? Sie schämte sich für sich selbst, für die Frau, die dazu bestimmt war, dem König zu dienen. Und doch fühlte sie sich kaum mehr dazu fähig, ihrem Auftrag zu gehorchen. Es war, als habe eine unbekannte Kraft sie mitten entzwei gerissen.
Obwohl Iliani in ihrem Innersten so aufgewühlt war, glitt sie allmählich in einen Zustand zwischen Wachen und Träumen. Sie sah sich selbst und Agolaro, wie sie vor den Priester traten, wie sie später ein kleines Kind in den Armen hielten… Iliani gestattete sich die unmöglichsten Vorstellungen. Wenn sie aufhören könnte, Iliani Vorar zu sein, wenn sie ganz in Millana Tenn aufgehen könnte…, dann würde sie ihr Leben mit Agolaro verbringen. Sie würde nicht für den König sterben, sondern irgendwann friedlich einschlafen…, und am Ort der Kälte wieder erwachen. War es das wert? Ihre Gedanken verwirrten sich immer mehr, bis auch sie sich dem Schlaf ergab.

„Guten Morgen, Mi!“
Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass Agolaro bei ihr war. Und noch länger währte es, bis sie verstand, was ihr Kummer bereitete. Aber er durfte nichts davon merken, das wusste sie.
„Guten Morgen, Ago!“, antwortete sie betont fröhlich.
„Darf ich fragen, was das ist?“
In seiner Hand hielt er einen Gegenstand, den sie nicht sogleich erkannte. Ruckartig setzte sie sich in ihrem Bett auf.
„Die Phiole!“, dachte sie. „Er hat sie gefunden…“
„Entschuldige, Mi!“, sagte Agolaro, dessen Wangen gerötet waren.
„Aber ich habe im Schrank nach einem frischen Tuch gesucht, und da habe ich das hier entdeckt. Ich wollte nicht in deinen Geheimnissen kramen!“
„Das macht doch nichts!“, erwiderte Iliani.
Auch sie war beschämt, wenn sie an seinen letzten Satz dachte. Nun aber sah sie deutlich, dass er ihren Kristall umschlossen hatte. Das Licht des Morgens fiel durch die grünen Vorhänge und brach sich an seiner gläsernen Oberfläche.
„Diesen Kristall hat mir mein Vater geschenkt“, erzählte sie.
Agolaro setzte sich neben sie und streichelte ihren Rücken.
„Du musst ihn sehr vermissen“, meinte er.
„Ja“, antwortete sie ehrlich.
„Ich habe auch keine Eltern mehr“, sagte er. „Aber ich habe eine jüngere Schwester, Allia. Sie lebt weit weg in Tessala, bei einer Tante. Sie fehlt mir sehr. Andererseits…, wenn es wirklich zum Krieg käme, könnte sie schnell über die Grenze nach Inva fliehen.“
„Glaubst du, dass bald Krieg sein wird?“, entfuhr es Iliani.
Dies wäre eine Gelegenheit, um ihn auszuhorchen. Aber wollte sie das denn?
„Ich hoffe nicht“, erwiderte Agolaro knapp. „Ach, ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben, aber die Arbeit ruft…“
Iliani war erleichtert.

Agolaro und Iliani verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Als er sie fragte, ob sie zu ihm ziehen wolle, konnte sie nicht Nein sagen. Iliani erwartete ihn nun jeden Tag, wenn er von seiner Arbeit im Ministerium zurückkehrte. Eines Abends schien er sehr müde und betrübt zu sein.
„Hattest du heute viel Mühe?“, wollte sie wissen.
Agolaro ließ sich mit hängenden Schultern am Tisch nieder.
„Ich nicht, aber Eskera“, antwortete er.
„Warum?“, fragte Iliani vorsichtig.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. In ihr kämpften widerstreitende Gefühle: Die Pflicht auf der einen, die Liebe auf der anderen Seite.
„Ich will dich damit nicht belasten“, meinte er.
„Aber Ago!“, rief sie aus. „Wenn du traurig bist, dann möchte ich doch wissen, warum!“
Sie stellte fest, dass dies der Wahrheit entsprach.
„Nun“, begann er zögernd, „Akum von Tula droht uns. Offiziell geht es nur um Grenzstreitigkeiten. Aber Tatsache ist, dass Tula sich Eskera einverleiben will. Schließlich haben sie schon andere Nachbarländer geschluckt!“
„Aber König Akum hat doch gewiss nur redliche Absichten!“, sagte Iliani. „Er möchte, dass es anderen Völkern genau so gut geht wie seinem eigenem.“
„Was?“ Agolaro schrie beinahe. „Wie kannst du so etwas sagen, Mi? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, du hättest vorher auf dem Mond gelebt!“
Es war das erste Mal, dass sie ihn wütend sah. Iliani war ein wenig beschämt, obwohl sie sich im Recht fühlte.
„Akum von Tula ist ein Tyrann!“, fuhr Agolaro fort. „Seine Soldaten verwüsten ganze Länder, ermorden sogar Frauen und Kinder! Und wenn er einmal ein Land besetzt hat, dann ergeht es den Bewohnern schlecht. Sie dürfen ihre eigene Kultur nicht mehr leben. Er lässt Tulaner ansiedeln, damit sie sich mit ihnen vermischen. Wer sich gegen seine Herrschaft auflehnt, wird gefoltert und hingerichtet.“
Iliani starrte ihn fassungslos an. Sie wollte einfach nicht glauben, was sie gerade vernommen hatte. Akum, ihr großer und gütiger König, sollte ein Tyrann sein? Seine Soldaten, seine edlen Schüler, ihre Kameraden – sie sollten Unschuldige töten?
„Agolaro ist Eskerier“, dachte sie. „Er kann gar nicht anders denken.“
Dennoch verspürte sie Wut. Aber da war noch etwas anderes – die Angst, das, was er sagte, könnte am Ende wahr sein…
„Du musst die Tulaner hassen“, sagte sie leise.
„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte er. „Meinst du denn, sie wären besser dran? Er lässt auch seine eigenen Leute foltern, einsperren oder vernichten, wenn sie es wagen, sich ihm zu widersetzen.“
Iliani presste eine Hand gegen ihre Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. Sie wollte Agolaro erzählen, wie gut es ihr in der Schule des Königs ergangen war – allein, sie durfte es nicht. Plötzlich kam ihr ein erschreckender Gedanke. Schon oft hatte sie beobachtet, welche Scheu die Bewohner von Tianera angesichts der Soldaten empfanden. Sie hatte gemeint, es sei ihre Ehrfurcht gegenüber Schülern des Königs, aber vielleicht war es noch etwas anderes…
„Entschuldige, Mi!“, sagte Agolaro.
Sein Gesicht nahm wieder sanfte Züge an.
„Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber es hat keinen Sinn, in einer Traumwelt zu leben.“
Iliani senkte ihren Kopf. Sie war verwirrter als je zuvor.
„Du brauchst auch keine Angst zu haben. Es ist noch gar nicht sicher, ob Tula uns überfällt. Falls uns aber Gefahr drohen sollte, werde ich dich zu meiner Schwester schicken.“
„Und was ist mit dir?“, fragte Iliani.
Agolaro antwortete nicht. Statt dessen umarmte er sie. Iliani fing an zu weinen.

Einige Tage später war Iliani unterwegs zu einem einsamen Park. Das vereinbarte Treffen mit Dena stand ihr bevor. Wenn sie an die ältere Spionin dachte, erbebte sie innerlich. Dennoch wusste sie, dass kein Weg an ihr vorbeiführte.
„Da sind Sie!“
Anstelle eines Grußes war Dena dicht neben sie getreten und hatte sie angefaucht. Iliani zuckte zusammen.
„Und nun geben Sie mir, was Sie haben!“
„Ich kann nicht“, sagte Iliani schüchtern. Sie wagte kaum, Dena ins Gesicht zu blicken.
„Was heißt das, Sie können es nicht?“
Denas Stimme war nicht laut, sondern leise und zischend. Doch erschien sie umso bedrohlicher.
„Ich habe es nicht geschafft, Informationen zu erhalten“, brachte Iliani hervor.
Dena trat noch näher an sie heran, sodass sie ihren säuerlichen Atem wahrnahm.
„Nun hören Sie zu! Sie sind zehn Jahre an der Schule des Königs ausgebildet worden! Sie haben den Auftrag, jemanden auszuhorchen! Nun handeln Sie danach!“
Iliani ließ ihren Blick über den Park schweifen. Hohe, grünende Bäume warfen ihre Schatten auf die beiden Frauen.
„In einer Woche erwarte ich erste Ergebnisse. Selbe Zeit, selber Ort!“
Mit diesen Worten verschwand Dena zwischen den Baumstämmen.

Iliani versuchte, Dena aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie bildete sich ein, dass, wenn sie nur nicht an sie dachte, die Lösung ihrer Probleme wie von selbst am Horizont auftauchen würde. Sie, die einst so vernünftig gewesen war, verhielt sich nun wie ein argloser Mensch.
In dieser Woche genoss sie ihre Liebe zu Agolaro. Wenn er nicht arbeitete, waren sie jede freie Minute zusammen. Sie gingen wie früher aus und sprachen über viele Dinge. Allerdings erwähnte er Tula nicht mehr, und sie war zutiefst froh darüber. In seiner Gegenwart fühlte sie sich zumindest zeitweise frei, und sie erkannte überrascht, wie sehr ihr dieses Gefühl in all den Jahren an der Königsschule gefehlt hatte. Langsam tastete sie sich vorwärts in eine neue Erfahrung. Sie wusste nicht, wo diese Reise enden würde, aber so lange Agolaro bei ihr war, war sie unverwundbar.

An einem warmen Spätsommerabend saßen sie auf dem Balkon und betrachteten die Stadt. Die sinkende Sonne warf ihre letzten Strahlen auf die kupfernen Dächer von Amran. Noch immer waren die Straßen von Leben erfüllt, aber die Menschen hatten sich verändert: Sie schienen unruhiger geworden zu sein. Oder täuschte dieser Eindruck?
„Irgendwie spüre ich die Angst der Leute“, sagte Agolaro, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Besteht dazu denn ein Grund?“, fragte Iliani.
Obwohl sie nicht an Tula denken wollte, kehrte es unvermeidlich in ihr Gespräch zurück.
„Jetzt noch nicht, das hoffe ich zumindest. Und wenn, dann sind wir vorbereitet. Aber Akum hat eine riesige Armee, das bereitet mir Sorgen.“
Beide schwiegen und sahen in den Abendhimmel, dann ergriff Agolaro wieder das Wort.
„Ich verstehe einfach nicht, warum die Soldaten ihm derart treu ergeben sind.“
„Sie glauben, nur wer für den König sterbe, komme ins Paradies der Götter“, antwortete Iliani.
Agolaro lachte bitter auf.
„Natürlich!“, meinte er. „Das ist das beste Mittel, um sie an sich zu binden! Willige Sklaven sind sie allesamt. Aber, wie sie nur so leichtgläubig sein können…“
Erneut war Iliani verwirrt. So hatte sie es noch nie gesehen. Hatte Agolaro denn Recht?
„Sie glauben auch, der König stamme von den Göttern ab“, meinte sie.
„Das ist doch wirklich nicht zu fassen! Wenn Akum tatsächlich von himmlischer Herkunft ist, warum lassen die Götter dann seine Schreckensherrschaft zu?“
Iliani wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte.
„Vielleicht, weil er ihr Sohn ist“, sagte sie zögernd.
„Vielleicht, weil er nicht ihr Sohn ist!“, antwortete Agolaro. „Vielleicht gibt es gar keine Götter.“
Wiederum schwieg Iliani. Alles, was ihr bisher selbstverständlich erschienen war, hatte er in Frage gestellt. Sie wusste nun überhaupt nicht mehr, was sie noch glauben sollte.

Zitternd stand Iliani unter den Zweigen eines Baumes. Sie wartete nun schon sehr lange, und mit jedem verstrichenen Augenblick erhöhte sich ihre Spannung. Es hatte keinen Sinn, sie konnte Dena und allem, wofür diese stand, nicht entgehen. Wenn sie das Treffen nicht einhielte, würden vielleicht andere Spione nach ihr geschickt werden…
„Da sind Sie!“
Wie eine Woche zuvor war Dena an sie herangeschlichen und hatte sie erschreckt. Vielleicht bereitete ihr dies Vergnügen.
„Und nun sagen Sie mir alles, was Sie wissen!“
In einem Anflug von Mut hob Iliani ihren Kopf und sah Dena ins Gesicht.
„Ich weiß nichts. Ich habe es wieder nicht geschafft“, sagte sie fest.
„Wie soll ich das verstehen?“
Die Augen der älteren Spionin funkelten gefährlich.
„Wollen Sie etwa dem König Ihren Dienst versagen?“
Iliani antwortete nicht. Tatsächlich sah sie ein, dass sie Akum von Tula nicht mehr dienen konnte. Nicht nach all dem, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte. Die Liebe zu Agolaro hatte sie verändert. Aber nicht nur er war dafür verantwortlich. Als Schülerin hatte sie sich so lange mit Eskera befasst, dass sie tatsächlich begonnen hatte, dieses Land zu lieben. Dies war ihr nun klar geworden. Und sie hatte erlebt, was es bedeutete, ein anderer, ein freier Mensch zu sein. Eine solche Erfahrung konnte nicht spurlos an ihr vorübergehen.
„Wissen Sie, was man mit Verrätern macht?“, fragte Dena.
Ihre Stimme zischte unangenehmer als jemals zuvor.
„Sie droht mir!“, dachte Iliani. „Agolaro hatte Recht! Akum ist ein Tyrann, und Dena ist eine seiner Schergen!“
Iliani erschauerte. Sie wusste, dass sie Denas Verdacht zerstreuen, ihr etwas entgegnen sollte. Aber sie brachte kein Wort hervor.
„In drei Tagen sehen wir uns hier zur selben Zeit wieder! Dann erwarte ich nicht nur Ergebnisse, ich fordere sie!“
Wieder war Dena plötzlich verschwunden.

Als Iliani die Wohnung betrat, klopfte ihr Herz noch immer heftig. So sehr sie auch nachdachte, ihre Lage schien ihr aussichtslos. Agolaro stand inmitten des Vorraumes. Sie erkannte gleich, dass etwas nicht stimmte.
„Spionin!“, schleuderte er Iliani entgegen.
Sie taumelte rückwärts. In ihr überschlugen sich die Gedanken. Er hatte sie doch nicht etwa im Park belauscht…
„Das darf nicht wahr sein“, flehte sie innerlich, „das darf nicht wahr sein…“
„Ich weiß alles! Auch Eskera hat Spione!“
Agolaro trat näher. Sein Gesicht war vor Zorn zu einer grausamen Fratze verzerrt.
„Man sagte mir, du könntest es sein. Ich wollte es nicht glauben. Aber dann fielen mir all die Ungereimtheiten auf…“
Er sprach viel zu schnell und knetete dabei seine Hände.
„Wie konnte ich auch nur einen Augenblick denken, du seiest tatsächlich Eskerierin!“
Iliani wandte ihr Gesicht ab.
„Schau mich nur an!“, brüllte er, als wolle er das ganze Haus hellhörig machen.
„Schau mich nur an! Ich hätte es schon wissen müssen, als du nach dem Regierungsgebäude gefragt hast! Oder spätestens nach deiner Lobeshymne auf Akum!“
Er schlug sich selbst auf die Brust.
„Wie konnte ich nur so dumm sein?“
„Agolaro!“, rief Iliani verzweifelt.
„Es stimmt, ich bin eine Spionin. Ich war auf dich angesetzt. Aber ich habe mich wirklich in dich verliebt! Ich diene Akum nicht länger, ich bin auf deiner Seite!“
Agolaro sah sie mit der größten Verachtung an.
„Und das soll ich dir glauben? Du erwartest tatsächlich, dass ich dir noch glaube?“
Iliani spürte, wie salzige Tränen ihre Wangen herab liefen.
„Agolaro…“, begann sie und näherte sich ihm.
Da packte er sie an den Schultern und stieß sie gegen die Wand. Ihr Kopf dröhnte und ihr Rücken schmerzte, als sie sich langsam erhob. Agolaro schien ihr so Furcht erregend, dass sie ihn nicht wieder erkannte. Rasch drehte sie sich um und entfloh durch die offene Tür.

Sie verließ auf schnellstem Wege die Stadt und flüchtete ins Landesinnere. Zunächst war sie nur von Angst getrieben – Angst vor dem eskerischen Sicherheitsdienst, aber mehr noch vor Denas Leuten. Die Phiole aber warf sie von sich, sodass sie in ungezählte Scherben zerbrach.
Iliani wanderte durch öde Gegenden, durchquerte einsame Wälder, schlich an abgelegenen Dörfern vorbei. Die Erinnerung an ihre Kindheit kehrte zurück. Sie wusste, wo sie Beeren und andere Früchte finden konnte, um sich zu ernähren. Oder zumindest, um zu überleben. Der Hunger war ihr ständiger Begleiter, doch sie nahm ihn klaglos hin. Nachts schlief sie auf der kalten Erde und wachte morgens von Tau durchnässt auf. Schließlich gewann der Schmerz in ihr wieder die Oberhand. Sie weinte, weinte um Agolaro. Sie hatte ihn verloren. Wenn er auch so zornig gewesen war, so gab sie ihm doch keine Schuld. Sie war es gewesen, die ihn enttäuscht hatte, sie allein. Sie ahnte, dass er die Sicherheitsleute doch nicht auf sie gehetzt hatte. Aber für sie gab es keine Rückkehr zu ihm. Das Glück, das sie beide erfahren hatten, war unwiderruflich vorbei.

Als der Herbst kam, wurde es immer kälter. Iliani musste sich näher an menschliche Behausungen heranwagen. Sie schlief in Scheunen, und als sie keine Früchte mehr fand, war sie gezwungen, zu stehlen. Aber Iliani war noch immer eine Spionin, sodass niemand sie jemals erwischte.
Die Blätter färbten sich, zuletzt verwelkten sie und fielen von den Bäumen. Morgens waren die Felder von Raureif überzogen. Iliani hatte die Nacht in einem Schuppen abseits eines Bauernhauses verbracht. Dennoch war die Kälte in ihre zerlumpten Kleider gekrochen. Nun saß sie auf einem hohlen Baumstamm und ruhte sich aus. Seit Tagen fieberte sie, war nicht mehr bei Verstand. Es gab nur noch diese unbestimmte Unruhe, die sie weiter und weiter trieb. Und doch hatte sie längst die Orientierung verloren.
Plötzlich vernahm sie Stimmen. Iliani stellte sich hinter einen Baum, denn die Furcht, gesehen zu werden, beherrschte sie noch immer. Durch die kahlen Zweige erkannte sie zwei Männer, die einen Wagen den Feldweg entlang schoben.
„Jetzt hat der Krieg schon Veris erreicht“, sagte einer der beiden. „Wenn das so weiter geht, sind Akums Truppen bald in Amran!“
Mit einem Mal war Iliani hellwach. Der Krieg war bald in Amran! Agolaro…, sie musste zu ihm! Schnell eilte sie den Männern nach, um sie nach dem Weg zu fragen. Die Bauern waren sehr verwundert, aber sie gaben ihr Auskunft.

Als Iliani die Stadt erreichte, war das Gefecht bereits in vollem Gange. Schon von weitem sah sie Rauch über Amran, hörte Waffengeklirr und grässliche Schreie. Dennoch vermochte sie es, unbehelligt in die Stadt zu gelangen. Als Spionin musste sie auch dazu fähig sein. Sie fühlte keine Angst, denn sie hatte nur einen Gedanken: Agolaro.
Als sie nun zur Prinzenstraße vordrang, wurde sie von Grauen erfasst. Nicht einmal Agolaros Erzählungen hatten sie auf das Schreckensbild vorbereitet, das sich ihren Augen bot. Tulanische Soldaten ritten auf ihren Kampfdrachen durch die Straßen. Sie steckten Häuser in Brand, schossen Pfeile nach fliehenden Menschen, stießen ihre Schwerter in sie hinein… Iliani wollte die Eskerier retten, sie alle. Aber gegen eine solche Übermacht war sie hilflos. Außerdem musste sie Agolaro finden. So zwang sie sich, ihren Weg bis zu seinem Haus fortzusetzen. Dort war er nicht. Doch als sie sich umblickte, gewahrte sie eine Sackgasse. Agolaro stand mit dem Rücken zur Wand, ein Soldat auf einem Drachen näherte sich ihm. Er zielte mit dem Bogen auf den Tulaner, doch gegen das Tier, das fauchend Feuer ausstieß, schien er nichts ausrichten zu können. Iliani presste sich gegen die Mauer und schob sich am Drachen vorbei. Eine unangenehme Wärme erfasste sie, Ruß regnete auf ihre Haare herab. Dann war sie bei Agolaro angekommen. Er blickte sie an, nicht mehr zornig, sondern erstaunt und furchtsam.
„Millana?“, fragte er.
„Iliani“, antwortete sie.
Der Drache kam stetig näher. Allerdings wandte er seinen Schlund nicht Iliani, sondern Agolaro zu. Sie spürten, wie das Tier Atem holte.
Iliani warf sich vor den Drachen. Ihre Welt ging in Flammen auf.

* * *

Alles war weiß, grenzenlos, von Schnee bedeckt. Von den Bäumen hingen Eiszapfen, die in einem blauen Licht erglänzten. Seine Quelle war unbekannt, denn der Himmel war immer wolkenverhangen. Das Licht spiegelte sich in einem gefrorenen See und glitzerte in den Schneeflocken. Iliani war nie zuvor an einem so schönen, friedlichen Ort gewesen. Sie spürte die Kälte nicht mehr, denn sie hatte sich verwandelt. Sie wusste nicht, ob es tatsächlich so war, wie ihr Vater gesagt hatte. Vielleicht hatte ihr Verstand diese Welt selbst aus unbekannten Kräften erschaffen. Vieles aus dem Leben der Iliani Vorar war schon verblasst. Doch manches Mal tauchten Bilder in ihr auf: ihre Eltern, Sella, Arine…, und vor allem Agolaro. Noch immer schmerzte es, wenn sie an ihn dachte. Aber die Gewissheit, dass Iliani ihn gerettet hatte, tröstete sie. Sie ahnte, dass er lebte, dass er in Sicherheit war. Vielleicht hatte auch Eskera gewonnen. Akum mochte stark sein, aber seine Macht war nicht grenzenlos. Eskera, ihr Eskera, vielleicht war es frei.
Iliani schritt durch das weite Weiß. Aus dem Himmel lösten sich Flocken und schwebten auf sie herab. Jede von ihnen war ein Kristall.

 

Hallo Iris82,
du schreibst eine Geschichte über eine Spionin, die sich in die Gegenseite verliebt. Das ist nichts wirklich Neues - aber ich finde sie gut, sie liest sich ziemlich flüssig.

Du beschreibst im Wesentlichen drei Stationen im Leben deiner Prot. Die erste, bei ihren Eltern. Die zweite in der Schule und dann die dritte, wie sie mit ihrem Mann zusammenlebt. Du hast die erste und die dritte Situation besser ausgebaut als die zweite, das finde ich schade, weil doch gerade die zweite Szene dir eine Menge Möglichkeiten bietet, das Leben in diesem Kaiserstaat noch weiter zu beleuchten. Die Verwirrung deiner Prot hast du gut herausgestellt, finde ich, aber du solltest bei diesem Hin- und Hergerissensein noch mal nachlegen. Immerhin ist die Frau eine ausgebildete Spionin, ich finde es ein bisschen merkwürdig, dass sie erst diverse Zeit nach ihrem ersten Zusammentreffen mit ihrem Zielobjekt das erste Mal mit Gegenpropaganda in Kontakt kommt?

Das Ende kommt mir zu plötzlich. Ohne überhaupt die Richtigkeit einer der beiden Positionen überprüft zu haben, schmeißt sie sich dem Drachen in den Weg? Und überhaupt, was soll das bringen? Immerhin ist Feuer ziemlich heiß. Daran kannst du arbeiten.

Fazit: Gute Geschichte mit Verbesserungspotential, finde ich. :)

gruß
vita
:bounce:

 

Hallo, vita!

Danke für deine Kritik!

Deine Verbesserungsvorschläge gefallen mir gut. Es stimmt, gerade über die Schule ließe sich noch einiges sagen. Mir liegt sehr viel an der Geschichte und ich werde die Vorschläge auf jeden Fall umsetzen, sobald ich wieder etwas mehr Zeit habe.

Liebe Grüße,
Iris

 

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