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Die Verwandlung

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20.03.2008
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Die Verwandlung

Als Grgr Summsumm eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in einen winzigen Menschen verwandelt. Er kauerte, wie zur Nachtruhe gewohnt, unter einem Haufen aus morschen Holzresten und fauligen Blättern, doch das dabei stets empfundene warme Gefühl der Geborgenheit war verschwunden. Stattdessen drückten ihn die scharfkantigen Holzstückchen an etlichen Stellen seines Körpers — sein ehemals so imposanter und seidig-grün schimmernder Panzer hatte sich in eine weiche, warme, mit leichtem Flaum bedeckte Haut verwandelt —, und der modrige Geruch, eigentlich beruhigend, hing ihm dick in der Nase, sodaß ihm das Atmen schwer fiel.

Um von diesem Unsinn Abstand zu finden, versuchte er im Halbschlaf, sich tiefer in seinen Haufen zu graben und noch ein Weilchen zu dösen. Doch das stellte sich schnell als unmöglich heraus. Nicht nur, daß seine starken Beine mit ihren imposanten Krallen, die ihn hier gestern noch mühelos eingegraben hatten, zu schwächlichen und verletzlichen Stümpfen geworden waren, die bei jeder Berührung mit ihrer Umwelt schmerzten, es fehlten ihm auch noch zwei Stück.

Vollends erwacht, wurde ihm sogleich wieder diesig, als er zur Orientierung seine Fühler ausstrecken wollte — er hatte keine mehr. Die Welt erschien ihm dumpf und platt, wie durch einen allesumfassenden Nebel; er fühlte sich taub durch und durch, fast entleibt.
— Dabei spürte er seinen Leib deutlich wie nie zuvor. Die feuchten Blätter klebten an ihm und ließen ihn frösteln; ein merkwürdiges Gefühl. Er konnte jeden einzelnen Abschnitt an seinem Körper genauestens lokalisieren und wahrnehmen — überall pieksten ihn harte Spitzen und Kanten und wollten in ihn eindringen.

Diese Absonderlichkeiten und die Beengtheit seines Haufens, die am Vorabend noch so anheimelnd war, ihn nun jedoch auf unnatürliche Weise quälte, ließen eine leise Panik in ihm aufkommen, die ihn, das fühlte er genau, bald seine Selbstkontrolle kosten würde.

„Beim Skarabäus!“, dachte er. „Ich muß an meiner Lebenssituation arbeiten! Denn irgendwo existiert bestimmt eine höhere Macht, die mich hier im Augenblick beobachtet und von mir erwartet, daß ich mein Schicksal zu meinem eigenen und dem Besten der Allgemeinheit in die Hände nehme. Dann werden Ruhm und Ehre meinen Erfolg krönen!“

Verwundert über die fremdartigen Gedanken, die sich wie von selbst in ihm formten, kämpfte er den Drang zu beten nieder und klappte seine verbliebenen Gliedmaßen ein sogut es ging, um sich zu beruhigen.
„Heute werde ich den ganzen Tag krabbeln. Das wird toll. Vielleicht bekomme ich ja endlich den Herrn Schlingensief von nebenan zu packen, der sieht schon seit Tagen so nahrhaft aus. Ob ich das Fräulein Brummse wiedersehen werde? Hach, ich könnte mich Stunden lang an ihren fetten Unterleib heften. Zum Glück ist der schreckliche Rockotock letzte Woche den Wieselschweiflings zum Opfer gefallen. Obwohl die Wieselschweiflings gefährliche Freßfeinde sind, denen man nichts gönnen sollte, bin ich mithin wenigstens einen los.“

Solchen und ähnlichen rechtschaffenen Gedankengängen folgend schöpfte Grgr langsam aber stetig Mut und Zuversicht aus seiner Käfermitte, und alsbald hatte er das garstige Aufwachen vergessen. Von frischem Tatendrang gestärkt befreite er sich endlich aus dem dunklen Innern seines Schlafhaufens.

Draußen angekommen erregte er freilich sofort großes Aufsehen unter seinen Mitkäfern — so ein Ding hatten sie noch nie gesehen. Alles kam herbeigekrabbelt, Fühler betasteten ihn, und nachdem die Ersten herausgefunden hatten, daß dieses Ding weich und schutzlos war, probierten sie ein Stück. Schnell begriffen alle, daß es sich hier um eine ganz besondere Leckerei handelte, und so hatten sie ihn innerhalb von wenigen Minuten bis auf’s Skelett abgenagt.
Obwohl Grgr Summsumm bis zuletzt nicht müde wurde, zu betonen, er habe Verbindungen nach ganz oben und er wolle sofort mit dem Verantwortlichen sprechen und das alles werde ein Nachspiel haben.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Skraave,

jaja, der Mensch ist und bleibt ein Maengelwesen und das nicht nur aussen sondern gerade auch innen und dann wieder im Bezug auf aussen. Besonders schoen, dass den armen Kaefer da mit dem Menschenkoerper auch die Sinnfrage ereilt. Das haette ich bei Abwesenheit bemaengelt. Besonders gut:

Dabei spürte er seinen Leib deutlich wie nie zuvor.
Selbst- und Koerperbewusstsein als Selbstentfremdung - so'n postmodernes Zeug halt, das mich an bestimmte Kuenstler erinnert, die ich jetzt aus persoenlichen Gruenden nicht nennen werde.
Auf synoptischen Vergleich mit dem Vorbild habe ich verzichtet, daher gut moeglich dass mir Feinheiten entgangen sind. Doch auch ohne die muss ich sagen, dass das meiner Meinung nach Dein bisher bester Text hier ist, weil's neben Kurzweil auf auch schuerft. Irgendwie hat mich der Text an Passagen aus Fromms "Anatomie der menschlichen Destruktivitaet erinnert".
Eine sehr schoene Parabel auf die menschliche Existenz.

Herzlichen Glueckwunsch
ff

 

Einen schönen guten Abend, feirefiz.

Ich glaube, die Idee kam mir schon vor vielen Jahren beim Lesen des Originals, und sie erscheint mir damals wie heute sehr naheliegend und offensichtlich. Es müssen tausende Versionen dieser Geschichte existieren. Irgendwo.

Wo ich die Sinnfrage versteckt hab, weiß ich nicht, "synoptisch" mußte ich nachschlagen, und nach Fromm werd ich mal gleich noch Wikipedia fragen. Insgesamt hatte ich also herzlich wenig Tiefschürf im Sinn, und Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, daß Dir irgendwas entgangen ist. Im Gegenteil, ich find's immer wieder faszinierend und bin beeindruckt, was man mit intellektuellem Können und Willen so alles in meine absichtslosen Texte reininterpretieren kann.

Ungeachtet all dieser Dinge freu ich mich, daß Dir die Geschichte gefällt, da Gefallen meine einzige Absicht beim Schreiben war. Mir gefällt der Herr Rimbel ja besser, aber hey.

Dankeschön und einen schonenden Montag wünscht:
Skraave

 

Also jetzt mal ernsthaft,

man darf seine Kritiker auch nicht zu sehr aergern. Wo die Sinnfrage ist? Der Kaefermensch will schliesslich mehr als bloss rumkrauchen und existieren (Ruhm, Ehre). Auch Religion ist doch wohl irgendwie Sinnsuche, oder? Auf jeden Fall typisch menschlich. Gut, man koennte jetzt etwas kafkamaessiger auch Richtung Autoritaet interpretieren, aber mit Kafka kenne ich mich nicht aus.
Ich weiss schon, dass es viel laessiger ist, nicht absichtsvoll tief zu schuerfen, sondern gleichsam unbeabsichtigt auf Goldadern zu stossen. Doch ganz so viel Unschuld nehme ich Dir nicht ab.
Ich bin tatsaechlich auch nicht davon ausgegangen, dass Fromm Subtext Deiner Geschichte war, das war nur meine hoechst persoenliche Assoziation.
Hab dann auch direkt mal nachgeguckt, ob Wikipedia da irgendwas Erhellendes beizutagen hat. Und tatsaechlich:

Tiere leben in einer vollkommenen Harmonie mit der Natur. Sie leben unter Bedingungen, die sie als gegeben hinnehmen und mit denen sie somit fertig werden können. Im Gegensatz zum Tier hat sich im Menschen durch die ihm gegebene Vernunft die Fähigkeit entwickelt, seine Umwelt zu transzendieren und somit über die Oberfläche der ihn umgebenden Gegebenheiten hinaus zu gelangen. Er hat sich über die Natur erhoben und kann sie in gewissen Maßen erschaffen und beherrschen. Diese höchste Gabe des Menschen ist zugleich sein Fluch. Ganz pragmatisch lässt er sich als Anomalie der Natur beschreiben, denn im Menschen ist sich „das Leben [...] seiner selbst bewußt“ geworden. So weiß er nicht nur von der Zufälligkeit seines Daseins, sondern auch von der Begrenztheit seines Lebens. Obwohl er noch immer ein Teil der Natur ist, ist er auch aus ihr verstoßen und die Harmonie mit ihr ist für immer verloren. Durch diese Erkenntnis entsteht im Menschen ein großes Gefühl der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit. Er muss selbst leben und Entscheidungen treffen und jeder Schritt in eine andere Richtung ist angsterregend, weil man bereits bekannte und somit sichere Zustände verlässt. Das größte Problem des Menschen ist seine reine Existenz. (Vergleiche dazu auch das Für-sich-Sein von Jean Paul Sartre.)

So aehnlich, im Groben zumindest, hatte ich mir den Uebergang von der selbstverstaendlichen Kaefer- zur selbstbewussten und naturentfremdeten (pieksen etc.) Menschenexistenz vorgestellt.
Puh, dass ich mal Wikipedia zitieren wuerde, wo ich sonst immer "nicht zitierfaehig" drunterschreibe, haette ich mir auch nicht traeumen lassen.

So, damit kannst Du jetzt machen, was Du willst, oder auch nicht.

herzlichst,
feirefiz

und viel Spass noch beim flach schuerfen und tief stapeln

 

Geschätzter feirefiz,

wenn ich lese, was Du schreibst, erscheint es mir selber nicht mehr sehr wahrscheinlich, daß sich der Autor nichts dabei gedacht haben soll. Und selbstverständlich hab ich mir auch was dabei gedacht, aber das fühlte sich hauptsächlich vage und diffus an und nicht so konkret. Der Punkt ist wohl, daß ich gerne lässig bin, ja. Wenn ich ein Cowboy wär, ich wär Clint Eastwood. Und hätte mich soeben in meinem Poncho verheddert und mir dabei in den Fuß geschossen.

Versöhnlichst,
Skraave

 

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