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Die Würde des Menschen

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27.03.2008
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Die Würde des Menschen

Genervt, gelangweilt und gestresst, stellte ich mich in der Schlange an, die mir die kürzeste schien und knallte meine Packung Kaugummi auf das Fließband; Gerade so, als wollte ich die mütterlich aussehende Frau, die vor mir stand, darauf aufmerksam machen, dass ich nur ein Teil kaufte und dass von einer höflichen Person erwartet würde, dass man einem Einteil-Kunden den Vorrang lässt, wenn man im Begriff ist einen so riesigen Berg Fleischwurst zu kaufen.
Natürlich hatte ich es nicht mit einer höflichen Person zu tun und um mein Recht gewaltsam einzufordern, fehlte mir das Rückrad, sodass ich mich mit meiner Position in der Nahrungskette, direkt hinter dem Berg Fleischwurst abfinden musste.
Plötzlich näherten sich von hinten zwei Einzelkämpfer, die sich langsam aber bedrohlich in der Schlange vorankämpften. Es handelte sich um zwei türkische Kinder, die so ungefähr neun Jahre alt gewesen sein mussten. Einer von beiden wirkte frech, der andere rotzfrech. Obwohl ich keine klare Information darüber hatte, ob meine Vorurteile zutrafen, stellte ich mir vor, wie mir einer gleich die Zunge rausstrecken würde und nahm sofort fürchterlich Rache, indem ich mich so langsam voranbewegte, dass sie hinter mir vergammeln mussten..

„Entschuldigung! Pause ist gleich um! Kannst du uns bitte vorlassen?“

Erstaunt über die höfliche Absicht der Nachfrage, winkte ich die beiden durch und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich sie so falsch eingeschätzt hatte.
Dennoch scheiterten die beiden genau wie ich an der Fleischwurstmama, die auf ihre ebenso höfliche Anfrage nicht einmal reagierte und platzierten ihre Schokoriegel dementsprechend hinter den Einkaufsutensilien der Dame.
Ich entschied mich einzugreifen um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und machte sie darauf aufmerksam, dass die Jungs sie höflich gefragt hätten, sodass sie augenrollend zur Seite bockte und sich überholen ließ.
„1,17€!“,
forderte der Kassierer ebenso augenrollend, nachdem er die Schokoriegel durch den Scanner gezogen hatte und würdigte die beiden dabei keines Blickes.
„1,17€! Wat is? Brauchse dat auf türkisch?“,
wiederholte der Kassierer seine Forderung mit ungeduldiger Stimme.
Der Junge, den ich zuvor fälschlich als rotzfrech eingeschätzt hatte, kramte einen Berg Kleingeld aus der Tasche, der so aussah, als sei er abgezählt.
„Jetz bezahlt der mich in Lire!“
Langsam fand ich, dass der Kassierer mit seinen Kommentaren zu weit ging. „Dat is zu wenig!“,
jammerte er nachdem er das Geld gezählt hatte und löste eine gewaltige Diskussion auf Talkshow-Niveau aus, in die sich nicht nur die Fleischwurstmutti sondern auch zwei Jugendliche, und die Filialleiterin einschalteten.

„Das is so typisch! Die Jugend von heute ist nichmal fähig, einfache Rechenaufgaben zu lösen!“
„Klar! Fällt ja auch dauernd aus, der Unterricht! Hauptsache die kleinen Scheißer lernen ihr Muttersprache! Als ob sie das zu Hause nicht schon genug tun würden!“
„Meine Familie sitzt zu Hause und wartet aufs Essen, weil ich hier von zwei Blagen aufgehalten werde die genauso gut im Türkenladen einkaufen könnten, wo das normal is mit Kleingeld zu bezahlen!“

Obwohl das Gespräch immer schlimmer wurde und den beiden die Demütigung deutlich anzumerken war, als von Hinten sogar schlechte Kanakenwitze auf dümmliches Gelächter stießen, hielt ich mich raus, blieb ganz ruhig und wartete, bis ich dran war.

Verdutzt schaute der Kassierer mich an, als ich ihm ebenfalls einen Berg Kleingeld entgegenprasseln ließ und fragte mich was das denn solle.
„Tut mir leid! Ich bin leider nicht fähig, diese einfache Rechenaufgabe zu bewältigen, da Mathe heute wiedereinmal ausgefallen ist und muss Sie darum bitten, das für mich zu machen.
In der Zwischenzeit kann ich ihnen aber gerne erzählen, was ich dafür in Geschichte gelernt habe:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Daraufhin ging ich und ließ sowohl mein Kleingeld und die Packung Kaugummi, als auch einen verdutzten Haufen urdeutscher Arschlöcher zurück.

 

Hallo Pilipp,
Dir ist klar, dass es in unserem Land eine Schulpflicht gibt ?
Wieso verlassen die ca. 9 Jahre alten Kinder das Schulgelände?

.....dass ich nur ein Teil kaufte und dass von einer höflichen Person erwartet würde, dass man einem Einteil-Kunden den Vorrang lässt.....
Bisschen viel dasssssssss
Ich lasse an der Kasse immer wieder gerne eilige Rentner, Schulkinder, sowie alle Einteil-Kunden vor. Auf mich wartet niemand, ich habe unendlich viel Zeit, ich stehe sehr gerne an der Kasse um Anderen den Vortritt zu lassen.

Du sicher auch…?

 
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Hallo Keinstein,
deine Einwände sind gerechtfertigt und ich werde dazu Stellung nehmen:
1. Die Handlung ist so aufgeschrieben, wie sie tatsächlich stattgefunden hat. Dass die Kinder den Schulhof verlassen ist sicher nicht ganz richtig, aber es steht in keinem Verhältnis zu dem Verbrechen, welches die Menschen mit der Demütigung und unqualifizierten Kategorisierung dieser Kinder begehen.
2.Die Anhäufung der, mit "dasssssss" eingeleiteten, Finalsätze ist ein stilistisches Mittel (Parallelismus). Kann sein, dass es vielleicht nicht so schön klingt. Das ist wahrscheinlich Geschmackssache.
3.Mit dem Verhalten des lyrischen Ichs will ich darstellen, dass es sich hierbei nicht um einen Musterbürger handelt, sondern um einen ungeduldigen Mann, der sowohl die Frau vor ihm als auch die Kinder selbst kategorisiert und unrecht über sie urteilt. Damit will ich zeigen, dass niemand frei von Vorurteilen ist, es aber dennoch Grenzen gibt, wenn man den Menschen in seiner Würde verletzt. Daher habe ich am Schluss auch aus dem Grundgesetzt zitiert.
Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit und ich hoffe dass du die Geschichte nicht NUR schrecklich fandest. ;)
Viele Grüße,
Pilipp

 

Hallo Phillip,
ein interessante Geschichte. Vor allem ist mir aufgefallen, dass der Erähler selbst Vorurteile hat, sich dann aber moralisch schwer entrüstet, als jemand anders Vorurteile äußert.
Außerdem meint er, er habe das "Recht", vorgelassen zu werden, wenn er bloß ein Teil zu bezahlen hat, traut sich aber nicht, dafür zu streiten. Auf die Idee, höflich zu fragen, kommt er nicht. Er scheint ziemlich selbstgefällig und von sich eingenommen zu sein, gleichzeitig aber feige. Er benimmt sich unhöflich, knallt sein Kaugummi aufs Fließband und erwartet dann, vorgelassen zu werden, stellt sich aber bei den vermeintlich ebenfalls unhöflichen Kindern vor, wie er sie extra warten lassen will. Diese Doppelmoral ist ihm selbstverständlich.
So wirkt auch der Spruch am Ende nicht wie eine ernstgemeinte Kritik, sondern nur, als nutze er die Chance, besserwisserisch auftreten zu können, ohne etwas riskieren zu müssen.
Es ist unglaubwürdig, dass sich so jemand komplett in seiner Einstellung ändert, bloß weil ein Kind mal unerwartet höflich ist.

Wieso die beiden Kinder, die sich anfangs "durch die Schlange durchkämpfen" und "rotzfrech" wirken, plötzlich höflich werden, als sie bei ihm ankommen, ist auch nicht ganz klar.


Franzie

 

Hallo Franzi
ich muss zugeben, dass ich viele der Kritikpunkte nicht so einfach abstreiten kann. Eventuell liegt es daran, dass der Charakter unklar dargestellt ist. Er ist wirklich unhöflich und mit Vorurteilen beladen, was ich mit Absicht getahn hab, um zu zeigen, dass keiner von Vorurteilen wirklich frei ist. Was er allerdings an Vorurteilen hat, existiert allein in seiner Vorstellung und Denkweise ohne Einfluß auf sein Handeln zu haben. Die beiden Jungs sind nicht frech. Das lyrische ich schätzt sie nur so ein, hat aber dann auch ein schlechtes Gewissen, als er feststellt, dass die beiden ganz anders sind.
Er lernt also. Was er kritisiert ist diese Sturheit, dass die anderen, die die beiden türkischen Kinder ebenfalls als höflich erfahren müssten, trotzdem nicht von ihrem Vorurteil wegkommen. Ja, er hat Vorurteile, bildet sich aber eine Meinung, die auf dem individuellen Verhalten der Kinder basiert. Wenn man Fremde trifft, ordnet man sie automatisch in Kategorien ein und individualisiert sie dann im Rahmen des Kennenlernens. Diesen Schritt sparen sich viele Menschen aus Faulheit.
Ich hätte es auch so machen können, dass das Zitat am Ende von einem Moralapostel stammt. Ich finde aber, dass das lyrische Ich erst dadurch fähig wird zu urteilen, dass es parallele Züge in sich erkennt und selbst kritisiert.
Bertold Brecht sagte, dass das, was wir an unseren Feinden hassen, das ist, was wir von uns selbst in ihnen wiedererkennen.
Wahrscheinlich hab ich das ganze aber sehr unglücklich dargestellt.
Trotzdem vielen Dank und schönen Gruß
Philipp

 

Hallo Pilipp,

„Das is so typisch! Die Jugend von heute ist nichmal fähig, einfache Rechenaufgaben zu lösen!“
„Klar! Fällt ja auch dauernd aus, der Unterricht! Hauptsache die kleinen Scheißer lernen ihr Muttersprache! Als ob sie das zu Hause nicht schon genug tun würden!“
„Meine Familie sitzt zu Hause und wartet aufs Essen, weil ich hier von zwei Blagen aufgehalten werde die genauso gut im Türkenladen einkaufen könnten, wo das normal is mit Kleingeld zu bezahlen!“
Obwohl das Gespräch immer schlimmer wurde und den beiden die Demütigung deutlich anzumerken war, als von Hinten sogar schlechte Kanakenwitze auf dümmliches Gelächter stießen, hielt ich mich raus, blieb ganz ruhig und wartete, bis ich dran war.

Tut mir leid, aber die Geschichte ist mir - was bei Gesellschaftskritik in 95% der Fälle geschieht und wahrlich nicht so leicht zu vermeiden ist - deutlich zu einseitig.
Dem Erzähler selbst ein paar Vorurteile zu verpassen, um ihn nicht all zu sehr als Moral-Apostel erscheinen zu lassen, war eine gute Idee, aber es reicht noch nicht.
Du kritisierst hier Fremdenfeindlichkeit bei Deutschen auf eine, wie ich finde, reichlich überzogene Art. Fremdenfeindlichkeit ist ja nun wahrhaft kein deutsches Monopol, in dem Teil von Deutschland, in dem ich mich bewege, sogar ziemlich selten. In deinem Laden aber bricht gleich Pogrom-Stimmung aus, als die beiden türkischen Jungs darum bitten vorgelassen zu werden und mit Kleingeld bezahlen.
Okay, dass der Kassierer da mit den Augenrollt und vielleicht genervt aufseufzt nehme ich dir ab. Dass die Fleisch-Frau genervt ist auch. Aber dass die gesamte Kundschaft in das Erzählen von ausländerfeindlichen Witzen verfällt? Und der Kassierer lange Monologe hält? Nein, wirklich nicht.
Du übertreibst.
Ärgerlicher aber ist die Einseitigkeit der Darstellung. Den "urdeutschen Arschlöchern" verpasst du die übelsten in diesem Zusammenhang denkbaren (und beinah schon undenkbaren) Eigenschaften, wohingegen die beiden Jungs wohlerzogene Unschuldsengel.
Damit verzerrst du die Wirklichkeit, zumindest solange die Geschichte repräsentativ für irgendetwas sein soll. Du verzichtest darauf, die Ursachen für die (wie gesagt ohnehin überzogene) Xenophobie deiner "Urdeutschen" auch nur anzudeuten: Kein Ungeist entsteht in der Geschichte von allein - nicht mit all unseren türkischstämmigen Mitbürgern ist so gut Kirschen essen wie mit den beiden hier.

Interessant fand ich dann wiederum den Schluss, denn er hat etwas Tragisches: Indem dein Erzähler die "Arschlöcher" im Laden als "urdeutsch" bezeichnet verfällt er wiederum ins Kategorisieren, mehr noch, er nutzt ein vor allem von Deutschen gern kultiviertes Vorurteil: Deutsche sind Rassisten.
Da sich diese Aussage aber leider auch aus der Geschichte insgesamt herauslesen lässt, fürchte ich fast, dass du dir dieser Ironie nicht einmal bewusst warst.


Gruß,
Abdul

 
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Hallo Abdul,
da gebe ich dir allerdings Recht. Repräsentativ ist der Fall zum Glück nicht. Traurig aber war: Bis auf das Ende habe ich diese Situation aber erlebt und war ziemlich erschüttert über den Fall. Wofür ich mich sehr schäme ist, dass ich damals nicht den Mut gehabt hab etwas zu sagen. Das hat in mir auch das Bedürfnis geweckt diese Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht habe ich bei meiner leidenschaftlichen Hingabe zu dem Problem der beiden Türken übersehen, dass ich auf gewisse Weise die Deutschen auch kategorisiere und in ein schlechtes Licht rücke. Das Wort "urdeutsch" war aber nicht so gemeint, wie du es verstanden hast. Es hat mich so wütend gemacht, dass der Kassierer und alle Beteiligten so stolz waren deutsch zu sein, weil sie alles auf die Nationalität der beiden reduziert haben. Dass sie mit so viel Kleingeld bezahlt haben und dann auch noch zu wenig dabei hatten, dass storniert werden musste, hat mich genauso genervt. Aber hinterher ging es nurnoch darum, dass die beiden Türken sind.
Ich wollte allerdings nicht die besagte Pogrom-Stimmung erzeugen sondern meinte eher die kleinen Fremdenfeindlichkeiten, die jederr Zeit passieren, ohne dass man das noch großartig merkt. And der Diskussion waren 3 Erwachsene Menschen beteiligt, die über Kinde geredet haben, als ob sie Verbrecher sein. Die Situation wurde unheimlich breitgetreten. Wahrscheinlich ist diese Situation so übertrieben, dass sie nicht repräsentativ ist. Diese Übertreibung würde ich aber eher als Provokation als stilistisches Mittel bezeichnen. Es hat ja funktioniert, denn offensichtlich diskutieren wir gerade darüber, inwieweit das wahr oder falsch ist. Aber du hast recht mit der Einseitigkeit, da ich auch schon genug Fälle erlebt hab in denen Deutsche von Nachbarn mit türkischem Migrationshintergrund rassistisch angegriffen wurden.
Danke dafür, dass du dir Gedanken machst
Gruß,
Philipp

 

Tja, das ist die Sache mit der Wirklichkeit: Was da abgeht, nimmt einem keiner ab! ;)
Es spricht natürlich nichts dagegen, auch mal eine Geschichte zu schreiben, die eine Problematik nur von einer Seite angeht - dies kann aber eben auch schnell falsch aufgefasst werden, besonders wenn der Titel derartig dazu angetan ist, eine allgemeine Botschaft vermuten zu lassen.

 

Hallo Pilipp,

......ich hoffe dass du die Geschichte nicht NUR schrecklich fandest.

...keine Geschichte ist „NUR schrecklich“ .... aber manchmal ist sie eben „auch schrecklich“.

Gruß Keinstein

 

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