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Die Wanduhr
Sie stand am Fenster, den Blick in die Weite des Gartens gerichtet. Nachdenklich knabberte sie an den kurzen Fingernägeln. Ihr war kalt in der dünnen Jacke, doch die Heizung jetzt noch höher zu drehen, lohnte nicht. Im kahlen Apfelbaum ließ sich die einbeinige Krähe nieder, die sich dort an sonnigen Tagen immer einfand, mühsam um Gleichgewicht ringend, mit dem verbleibenden Krallenfuß die schmalen Äste umfassend.
Die Frau fragte sich, ob sie die Krähe wohl vermissen würde oder die Schläge der Wanduhr, die zuverlässig das Schwinden der Stunden kündeten oder das Rauschen der Klospülung aus der Wohnung im ersten Stock, zweimal täglich, immer zur gleichen Zeit, rätselhaft pünktlich. Man hätte die Wanduhr danach stellen können.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Automatisch verglich sie mit geübtem Blick, ob Wand- und Armbanduhr im Gleichmarsch arbeiteten, denn Unregelmäßigkeiten bargen Beunruhigendes.
Sie hatte noch etwas Zeit. Zeit genug, sich auf einen der Stühle zu setzen an den kleinen Küchentisch mit der rotweiß karierten Decke.
Ihre Finger schoben den Brief auf der Decke rhythmisch hin und her. Die Bewegung des glatten Papiers auf dem rauen Stoff des Tischtuches erzeugte ein knisterndes Geräusch.
Die Wanduhr schlug fünf, prüfender Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Fünf Uhr auch da, auf die Sekunde. Mit einem Seufzer der Zufriedenheit erhob sie sich.
In Gedanken ging sie noch mal alles durch, wie so oft in den letzten Tagen. Es würde nichts schief gehen.
Die Frau nahm den Brief vom Tisch und faltete ihn sorgsam zusammen. Ihre Augen flogen dabei über die gleichmäßigen Schriftzüge, hochmütig und herrisch erschienen sie ihr. Seine Schrift, wie sehr sie ihm doch selbst glich. Hochmütig und herrisch auch die Worte, die sie bereits auswendig kannte. Worte, erbarmungslos zu einem Urteilsspruch aufgereiht. Worte, die damit drohten, sie zurückzustoßen in diese ewig währende Einsamkeit, kalt und klebrig auf der Haut. Endlose Tage durchbrochen nur von den Schlägen der Wanduhr, dem Rauschen der Klospülung, zweimal täglich, rätselhaft pünktlich. Der Schmerz fühlte sich alt und abgestanden an trotz der neuen Entschlossenheit, die dort einen guten Nährboden gefunden hatte.
Das Gurgeln der Toilettenspülung eine Etage über ihr. Tiefe Ruhe legte sich auf ihr Gemüt. Jetzt war es Zeit. Ohne jede Eile schlüpfte sie in ihre fellbesetzten Stiefel, mit großer Gelassenheit zog sie den warmen Mantel über. Die Zeit begann sich zu dehnen. Die Frau steckte den Brief in die rechte Manteltasche. Er wurde etwas zerdrückt, als sie die Waffe dazu stopfte. Die Wohnungstür ließ sie einfach hinter sich ins Schloss fallen.