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- 10.10.2004
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Die Weiße Frau
Die Weiße Frau floh durch die Wüste, und der einsame Wanderer folgte ihr.
Er hatte die Hitze schon lange ertragen gelernt. Ein graues Beduinentuch schützte seinen Kopf, auch sein übriger Körper war in die weiten Gewänder der Wüstennomaden gewandet. Der Wanderer hatte einen Wasserschlauch um den Leib geschlungen. Er war immer bedacht darauf, so wenig wie möglich zu trinken; es hatte Tage gegeben, an denen er mit ein paar kleinen Schlucken ausgekommen war. Er rückte den Schlauch zurecht und lauschte zufrieden dem fröhlichen Gluckern des Wassers.
An seinem Gürtel hing ein Breitschwert. Er war sehr stolz auf die Waffe, ihr Griff war aufwändig verziert, und wenn er sie zog, leuchtete die blankpolierte Klinge in der Sonne, dass es eine helle Freude war. Das Schwert hieß Julius, und manchmal verbrachte der Einsame Wanderer ganze Nächte damit, sich mit ihm zu unterhalten. Es war ein geduldiger Zuhörer, unterbrach ihn nie, wurde seiner Worte nie überdrüssig. Ja, man konnte sagen, dass er Julius sehr gern hatte.
Er hatte eine große braune Tasche aus Leder bei sich. Sie war schmutzig, voller Risse und machte dennoch den Eindruck großer Robustheit. Wie viele Jahre hatte sie schon vorüberziehen sehen? Allah selbst mochte es wissen, der Einsame hatte nicht den leisesten Schimmer.
In der Tasche befanden sich die wichtigsten Utensilien, die ein Wüstenwanderer zum Überleben benötigt. Also größtenteils völlig gewöhnliche Dinge. Doch ganz uninteressant war der Inhalt dennoch nicht - neben den banalen Dingen des Alltags befanden sich nämlich seine beiden anderen Waffen, Anne und José.
Anne liebte er so, wie ein Vater seine Tochter liebt. Sie war ziemlich klein, aber nicht weniger aufwändig gearbeitet als Julius.
José war das schwarze Schaf der Familie. Er mochte ihn nicht. Das lag daran, dass er nicht die alte Vertrautheit ausstrahlte, die die anderen Waffen wie eine liebevolle Aura umgab. José war kalt und unsympathisch. Niemals hatte der Wanderer sein Wort an ihn gewandt. Niemals war er auch nur auf den Gedanken gekommen. Aber vielleicht würde ja José selbst irgendwann einmal das Eis zwischen ihnen brechen.
Er kniff die Augen zusammen und starrte in die unendliche Weite der Stein- und Sandformationen, die gelegentlich von verdorrten Bäumchen gesäumt wurde. In der Ferne konnte man gerade noch einen kleinen Punkt ausmachen.
Die Weiße Frau. Die verfluchte Weiße Frau. Die vielen Tage, die er sie schon erbittert jagte, hatten nichts gebracht. Die Entfernung zwischen ihnen schien sogar zugenommen zu haben.
Er raufte sich den schwarzen Vollbart. »Verflucht seist du, Allah! Tu mir den Gefallen und mach diese Hure langsamer!«
In ihm stieg solch eine höllenheiße Wut auf, dass er sich am liebsten die Hoden ausgerissen, oder José bis zum Anschlag in den After gerammt hätte.
Doch schlussendlich beschränkte er sich darauf, solange in seine geballte Faust zu beißen, bis das Blut hervorschoss. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, und wurde schließlich so unerträglich, dass er aufhörte. Er betrachte die tiefe Bisswunde mit kritischem Blick. Verdammt, wieso mussten seine Wutanfälle immer so ausufern?
Aber es hatte sich gelohnt - seine Wut hatte dem Schmerz klein beigegeben und war nur noch ein kümmerlicher Schatten ihrer einstigen Größe.
»Irgendwann werde ich dich erwischen, und wenn es noch tausend Jahre dauert.« Er führte die Linke an den Mund und saugte genüsslich das Blut. »Was sagst du dazu, Julius?«
»…. … ….., …….«
»Ich kann dir nur beipflichten, alter Freund.«
Wie bereits erwähnt, es störte ihn keineswegs, dass Julius nicht sehr gesprächig war.
***
Gegen Abend kam er zu einem niedergebrannten Aschehaufen - die Raststätte der Verfluchten vom Vortag. Es war sogar noch etwas Holz übriggeblieben. Zweifellos ein Akt grenzenloser Frechheit, was für Gründe sollte es sonst geben, so viel zu sammeln? Sie verspottete ihn, machte ihn lächerlich. Wie musste sie nur gelacht haben, als sie an sein dummes Gesicht gedacht hatte, das er beim Anblick des Brennholzes zweifellos machte.
Oh, wenn ich dich bloß in die Finger kriege!
Der Wanderer warf einen kritischen Blick auf die verkümmerten Sträucher in der Nähe und entschied seufzend, das ihm Dargebotene zu verwenden. Sie musste ja Stunden damit verbracht haben, es zusammenzukriegen…
Die Sterne funkelten in aller Pracht am Firmament, während er am Feuer saß und sich wärmte. Er hatte Dörrfleisch gegessen und ein paar Schlückchen getrunken.
Das Schwert lag neben ihm im Sand. Er streichelte liebevoll die elegante Parierstange und murmelte ein paar entschuldigende Worte. Entgegen seinen üblichen Gewohnheiten würde er sich heute Abend ganz Anne widmen. Er konnte nicht anders, die Sehnsucht befahl es ihm einfach. Julius würde das verstehen, Julius war nicht eifersüchtig. Normalerweise nicht.
Er griff in seine Tasche und holte den Dolch hervor.
Die Klinge scharf wie Pfeffer, der Griff mit kleinen Edelsteinen verziert, verheißungsvolle Worte in fremder Sprache eingraviert… Anne war ein wunderschönes Kind.
»Gib deinem Vater einen Kuss, Anne.« Der Einsame führte den Dolch zu den Lippen und küsste ihn. Er schmeckte das Öl, mit dem er Anne immer behandelte, damit sie nicht rostete. Er spürte die erdrückende Last der Jahrhunderte, die sie ihr Eigen nannte.
Der Wanderer packte den Dolch mit festem Griff und verspürte plötzlich große Lust, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Sterben? Nein, das war keine gute Idee, so kurz vor seinem Ziel. Schließlich begann er zu reden.
»Anne, erinnerst du dich noch an die Gruft?«
»?«
»Tu nicht so, als hättest du diesen Moment vergessen!«
»!«
Er lachte und küsste den Dolch noch einmal. Es war vor so langer Zeit gewesen, und dennoch erinnerte er sich an jede Einzelheit. Er war damals in die Gruft des Grafen eingebrochen,
das Gittertor am Eingang war leicht zu knacken gewesen. Er war die Treppe hinuntergegangen und…
…steht jetzt dort, wo er schon sein ganzes Leben hat stehen wollen. Das stete Ziel seiner Sehnsüchte, eine dunkle Grabkammer. In seiner linken Hand hält er eine Fackel, in der rechten eine Brechstange. In der Gruft befinden sich fünf Gräber, das des Grafen müsste eigentlich an der Wandinschrift zu erkennen sein…
1261 – 1319
Das ist das richtige! Er strahlt vor Freude, möchte am liebsten laut singen. Doch die unheimliche Umgebung hindert ihn daran.
Vielleicht steigen ja die Toten aus den Gräbern, wenn ich jetzt ein Liedchen trällere… Dieser beunruhigende Gedanke lässt ihn nicht los, deshalb hält er lieber den Mund. Er legt die Fackel auf den Boden. Dann nimmt er allen Mut zusammen, geht in die Hocke und setzt die Brechstange an der Grabplatte an. Unter großen Mühen gelingt es ihm, sie zu lösen. Ein brechreizerregender Geruch steigt auf. Er schiebt sie vom Grab und gibt den Inhalt frei.
Da liegt er. Der Graf befindet sich schon zwei Jahrzehnte in seiner letzten Ruhestätte und sieht natürlich dementsprechend aus.
Das Gesicht unter der Last der Jahre eingefallen, die Haut bräunlich verfärbt, gelegentlich geben Löcher im Leichnam einen Blick in sein Inneres frei. Die Kleider des Grafen, wohl die schönsten, die er zeit seines Lebens besessen hatte, sind zerfallen und verschimmelt.
Er hält die Fackel ganz nah heran und betastet die Leiche mit seiner freien Hand.
Das Schwert des Grafen ist an dessen Sohn vererbt worden, das weiß er. Schwert hat er natürlich auch keines erwartet, obwohl er immer gehofft hatte, dass…
Da! Zwischen Stofffetzen und zerfallenem Fleisch haben seine Finger einen metallenen Gegenstand ertastet. Er holt ihn hervor und betrachtet ihn.
Sein Herz macht einen Luftsprung, als das Fackellicht einen kleinen Dolch der Dunkelheit entreißt. Er lächelt, steht auf und will sich schon aus dem Staub machen, als sein Blick noch einmal das Gesicht des Grafen streift. Vorher hatte er darauf nicht geachtet, doch jetzt offenbart sich ihm die erdrückende Traurigkeit, die der Anblick Richards preisgibt.
Wie hat es nur so enden können? Alle aufgestauten Gefühle, die er all die Jahre nicht an die Oberfläche gelassen hatte, kommen nun hoch.
Ach, Richard, was soll nur aus mir werden?
So steht er eine Weile, völlig unfähig zu handeln, gefangen in dem erdrückenden Moment, dem er sich völlig hingibt.
Dann kniet er sich neben das Grab und beginnt bitterlich zu weinen.
***
Die letzten Tage war der einsame Wanderer gut vorangekommen. Das Gehen war ihm immer leichter gefallen, seit am Horizont eine Stadt aufgetaucht war.
Städte mochte er nicht, weil er keine Menschen mochte. Aber nach den vielen Wochen in der Wüste freute er sich sogar darauf. Vielleicht konnte er dort die Situation zu seinen Gunsten wenden. Ein bitterböses Lächeln erschien auf seinem bärtigen Gesicht. Ja, das würde er versuchen.
Wenn er sich nicht gerade wild gestikulierend über diese erfreuliche Möglichkeit unterhielt, sang er vor Glück.
Schala - lalalah,
sag, warum rennst du fort von mir?
Schalalalala…
…sing mit, Julius!«
… …..,
… ……., … ……….. …..,
……… .. ….!«
»Das war gut, mein Freund!
Hexe, Hure, Scharlatan?«
soll dir machen deine Reise schwer!
Ba ba dum, ba ba da,
das Ende ist nah…
…Trulla!
Schala - lalalah…«
Die Steine der Wüste waren noch nie Zeugen derart falschen Gesanges geworden.
***
Die Stadt hieß Al-Kud und war eine richtige Perle. Weiße Häuschen, breite belebte Boulevards, und inmitten all der Pracht ein blitzblauer See, umgeben von Palmen. Sie war ziemlich groß, und gegen Abend drängten sich wahre Menschenmassen auf den Straßen.
Der Einsame war Gast in einer kleinen Taverne am Stadtrand. Die Taverne war gut besucht, lautes Reden und Lachen erfüllte die rauchgeschwängerte Luft. Er saß alleine an einem Tisch. Es war schon seltsam: Er befand sich in Gesellschaft und fühlte sich trotzdem einsamer als je zuvor. Der Wanderer hatte schon reichlich Alkoholisches konsumiert, und war damit nicht der einzige. Wenn er in die Runde blickte, sah er fast nur Sturzbetrunkene.
Hatte Mohammed nicht einmal gepredigt, dass es sündhaft ist, Wein zu trinken? Hier schien niemand seinen Worten Bedeutung beizumessen, der Einsame Wanderer am wenigsten.
Oh, großer Prophet, was ist nur aus deinen Kindern geworden? Unterjocht von Ungläubigen, verfallen in Lethargie und…
»Fremder!«
Er sah auf. Ein großer Mann hatte sich vor seinem Tisch aufgebaut und starrte auf ihn herab. »Was kann ich für dich tun, mein Freund?«, fragte er lächelnd.
Die Miene des großen Mannes wurde sofort freundlicher.
»Meine Kameraden und ich fragen uns schon die ganze Zeit, woher du bloß dieses schöne Schwert hast?« An der Theke standen ein paar Männer, die zu ihm herüberstarrten. Der Mann war ähnlich wie er gekleidet und trug einen Krummsäbel am Gürtel. Der Einsame sah zu seinem Schwert hinab. Julius steckte selbstverständlich in der Scheide, aber sogar Parierstange und Griff zogen alle Blicke auf sich.
»Setz dich erst einmal.« Der Mann tat, wie ihm geheißen.
»Ich habe das Schwert aus Europa, aus Italien. Reicht dir das, äh…«
»Ali. Ich heiße Ali«, sagte der Mann.
»Freut mich. Mein Name ist Hakim.«
Hakim. Nur dumme Kameltreiber und unfähige Viehzüchter heißen Hakim.
Er zog das Schwert aus der Scheide. Ein Raunen ging durch die Taverne, alle Blicke waren auf Julius gerichtet.
»Du musst ein wohlhabender Mann sein«, sagte Ali und bewunderte das Schwert mit offenen Mund. Als Antwort darauf lächelte der Wanderer geheimnisvoll und steckte das Schwert wieder zurück in die Scheide.
»Was treibt dich in diese Gegend?«
»Ich brauche Unterstützung. Gefolgsleute. Habe eine alte Rechnung zu begleichen«, sagte Hakim knapp.
Ali lächelte selig. »Allah hat meine Gebete endlich erhört!« Er schlug lachend mit der Faust auf den Tisch.
Lass mich raten: Du bist sicher das Oberhaupt einer Söldnerbande, oder?, dachte er grinsend.
»Ich bin Anführer der schwarzen Wölfe. Wenn du genug bezahlen kannst, stehen wir zu deinen Diensten«, bestätigte Ali seine Vermutung. Hakim grinste noch breiter.
Wann war diese Fähigkeit das erste Mal zum Tragen gekommen? Er wusste es nicht mehr, aber sie war in den letzten Jahren immer stärker geworden. Wenn er sich etwas ganz fest wünschte, ging es meistens in Erfüllung. Sofern es nicht zu abgehoben war. Wirte gaben ihm einen aus, obwohl sie ihn nicht kannten, Huren verlangten keine Bezahlung, und Gefolgsleute waren leicht zu finden.
Wenn er ihre Anwesenheit wünschte.
»Eure Dienste könnte ich wirklich gut gebrauchen. Und mach dir wegen der Bezahlung keine Sorgen.«
Ali nickte, rückte näher und senkte verschwörerisch die Stimme. »Du hast eine alte Rechnung zu begleichen? Erzähl mir mehr.«
Zuerst zögerte er, doch schließlich begann er zu sprechen. »Ich folge schon seit Wochen der Fährte der Weißen Frau.«
Ali brach in schallendes Gelächter aus. »Und du willst sie erledigen, hab ich Recht? Willst du mir sagen, dass du nicht mit einer Frau fertig wirst?«
»Sie ist keine gewöhnliche Frau. Ich versuche schon seit Wochen, sie einzuholen, aber sie ist einfach zu schnell. Und wenn ich sie dennoch einmal erwischen sollte, erwarte ich große Probleme.«
»Verstehe. Und warum willst du sie umbringen?«
»Das ist meine Angelegenheit. Aber ich kann dir von unserer letzten Begegnung erzählen, damit du einen Eindruck von ihr erhältst.«
»Na gut, wenn du mir sonst schon nichts verraten willst«, sagte Ali gelangweilt.
Hakim sah ihn eindringlich an und senkte die Stimme um ein paar Oktaven. »Es geschah vor Monaten in einer fernen Stadt. Ich saß - gleich wie jetzt - in einer Schenke, und ließ mich volllaufen…«
Er ist bereits beim Fünften, als sein Blick zufällig eine Frau streift, die ihm entfernt bekannt vorkommt. Er fokussiert seinen alkoholtrüben Blick auf die Gestalt in der Ecke. Ja, sie ist es eindeutig. Es trifft ihn wie der Schlag.
Nach all den Jahren… Ich glaube es einfach nicht!
Vor Schreck lässt er sein Getränk fallen, der Krug zerbricht scheppernd am Boden. Missbilligende Blicke strafen ihn, aber ihre Aufmerksamkeit hat er nicht erregt. Damals war sie blond und wunderschön, jetzt ist ihr Haar schlohweiß geworden, Falten verunzieren ihr einst makelloses Antlitz. Wie damals ist sie ganz in Weiß gekleidet, ein Hohn, wenn man weiß, welche Tätigkeiten sie wirklich ausübt.
Eigentlich müsste sie in dieser Spelunke auffallen, sie ist schließlich eine Frau und noch dazu Europäerin, aber niemand schert sich um sie. Sie sitzt alleine in einer dunklen Ecke und starrt verträumt ins Leere.
Er steht auf und geht langsam auf sie zu. Jetzt steht er vor ihr.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagt er lächelnd, aber mit drohendem Unterton.
Sie erwacht aus ihrer Trance und schenkt ihm einen verwirrten Blick. Sie erkennt ihn nicht.
Er setzt sich zu ihr und packt blitzschnell ihre zarten Hände, so fest, dass sie vor Schmerz das Gesicht verzieht. »Du hast mir damals dein Versprechen gegeben und mich dann einfach im Stich gelassen. Erinnerst du dich jetzt, du blöde Hure?« Er verstärkt seinen Griff, Tränen erscheinen in ihren Augen.
»Ich weiß zwar nicht, was du von mir willst, aber du hast gerade einen schweren Fehler gemacht.« Eine helle Stimme mit einem spöttischen Unterton. Sie spricht perfekt arabisch, ohne den geringsten Akzent.
Unglaublich, jetzt beginnt sie zu lächeln! Und dann geschieht etwas Seltsames. Ihre Augen beginnen zu leuchten, sie…
»Was sagst du da? Das ist doch nicht möglich!« Ali lächelte amüsiert.
»Lass mich ausreden. Ja, ich weiß, leuchtende Augen sind seltsam, aber was danach geschah, schlägt dem Fass den Boden aus. Ich verlor völlig die Kontrolle über meinen Körper. Zuerst zwang sie mich, ihre Hände loszulassen, dann ballten sich die meinen zu Fäusten und…«
…schlagen ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Er sieht nur noch Sterne, die Schwärze der Ohnmacht droht ihn mit sich zu nehmen. Doch nach einem kurzen Moment hat er sich von dem Schlag erholt. Er sieht gerade noch, wie die Weiße Frau zur Tür hinaus verschwindet. Hakim steht auf und stürmt ihr nach. Als er ins Freie kommt, sieht er seine Feindin gerade um die Ecke verschwinden. Der Wanderer flucht und rennt ihr nach wie ein Besessener.
»Ich bring dich um, Weib!«, schreit er ihr lauthals hinterher. Ihr Abstand verringert sich zusehends. Doch dann bleibt sie einfach stehen und dreht sich um.
»Auf Nimmerwiedersehen«, sagt sie, lächelt und löst sich vor seinen Augen in Luft auf.
Fassungslos steht er da und starrt wie ein Idiot auf die Stelle, wo sie noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Vor Wut würde er am liebsten die Häuser der Stadt niederbrennen oder ein paar Menschen foltern. Doch schließlich beruhigt er sich wieder und geht zurück in die Schenke.
Und es werden noch Wochen vergehen, bis er weit draußen in der Wüste ihre Fährte findet und ihr folgt.
Ali stand auf. »Ich weiß zwar nicht, was ich von deiner Geschichte halten soll, aber ich fürchte mich nicht vor… Hexen.« Dem letzten Wort gab er einen spöttischen Unterton. »Und meine Kameraden auch nicht. Wenn du unsere Unterstützung willst, bitte. Deine Weiße Frau wird sich vor den schwarzen Wölfen in Acht nehmen müssen.« Er drehte sich zu den Männern an der Theke um.
»Zu mir, Kameraden! Wir gehen auf die Jagd!«
***
Was macht man, wenn man jemanden zu Fuß nicht einholen kann? Richtig, man nimmt sich ein Reittier. Und genau das hatten Hakim und die Schwarzen Wölfe getan.
Jetzt saß er auf dem schwankenden Rücken eines Dromedars, und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Sie ritten zu fünft: Ali, er selbst und drei weitere Söldner.
Hakim mochte keine Dromedare, sie waren groß, ungezogen und stanken.
Sein Vater war ein dümmlicher Narr gewesen, aber er hatte ihn immerhin gelehrt, mit ihnen umzugehen. Beim Gedanken an ihn musste Hakim grinsen. Er war ein sehr kluges Kind gewesen, und der arme Mann hatte stets alle Hände voll zu tun gehabt, seine mitunter außergewöhnlichen Bestrebungen zu unterbinden.
»Und jetzt bist du in der Hölle, Narr. Niemand legt sich mit mir an!« Hatte er etwa laut gedacht?
Offensichtlich, seine Gefährten schenkten ihm verwunderte Blicke.
Verdammt, die vielen Wochen in der Wüste haben mir nicht gerade gut getan.
»Hab ich Recht, Julius?«
»Hakim, hast du einen Sonnenstich?«
Er ignorierte die Frage.
Ali unternahm einen zweiten Anlauf. »Woher weißt du eigentlich, dass das die richtige Richtung ist?«
Weil ich mir wünsche, sie zu erwischen, und mein Wunsch leitet mich.
»Weil Allah - gepriesen sei Er! - uns zu ihr führen wird«, sagte er schließlich.
»Ja, Allah ist groß, aber einfach völlig ziellos durch die Wüste zu reiten, ist ein wenig seltsam«, merkte einer der Söldner an.
»Vertraut mir«, sagte Hakim lächelnd.
Und tatsächlich: Nach ein paar Stunden erreichten sie eine erloschene Feuerstelle. Daneben lag genügend Holz, um ein weiteres zu entfachen. Ali starrte das Brennholz nachdenklich an. »Was soll das?«, fragte er schließlich.
»Dieses Spielchen treibt sie schon seit Wochen mit mir«, sagte Hakim bitter. Er fluchte etwas in einer fremden Sprache und spuckte auf das Holz. »Sie will, dass wir hier bleiben und es uns gemütlich machen.« Sein Gesicht lief knallrot an, er ballte die Hände zu Fäusten.
Ein hammerharter Schlag ins Gesicht… hach, das wäre schön!
Doch was würden seine Gefährten nur von ihm denken, wenn er sich selbst schlug?
»Das kann sie vergessen!«, brüllte er schlussendlich. Er zog Julius aus der Scheide und reckte ihn gen Himmel. »Wir werden sie erwischen, koste es, was es wolle! Wir reiten die Nacht durch und werden sie hetzen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbricht!«
***
Als die Sonne aufging, legten sie eine Rast ein. Sie stiegen ab und gönnten den Tieren und sich selbst eine Pause. Die Landschaft hatte sich im Laufe der Nacht verändert: Sanddünen waren großen Geröllhaufen gewichen, Geröll hatte einer zerklüfteten Felslandschaft Platz gemacht. Wohin man sah, überall erhoben sich schroffe Berge mit messerscharfen Vorsprüngen, gelegentlich blickten Höhlen aus dem Fels wie schwarze, bedrohliche Augen.
»Als Kind bin ich oft mit Vaters Karawane hierher gekommen«, sagte einer der Söldner (Wie heißt der Kerl eigentlich?), »mit meinen Brüdern habe ich oft Verstecken gespielt. Manchmal bin ich stundenlang in einer Höhle oder hinter einem Felsen gesessen, weil mich niemand gefunden hat. Einen besseren Platz zum Verstecken hätte sie gar nicht wählen können. Ich glaube nicht, dass wir sie hier jemals finden werden, nein, völlig unmöglich.«
Toll, solche Schwarzmaler sind natürlich immer eine große Hilfe.
»Ich halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, sie in dieser Felslandschaft zu finden«, sagte Ali. »In der Wüste konnten wir wenigstens ihrer Fährte folgen, aber hier?« Der Herr der Schwarzen Wölfe schüttelte den Kopf, setzte sich auf den Boden und schloss die müden Augen. Bis auf Hakim folgten alle seinem Beispiel.
Er seufzte. Eigentlich hätte er die Jagd gerne wieder aufgenommen, aber mit den erschöpften Männern konnte er das vergessen.
»Hier in der Sonne können wir nicht bleiben, kommt, suchen wir eine Höhle.« Gegen diesen Vorschlag hatte keiner etwas einzuwenden. Sie suchten einen möglichst schattigen Platz für die Tiere, und als sie ihn gefunden hatten, banden sie die Dromedare fest. Dann hielten sie nach einem geeigneten Unterschlupf Ausschau. Auch in dieser Hinsicht wurden sie fündig.
Für müde Männer schien die Höhle wie geschaffen. Den Boden bedeckte feiner Sand und in ihr herrschte eine angenehme Kühle. »Legt euch ruhig aufs Ohr, ich werde Wache halten«, sagte Hakim zu den Söldnern.
»Bist du denn überhaupt nicht müde?«
Er schüttelte den Kopf. Im Laufe der Jahre hatte er immer weniger Schlaf benötigt, häufig reichten zwei oder drei Stunden völlig aus, um ihn bei Kräften zu halten.
Ali schenkte ihm noch einen misstrauischen Blick, bevor er eine Decke ausbreitete und sich hinlegte. Nach einer Weile schliefen die schwarzen Wölfe. Und der Wanderer saß am Höhleneingang und blickte gedankenverloren ins Leere, während ihm die Lider immer schwerer wurden.
***
Das Meer war azurblau, die Sonne schien freundlich vom Himmel. Verwundert drehte er sich um und riss die Augen auf. Er stand auf der Brücke eines Dreimasters, der mit gebauschten Segeln auf ein fernes Ziel zusteuerte. Er legte den Kopf in den Nacken und warf einen Blick auf die Mastspitze. Ein seliges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Das Schiff fuhr unter keiner Flagge, was nur eines bedeuten konnte…
»Piraten, na und? Du hattest doch noch nie was gegen uns, oder?« Ein großer glatzköpfiger Mann erschien auf der Brücke. Aus seinen Augen verschwand die Kälte, als er Hakims Lächeln erblickte.
»Sanos! Was für eine Freude, dich zu sehen!« Er umarmte den Piraten und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
»Ich freue mich auch, junger Freund. Folge mir, die anderen warten schon.« Hakim ließ ihn los und folgte ihm über die hölzerne Treppe auf das Deck des Schiffes. An der Reling standen ein Dutzend Männer, die ihm alle den Rücken zuwandten. »Seht her, Freunde, Hakim ist zu uns gestoßen.«
Nach und nach drehten sie sich um und wandten ihr Antlitz dem Einsamen Wanderer zu. Hakims Herz machte einen Luftsprung, als er in die Runde blickte. Alle, wirklich alle waren sie gekommen!
Da war Dragan, ein finster dreinblickender Mann mit buschigen Augenbrauen; Salvatore der Seefahrer, dessen langes lockiges Haar lustig im Wind flatterte; Isaak, wie immer traditionell jüdisch gekleidet und … oh! Richard war natürlich auch da. Der Adelige steckte in seiner prachtvollen Rüstung und sah richtig elend aus. »Richard verträgt keine Seeluft«, kommentierte Sanos den verwunderten Blick Hakims. »Deshalb wollte er das Treffen ja auch in seinem Schloss abhalten. Bist wohl überstimmt worden, mein Guter, was?« Richard nickte nur kurz und klammerte sich an die Reling.
»Hier auf See ist’s sowieso am schönsten«, sagte Salvatore.
Sanos übernahm wieder das Wort: »Wir haben uns alle hier versammelt, weil…«
Ein kehliger Schrei unterbrach ihn, untermalt von lautem Kindergeheul.
»Was, zum Teufel, war das?«, fragte Hakim schockiert.
»Achte nicht darauf, mein Freund, das sind nur die Wahnsinnigen und die früh Dahingeschiedenen. Sie befinden sich alle unter Deck.« Ein Raunen ging durch die Gruppe, Hakim lief es kalt den Rücken hinunter.
»Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, der Grund unserer Zusammenkunft. Wir haben uns hier versammelt, weil wir uns Sorgen machen. Genaugenommen machen wir uns Sorgen… Dimitri, geschätzter Landsmann, übernimm du, ich bring es nicht übers Herz.«
Ein dicklicher Mann trat vor. Er war prachtvoll gekleidet, und auf seinem Gesicht zeichneten sich überaus arrogante Gesichtszüge ab. »Dann muss ich es ihm eben erklären«, sagte er selbstgefällig. »Hakim, wir machen uns Sorgen um dich.« Hakim starrte perplex in die Runde.
»Warum denn?«, fragte er unsicher.
»Die Weiße Frau«, sagte Dimitri giftig. »Warum, zum Teufel, verfolgst du sie?«
»Ich will sie umbringen.«
Dimitri wurde blass. »Davon ist dringend abzuraten. Sie ist gefährlich und könnte mehr Schaden anrichten, als sie sowieso schon verursacht hat.« Er warf das Haar zurück und blickte geringschätzig in die Runde.
Ein ausgemergelter Mann im Talar trat vor und erhob das Wort. »Frauen sind sowieso alle Dienerinnen des Teufels, halte dich bloß fern von ihnen.« Ein dröhnendes Lachen ging durch die Runde, selbst Hakim musste lächeln.
»Auf die Knie, Männer, der Messias höchstpersönlich hat gesprochen«, ätzte der Pirat. Der Priester setzte einen finsteren Blick auf und biss sich auf die Unterlippe.
Der Pirat setzte einen fürsorglichen Blick auf, den man einem Mann wie ihm nie zugetraut hätte. »Hakim, lieber Hakim. Wir, die Alten können dir nur Eines raten: Hör bitte auf, nach der Weißen Frau zu suchen. Unser gesamtes Wissen, unsere Erfahrung und unsere Voraussicht sagen uns, dass das nicht gut gehen kann. Gib die Suche auf, wir bitten dich inständig.«
»Begrabe deine Rachegedanken«, sagte Dimitri.
»Ja, genau, tu das«, pflichtete ihm der Priester bei.
Alle anderen nickten nur oder machten andere bestätigende Gesten.
Was war die ganze Zeit in ihm vorgegangen? Nun ja, zuerst hatte er lauthals protestieren wollen, dann aber hatte sich sein Widerstand nach und nach in Rauch aufgelöst. Was sollte man dazu noch sagen? Wenn er in ihre Gesichter blickte, welches jedes einzelne ein anderes aufregendes Leben erzählte…
Sie bildeten einen Kreis um ihn und blickten ihn fordernd an.
»Was sagst du dazu?«, fragten sie ihn wie aus einem Mund.
Er sah die aufrechte Sorge in ihren Gesichtern. Er sah Mitgefühl und Anteilnahme. Hakim war so gerührt, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich… ich werde die Suche aufgeben«, sagte er schließlich. Es folgte ein erleichtertes Aufatmen der Alten.
»Käpt’n!«, hallte eine verzweifelte Stimme über das Schiff. Sanos wandte sich der Brücke zu. »Was ist, Steuermann?«
»Sturmfront voraus!«
Hakim lenkte seinen Blick gen Bug, und die Alten taten es ihm gleich.
»Bei Allah dem Allmächtigen«, sagte der Einsame Wanderer fassungslos, als er das gewaltige Gewitter erblickte, das sich während ihres Gesprächs vor dem Schiff zusammengebraut hatte. Schwärzer als die Nacht, gewaltiger als jeder Sturm, den er je gesehen hatten. Grelle Blitze erhellten den Horizont. Isaak sank auf die Knie und begann inbrünstig zu beten, und der Priester tat es ihm gleich. Auch er selbst verspürte plötzlich den brennenden Drang, Allah seiner Sünden wegen um Vergebung zu bitten.
Das kehlige Wehklagen erhob sich wieder, diesmal lauter als je zuvor. Und wieder mischten sich verzweifelte Kinderschreie darunter.
»Das ist kein Sturm, …«
»… nein, das ist der Untergang.«, vollendete Hakim die Worte des Piraten, und die Alten schenkten ihm angstvolle Blicke.
***
Er schlug die Augen auf. Zuerst wusste er nicht, wo er war, doch nach und nach erinnerte er sich wieder. In ihm machte sich ungeheure Erleichterung breit. Er lag auf dem sandigen Boden, schweißgebadet und mit Tränen in den Augen. Langsam stand Hakim auf und klopfte sich den Sand von den Kleidern.
Siedend heiß stieg es in ihm auf. Er hätte ja Wache halten sollen! Hastig drehte er sich um und lenkte seinen Blick in die Höhle.
Da langen sie, alle vier und schliefen friedlich wie Säuglinge an der Titte der Mutter. Er musste grinsen.
Hakim blickte wieder nach draußen, wo die Sonne glühend heiß auf die Erde schien. Was sollte er als Nächstes machen? Seine Suche war beendet, das stand fest. Vielleicht konnte er unentdeckt aus der Höhle verschwinden, sich einen Dromedar nehmen und die Söldner einfach ihrem Schicksal überlassen. Würden sie ihn jagen? Zu viert würden sie ihn leicht überwältigen können, sie würden ihm seine Lieblinge wegnehmen und dann… Nein, er wollte nicht sterben. Auf keinen Fall. Wer würde dann für seine Waffen sorgen? Jetzt erkannte er, dass sein Wunsch nach Unterstützung doch nicht so gut gewesen war. Vielleicht konnte er sie ja alle im Schlaf umbringen. Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er konnte es ja versuchen. Aber sie waren immerhin zu viert… Es war einfach zum Verzweifeln!
Ach, wenn ich doch bloß wieder alleine wäre!
Ali schrie im Schlaf und öffnete die Augen. Er setzte sich auf und sah den Wanderer mit verschlafenem Blick an. »Alles in Ordnung, Hakim? Du siehst so… verschreckt aus.«
Er wandte sich seinen Männern zu. »Aufwachen, Wölfe, die Jagd geht weiter!« Nach und nach erhoben sie sich und rieben sich die verquollenen Augen.
»Hunger«, sagte einer der Söldner. Doch sie hatten alles Gepäck bei den Tieren gelassen. Nur Hakim hatte als Einziger seine Tasche dabei, in der allerdings kaum noch etwas Essbares vorhanden war.
Also verließ die Gruppe die Höhle, und sie gingen zu den Tieren, die noch immer-
Verdammt, nein! Sie waren verschwunden.
Sie starrten fassungslos auf die Stelle, wo sie die Dromedare an die Felsen gebunden hatten. Hakim hätte am liebsten seine Flügel ausgebreitet und wäre weggeflogen. Das Problem war nur, dass er keine hatte. Ali drehte sich langsam zu ihm um, in seinen dunklen Augen blitzte es.
»Ich dachte, du hättest Wache gehalten«, sagte er mit einem nach Ärger klingenden Unterton. »Vom Höhleneingang aus konnte ich sie nicht sehen«, sagte Hakim.
»Und du bist nie auf den Gedanken gekommen, deinen Hintern zu erheben und einmal einen Blick auf sie zu werfen, na?« Der Herr der schwarzen Wölfe reckte seine Hände flehend gen Himmel.
»Wunderbar, einfach wunderbar. Beim großen Propheten, womit habe ich das verdient?! Hakim, du bist der seltsamste und unzuverlässigste Narr, der mir je begegnet ist!«
Anfangs war er noch zerknirscht gewesen, aber Alis unbedachte Bemerkung hatte im Nu die ungeheure Wut des einsamen Wanderers entfesselt.
Niemand, nein, niemand beleidigt mich!
Er lief scharlachrot an, seine Hände begannen zu zittern. Vor seinen Augen tanzten Sternchen. Die Söldner musterten ihn mit unsichern Blicken, einer wich sogar zurück.
»Wie hast du mich genannt, du stinkender Kameltreiber?« Seine Stimme war schneidend und voller Zorn.
Ali ging einen Schritt auf ihn zu. »Hakim, ich…«
Er zog Julius so schnell, dass Ali vor Schreck einen Satz rückwärts machte. Hakims treuer Begleiter schimmerte so schön in der Sonne, dass Dichter großer Epen ihre helle Freude daran gehabt hätten.
Nach einer Schrecksekunde zogen die schwarzen Wölfe ihrerseits die Säbel.
»Julius, mein Julius, hilf mir in dieser dunklen Stunde«, murmelte er.
»Obacht, Männer, er ist völlig verrückt.«
Blitzschnell schätzte er die Situation ein. Vier gegen einen. Hakim hatte seine Tasche umgehängt, und darin befanden sich wie immer Anne und José. Anne würde ihm keine große Hilfe sein, aber José…
Ach was! Was hatten die Wölfe seinen Kampfkünsten schon entgegenzusetzen? Bei allen Rittern, Fürsten und Piraten, mit diesen Maden würde er schon fertig werden!
»Sterbt, Hurensöhne!«, schrie er im Wahn, machte einen Satz vorwärts und überließ Julius den Rest.
Anfangs war es leicht, fast zu leicht. Doch gegen Schluss wurde es für den einsamen Wanderer eng. Sehr eng.
Der Söldner hatte noch nie wirklich gekämpft, anders konnte sich Hakim seine enorme Ungeschicktheit nicht erklären. Julius’ Klinge raste ungehindert in seine Richtung, doch der Mann war entweder zu langsam zum Parieren, oder er hatte noch nie etwas davon gehört. Wie auch immer, Hakims treuer Freund trennte ihm mit einem satten Zack! den Arm ab. Der Söldner schrie wie am Spieß und taumelte rückwärts. Blutfontänen ergossen sich auf seinen Nebenmann.
Dieser hatte mit seiner Waffe bereits zum Schlag ausgeholt, als ihn der Schwall traf. Er hielt mitten in der Bewegung inne und betrachtete irritiert die Sauerei, die von seinem Kameraden ausging. Ein schweres Vergehen.
Hakim holte weit aus und trennte ihm sauber den Kopf ab. Die Unaufmerksamkeit des Mannes war zwar unverzeihlicher Fehler gewesen, aber einen unbestreitbaren Vorteil hatte die Sache schon: Er würde nie wieder einen machen. Der Kopf landete auf dem steinigen Boden, und sein Körper tat es ihm gleich.
In diesem Augenblick sah er einen Schatten auf sich zu fliegen. Bevor er auch nur an Gegenmaßnahmen denken konnte, flog Julius schon direkt darauf zu. Er parierte Alis wütenden Hieb derart geschickt, dass der Herr der Wölfe ihn mit einem entsetzten Blick bedachte. Was gibt’s da zu gucken? Du solltest…
»…mich einmal in einer Schlacht sehen, blöder Zuhälter! Die Alten seien gepriesen!«
Ali machte ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte so schnell, wie ihn seine Beine trugen.
Jetzt waren nur noch zwei übrig. Der Kerl mit dem abgetrennten Arm lag auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerz, während der letzte Kämpfer Hakim mit Augen voller Grimm ansah. Hakim hob Salvatores Schwert in die Luft, und als Reaktion wich der Söldner ein paar Schritte zurück.
Na, was soll ich dir für ein Ende bereiten? Elegant oder wild wie ein Berserker?
Er entschied sich für Letzteres. Er zeichnete mit dem Schwert eine 8 in die Luft, stieß einen schrillen Schrei aus und rannte wie ein Besessener auf den Söldner zu.
Stirb, stirb, stirb, stirb, dachte er mit wahnglühenden Augen, und zielte mit der Schwertspitze genau auf das Herz seines Feindes. Dieser erwachte aus seiner Erstarrung, sprang zur Seite und-
hieb mit seinem Säbel auf den vorbeistürmenden Wanderer ein. Ein Glück, dass der Mann heute noch kein Zielwasser getrunken hatte, denn er verfehlte Hakim um einiges. Hakim spürte hinter sich den Luftzug des Hiebes, drehte sich zum Söldner und rammte ihm die Klinge genau in seine dämlich glotzende Fratze. Da steckte es nun, das Schwert, und die Miene des Mannes machte den Eindruck, als wäre er zufrieden damit.
Mit der Waffe im Gesicht sieht er richtig hübsch aus, dachte er zufrieden, und zog ihm Julius aus der Visage.
Ein Schwall roten Lebenssaftes sprudelte aus seinem Kopf, und hörte erst auf, als er schon längst ohne einen Funken Leben auf der Erde lag.
Und ich Narr hatte Angst vor ihnen. Lächerlich.
In seinen Augen war nichts als erbarmungslose Kälte, als er abschließend noch den Armlosen tötete. Er hatte gesiegt. Der Einsame Wanderer senkte das Schwert, bis es den Boden berührte, stützte beide Hände auf den Knauf und starrte leeren Blickes in die Landschaft.
Niemand legt sich mit mir an, bei allen verblichenen Alten und meinen geliebten Waffen, niemand.
In der Ferne stand eine Gestalt. Das war doch nicht möglich! Was erlaubte sich der Herr der Wölfe eigentlich? Er hatte anscheinend seine Fluchtgedanken aufgeben, war stehengeblieben und sah nun in seine Richtung.
Du hattest deine Chance, Ali, aber wenn du unbedingt willst, bringe ich dich auch noch um.
Kopfschüttelnd ging er zu ihm.
»Sag mir nur eines, Ali, dann bereite ich dir einen schmerzlosen Tod. Warum flüchtest du nicht?«
Erst jetzt bemerkte Hakim, dass Ali merkwürdig verkrampft dastand.
Nein, das kann nicht sein, bitte nicht!
Doch die furchtbare Erkenntnis kam zu spät.
Zuerst konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Stocksteif stand er da, völlig unfähig, einen Schritt nach dem anderen zu setzen. Dann verkrampften sich seine Arme und Hände. Er umklammerte Julius’ Griff nun so fest, dass es schmerzte. Schlussendlich stand er völlig starr in der erbarmungslosen Sonne, nur noch fähig zu atmen und die Augen zu bewegen.
Da standen sie nun, der einsame Wanderer und der Herr der toten Wölfe und tauschten hilflose Blicke.
Dann erschien ein Schatten zwischen den beiden Kontrahenten. Er verdichtete sich, nahm Gestalt und Farbe an.
Hakims schlimmste Befürchtungen hatten sich bewahrheitet.
Die Weiße Frau hatte sich manifestiert.
Ihre Augen… Bei Allah, dem Allmächtigen, ihre Augen! Sie waren lodernde Brunnen blauen Feuers, in denen schwarze Punkte wie Mückenschwärme tanzten. Er spürte ihren gnadenlos durchdringenden Blick, der, einem dunklen Schatten gleich, über seine Seele strich. Sie begann zu reden.
»So hast du dir das nicht vorgestellt, Fremder, hab ich Recht?« Die Stimme angenehm, engelsgleich. Ein freundliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie nach einer Pause die Stimme erneut erhob.
»Du bist am Ende deiner Reise angelangt.« Sie nahm ihren Blick von ihm und betrachtete fasziniert ihre rechte Hand. »Doch fürchte dich nicht! Denn ich werde dir kein Leid zufügen.« Sie machte zwei, drei Schritte rückwärts, und zwischen ihm und Ali herrschte wieder freie Sicht.
»Du bist frei, Kameltreiber.« Ali zuckte zusammen und wäre fast gestürzt, aber schlussendlich konnte er sich doch noch auf den Beinen halten.
»Dein Feind ist hilflos, worauf wartest du noch, Wüstensohn? Mach seinem traurigen Dasein ein Ende.«
Ali nahm unsicher den Säbel in die Hand und ging langsam auf den bewegungsunfähigen Wanderer zu. Abrupt blieb er stehen und starrte die Weiße Frau voller Furcht an.
»Worauf wartest du noch, mein Guter? Bring ihn um.«
»Bei Allah, ich befolge keine Befehle von Dämonenweibern!«, sagte er mit zitternder Stimme. Das Lächeln verschwand, und sie machte ein Gesicht, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst.
»Tja, Pech für dich«, sagte sie leise, »ist so ein Säbel eigentlich sehr scharf?«
»Hä?«
Was darauf folgte, war so grauenvoll anzusehen, dass Hakim schockiert die Augen schloss. Er war froh, dass er wenigstens das noch konnte. Alis Schreie zerrissen die Stille zwischen den Felsen, wie donnernde Kanonenschläge so manchen friedlichen Tag stören.
Schließlich verstummten sie.
»Öffne deine Augen, Fremder.« Er tat, wie ihm geheißen, obwohl er gar nicht wollte.
»Ich frage erst gar nicht, aus welchem Grund du mir folgst, weil du es in deinem grenzenlosen Delirium offenbar selbst nicht mehr weißt, oder?«
Er wollte sie verfluchen, aber er konnte nicht sprechen.
Sie lächelte, hielt sich ihre rechte Hand vors Gesicht und blickte ihn feixend zwischen den gespreizten Fingern hindurch an. Ihre Augen erinnerten an blaue Sonnen, die hinter mückenumschwirrten Bäumchen schienen.
»Keine dämlichen Ausreden und dümmliche Erklärungsversuche?«
Blödes Weib, der Teufel selbst soll dich bestrafen!
[…meistens in Erfüllung. Sofern es nicht zu abgehoben war.]
Sie senkte ihre Hand wieder und lächelte süffisant. »Zu dumm, ich hätte zu gerne welche gehört.«
Ein stechender Schmerz raste durch seinen Körper, als sie ihn zwang, den rechten Arm und damit den blutverschmierten Julius zu heben.
»Ein schönes Schwert hast du da, Fremder.«
Und mit diesen Worten setzte sich die Waffe unaufhaltsam in Bewegung. So sehr er auch dagegen ankämpfte, die Klinge kam seinem erstarrten Gesicht immer näher.
Plötzlich durchflutete ihn wieder Hoffnung. Sie konnte ja nicht wissen, wie gut er und Julius befreundet waren! Julius würde ihm niemals etwas zuleide tun, niemals.
Stimmt’s, Julius?
Die Klinge grub sich tief in seine Wange und verursachte heftige Schmerzen.
Was zum…?!
Der Schock des Schmerzes erschütterte seine Freundschaft zu Julius in den Grundfesten.
Und jetzt erkannte er endlich, dass bald seine letzte Stunde schlagen würde, wenn nicht bald ein Wunder geschah.
Die Klinge bewegte sich wieder von seinem Gesicht weg, nur um anschließend blitzschnell auf seinen Hals zuzufliegen. Nur noch ein kurzer Streich, und Hakim der Wanderer würde Geschichte sein.
Nein, ich will nicht sterben, bitte nicht, bitte nicht jetzt!
Die Klinge stoppte so knapp vor seinem Hals, dass er sie fast spüren konnte.
Die Augen der Frau leuchteten etwas schwächer, und ein irritierter Gesichtsausdruck machte ihrem Lächeln Platz.
Neuer Mut durchfloss ihn wie eine warme, ungeheuer wohltuende Woge. Dieser blöde Julius! Wenn er doch nur fähig wäre, José zu erreichen! Wenn es ihm nicht gelingen sollte, ihn ins Spiel zu bringen, würde es aus sein. Eine andere Chance gab es nicht.
Ach, José, komm doch zu mir!
Die Frau zuckte zusammen und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Das Leuchten war jetzt nur noch ein kümmerliches Glimmen. Gehen konnte er zwar nicht, aber der eiserne Griff, in dem sie ihn gefangen hielt, lockerte sich. Er ließ seinen untreu gewordenen Freund fallen, griff blitzschnell in seine Tasche und holte seine letzte Hoffnung ans Tageslicht. In dem Gesicht der Weißen Frau stand das blanke Entsetzen geschrieben, als sie den silbernen Revolver erblickte.
Er spannte den Hahn, zielte, schoss.
Die Kugel hatte lange Zeit auf ihren Einsatz gewartet, infolgedessen sie ihre Arbeit anscheinend zufriedenstellend verrichten wollte. Mit einem freudigen Zischen flog sie auf die Frau zu. Dann ging sie mit dem Körper auf Kollisionskurs. Eine rote Fontäne spritzte in luftige Höhen, durch die Wucht des Aufpralls wurde die Frau auf den Boden geschleudert.
Da lag sie nun, verdreht und geschockt, und blutete wie verrückt aus ihrer rechten Schulter. Es war vorbei. Aus und vorbei. Allah und seine Engel seien gepriesen!
Hakim war frei. Er stürzte sich auf seine alte Feindin und presste ihr den Lauf brutal an die Schläfe. »Gib mir nur einen Grund, Weib, und ich drücke ab.«
Er war erstaunt über sich selbst. Wieso zögerte er, sie zu töten?
Jetzt sah er sie das erste Mal seit langer Zeit aus der Nähe. Ihr Gesicht war faltig, aber dennoch wunderschön, ihre Augen waren smaragdgrün, keine Spur war mehr vom einstigen Leuchten zu entdecken. Sie sah ihn mit gehetztem Blick an.
»Bitte nicht! Ich habe nur…«
Eine Träne kullerte über ihre Wange. Sie hinterließ eine dünne Schliere, die im Sonnenlicht schimmerte. So traurig und dennoch so schön…
Hakim konnte sich nicht erinnern, wie viele Menschen er schon kaltblütig umgebracht hatte, aber es waren eine ganze Menge gewesen. Niemals hatte er auch nur einen Funken Mitleid gefühlt, stets hatte ihn seine ohnmächtige Wut auf alles und jeden zum erbarmungslosen Schlächter werden lassen. Und jetzt kniete er neben ihr und verspürte ein Gefühl, das seinem Wesen derart fremd war, dass er voll und ganz davon eingenommen wurde. War es Mitleid? War es - wusste der Himmel wieso - Liebe? Etwas von beidem, vermutete er.
»Bitte nicht«, flehte sie noch einmal.
Vielleicht kann sie mir ja helfen?, dachte er, obwohl er es selbst nicht ganz glaubte. Er zog den Revolver zurück, zielte aber weiterhin auf ihren Kopf. Sie richtete sich auf und presste sich wimmernd die Hand auf ihre Wunde.
»Befreie mich von dem Fluch, und ich werde dich leben lassen!«
Wohl eher aus Angst als aus Verständnis antwortete sie mit einem leisen »Ja«.
Sie kroch in den Schatten, lehnte sich gegen den Fels und sah ihn traurig an. Hakim hatte sie die ganze Zeit im Visier, und wenn sie Dummheiten machte, würde er sie einfach ersch-
Nein, er fühlte sich mittlerweile außerstande, so etwas zu tun. Aber das konnte sie ja nicht wissen.
»Nun, Fremder«, sagte sie leise, »du leidest also unter einem Fluch. Wer hat ihn dir auferlegt?«
Ah, da war sie wieder, seine treue Gefährtin, die Wut. Wie sehr hatte er sie doch die letzten Minuten vermisst!
»Meine Geduld ist nur begrenzt, blöde Hure.«
»Bitte, nenn mich Gina«, sagte sie niedergeschlagen.
Hakim starrte sie voller Überraschung an. Die lange Zeit die er sie gejagt hatte, hatte er nie einen Gedanken an ihren Namen verschwendet. Gina… irgendwie komisch, ihn nun zu kennen.
Er sah sie mit dem bösesten Blick an, den er im Repertoire hatte, und dieser war wirklich furchterregend. »Du warst es, Gina. Aber es ist - zugegebenermaßen - schon sehr lange her. Dennoch erinnere ich mich an jede Einzelheit, als wäre es gestern gewesen.«
Der einsame Wanderer schilderte ihr seine Geschichte, und die Weiße Frau hörte zu.
Er steht in der fackelerhellten Folterkammer der Burg, und vor ihm liegt, an die Streckbank gefesselt, ein übel aussehender Gefangener.
»Nun, Verräter«, sagt er lächelnd, »ich würde dich ja gerne erlösen, aber es… es macht solche Freude!«
Neben ihm steht sein Folterknecht. Er macht gute Miene zum bösen Spiel, hat ihm doch sein Herr die ganze Arbeit abgenommen.
»Die Brandeisen, Hermann, schnell, bevor er das Bewusstsein verliert!«
Der Scharfrichter holt geschwind die glühenden Eisen aus dem Feuer und übergibt sie ihm.
»Wunderbar. He, Verräter! An welcher Stelle würdest du gerne gebrandmarkt werden?«
Der Mann sieht ihm mit glasigem Blick an. »Irgendwann wird jemand Eurem teuflischen Treiben Einhalt gebieten, Ihr stinkender Bastard.«
Er hält seinem Gefangenen die Brandeisen ganz nah vor das Gesicht.
»Das glaube ich nicht, Drecksack. Wozu gibt es denn die Beichte? Dort werden mir meine Sünden sowieso vergeben.«
Er wendet sich an seinen Folterknecht. »Euer Gnaden, ich habe gesündigt und bitte Euch inständig: Vergebt mir meine schändlichen Taten.«
»Das kann nur Gott, mein Sohn«, sagt der Scharfrichter und fängt schallend zu lachen an. Sein Herr stimmt mit ein.
Die Tür der Folterkammer öffnet sich knarrend. Er dreht sich ungehalten um.
»Was soll das? Ich wollte doch nicht gestört werden!«
»Mein Herr, eine Frau erwartet Euch«, sagt der magere Dienstbote.
Jetzt schon? Die Orgie findet doch erst heute Abend statt, denkt er verwundert.
»Na wunderbar. Wieso haben sie die Wachen einfach so durchgelassen?«
»Ich weiß es nicht, mein Herr«, sagt der Diener unterwürfig.
Er flucht blasphemisch und folgt dem Mann Richtung Schlosshof.
Dort steht eine blonde Frau, ganz in weiß gewandet und blickt verträumt in den Himmel.
Gina setzte einen überraschten Gesichtsausdruck auf und biss sich auf die Unterlippe, sagte aber nichts.
»Holdes Weibsbild, ich habe nur wenig Zeit und noch weniger Geduld. Was führt Euch zu mir?«, sagt er herrisch.
Sie senkt ihr Haupt und sieht ihn an.
»Richard von Breslau? Ihr werdet etwas Zeit für mich aufwenden müssen, denn der Grund meines Besuches ist sehr ernst.«
Sie kommt näher und sieht ihn unverwandt an. Gute Güte, sie ist fast größer als er selbst!
»Wir machen uns Sorgen um dich, Richard, große Sorgen«, fährt sie fort.
Wieso lassen diese Hohlköpfe eigentlich solche Irre in meine Burg?
»Sehr schön. Und jetzt verschwinde, Weib, bevor ich richtig wütend werde.«
Sie ignoriert seine Drohung.
»Richard! Ich sage es dir nur einmal: Reiß dich zusammen, so kannst du nicht ewig weitermachen! Land und Leute stöhnen unter deiner despotischen Herrschaft, nichts und niemanden lässt du unbescholten. Bessere dich, oder du wirst die Konsequenzen zu tragen haben!«
Er sieht sie perplex an, zum ersten Mal seit langem fehlen ihm die Worte.
Ein Königreich für eine bissige und gleichzeitig erniedrigende Bemerkung!
Doch ihm fällt keine ein, Mist.
»Wachen! Schafft mir diese Frau vom Hals!«, ruft er, nachdem ihm partout nichts einfallen will. Er dreht sich um und will in die Kerker zurückgehen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürt.
»Schön, mein Graf«, sagt die Frau, »du hast es so gewollt. Jetzt, da ich dich getroffen habe, sehe ich, dass es keine Hoffnung mehr gibt.«
Es knistert und kracht wie bei einem Gewitter. Von ihrer Hand geht ein weißliches Licht aus, eine donnernde Woge schleudert ihn zu Boden.
»Ich mache dir einen Vorschlag: Bessere dich, dann werde ich eines Tages vorbeikommen und dich erlösen, ich verspreche es dir.«
Er steht zitternd auf und sieht sich um. Die Frau ist verschwunden.
Richard schenkt ihren Worten keinerlei Beachtung und stirbt viele Jahre nach der unheimlichen Begegnung.
Doch es ist nicht das Ende. Großer Gott, was hatte sie ihm nur angetan! Statt singender Engel…
»Was, Richard? Was war dann?« In Hakims Augen blitzte es.
»Nenn mich nie wieder so! Richard ist tot, alle sind sie tot. Es gibt nur noch Hakim, und der gute Hakim unterhält sich mit den Alten in seinen Träumen. Niemals würden sie es gestatten, dass er sich nach ihnen benennt!« Er schlug sich mit der Faust so fest auf die Stirn, dass es krachte. Es war wie immer: Die Wut verzog sich und machte dem Schmerz Platz.
»Außerdem gewöhne ich mich leider immer viel zu schnell an die Namen, die mir meine zahlreichen Eltern gegeben haben. Hakim… nur dumme Kameltreiber heißen so.«
Wann hatte er damit begonnen, seine früheren Persönlichkeiten als Freunde, aber nicht als sich selbst anzusehen? Wahrscheinlich damals, als er in die Gruft des Grafen eingebrochen, und dessen Leiche erblickt hatte. Er war damals unendlich traurig gewesen, hatte um ihn geweint wie um einen alten Freund. Ja, dieser Moment musste der Auslöser dafür gewesen sein, später immer von den »Alten« oder seinen »Freunden« zu sprechen, um damit niemand anderes als seine früheren Persönlichkeiten zu meinen. Mit den Jahren hatte die Zahl der Alten zugenommen, und er hatte stets gehofft, sie einmal wiederzusehen. Und irgendwann hatten die Alten dann tatsächlich begonnen, ihn in seinen Träumen aufzusuchen…
Er stand auf, behielt die Weiße Frau aber weiterhin im Visier.
»Willst du es wirklich wissen, Gina? Willst du wirklich erfahren, wie es ist, immer wiedergeboren zu werden, ohne die Erinnerung an vorherige Leben zu verlieren? Die Hölle ist nichts dagegen!«
Er deutete ihr Schweigen als Bejahung und fuhr fort.
»Die ersten Momente nach dem Tod ist… nichts. Schwarzes, grausames Nichts. Dann folgt eine sehr verwirrende, sehr lange Zeit. In dieser Zeit bin ich außerstande, vernünftig zu denken, außerstande, meine Umgebung richtig wahrzunehmen. Doch irgendwann kommt die grausame Erkenntnis, dass man als hilfloses Kind an der Titte der Mutter saugt. Komisch, aber ich kann mich an keine einzige Geburt erinnern, und ich bin auch froh darüber. Nach dem Säuglingsdasein kommt die Kindheit, diese schreckliche Zeit. Viele gute Eltern hatte ich nicht, das kann ich dir sagen. Oftmals bin ich schon früh von Zuhause ausgerissen, und starb grausam in der unerbittlichen Welt. Und weiß der Himmel, wie viele Male ich krank im Kopf ein elendes Dasein fristete, oder ich schon früh dahinschied.«
Er setzte sich wieder hin und schenkte der Weißen Frau einen bösen Blick. »Aber an meine wirklich wichtigen Leben erinnere ich mich sehr genau:
Ich war Richard, der Graf;
Julian der Schmied, der immer schön brav war, aber nie erlöst wurde;
Tom, der Priester;
Isaak, der jüdische Händler;
Paul, ein Großbauer;
Alfred, fahrender Händler und Bader;
Salvatore, der venezianische Seefahrer;
der große Arzt Dragan von Istrien;
Dimitri, der griechische Großgrundbesitzer;
Sanos, gefürchteter Pirat der Ägäis;
ein Feldherr namens Christatos;
ich war Abu, der König der Diebe von Isfahan;
Rais, wieder einmal ein Fürst.
Jetzt bin ich seit fast fünfunddreißig Jahren Hakim, der Wanderer. Ich habe viel von der Welt gesehen und bin es langsam satt, bis in alle Ewigkeiten auf Erden zu wandeln, immer nur darauf wartend, dass dieses vermaledeite Weltenwrack untergeht und ich endlich Ruhe finden werde.«
Die Weiße Frau hatte die ganze Zeit gebannt seiner Geschichte gelauscht, und nun standen ihr die Tränen in den Augen.
»Es tut mir Leid, Hakim, es tut mir ja so Leid.«
»Wieso hast du dein Versprechen nicht gehalten?«, fragte er verbittert.
Sie war in den letzten Minuten sehr blass geworden. Ihre Wunde blutete noch immer, ihr weißer Umhang war blutgetränkt.
»Willst du das wirklich wissen, Hakim? Ich glaube nicht, dass du es verstehen würdest«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Nur zu. Glaub mir, ich bin die letzten sechshundert Jahre nicht gerade dümmer geworden.«
»Einst gehörte ich den Hütern der Ordnung an, das ist ein himmlischer Orden.«
Hakim war bass erstaunt. Ein himmlischer Orden, dem Hexen angehörten! Aber nach alldem, was er die letzen Jahrhunderte gesehen hatte, passte es ganz gut. Dort oben musste tatsächlich etwas nicht ganz stimmen.
»Von der Himmlischen Warte aus - unserem Stützpunkt - zogen wir immer wieder in die Welten aus, um unserer Bestimmung gerecht zu werden. Wir halfen den guten Menschen, wir bestraften die schlechten; so etwas wie bei dir haben wir früher öfter gemacht. Alles ging seinen gewohnten Gang, bis eines Tages ein Feind auftauchte, den wir nicht bezwingen konnten.«
»Der Teufel…«
»…ist eine Erfindung der Menschen, es gibt ihn nicht«, fiel ihm Gina ins Wort.
»Unser neuer Feind war einfach schrecklich. Er tauchte aus dem Nichts auf, jagte uns, und wenn er uns erwischt hatte…«
Sie hörte auf zu sprechen und brach in Tränen aus.
»Hakim, du kannst nicht sterben, weil deine Seele unsterblich ist. Aber er kann dich trotzdem töten. Er bringt zuerst den Körper um, dann löscht er die Seele aus. Todesengel wird er genannt. Er tritt in der Gestalt eines alten Mannes auf, durch Raum und Zeit wandelnd und durch nichts aufzuhalten. Ich wurde bei einer Schlacht vor langer Zeit von den anderen getrennt, und streife seitdem rastlos durch diese Welt.«
Sie wies auf ihr tränenverschmiertes Gesicht. »Einmal hatte er mich erwischt. Ich konnte gerade noch entkommen, aber seitdem bin ich entstellt.«
Hakim musterte ihr Antlitz, konnte aber keine Narben entdecken.
»Verstehst du jetzt, wieso ich dich niemals erlöst habe? Nach seinem Auftauchen war daran nicht mehr zu denken.«
»Dann tu es jetzt! Ich kann schließlich auch nichts für deine Geschichte!«
Sie nickte, rappelte sich mühsam auf und stellte sich schwankend auf ihre Beine. Ihre Wunde blutete stärker als je zuvor. Sie hob kraftlos ihre Rechte und stellte sich breitbeinig hin. Er wich ein paar Schritte zurück.
»Hab keine Angst, Hakim, ich werde dir kein Leid zufügen.« Sprachs, spreizte die Finger der rechten Hand, brachte ihre Augen zum Leuchten und… klappte zusammen. Wie ein Mehlsack fiel sie auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Hakim hatte sich im Geiste auf fast jede erdenkliche Situation vorbereitet, aber diese überraschte ihn vollkommen. Fassungslos starrte er sie an. Was sollte er jetzt machen?
Er kniete sich nieder und rüttelte sanft an ihrer Schulter. Langsam schlug sie die Augen auf und sah ihn mit trübem Blick an.
»Wanderer…«, sagte sie mit schwacher Stimme, »ich hätte dir ja gerne geholfen… aber ich glaube, es geht zu Ende.«
Nein, nicht!
Hakim war den Tränen nahe. Er war so nah dran gewesen, endlich erlöst zu werden, und nun… das.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er verzweifelt.
»Es gibt noch Hoffnung für dich, Hakim.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Gina würgte und erbrach eine Menge Blut. »Geh zum Ben MacDhui.«
»Wohin?«, gab Hakim verständnislos zurück.
»Zum Ben MacDhui, das ist ein Berg in Schottland.«
»Schottland. Und was soll ich dort?«
Dort befindet sich das letzte offene Portal in die Himmlische Warte, dem Stützpunkt der Hüter.« Sie fing an, heftig zu zittern. »Glaub mir, dort wird man dir helfen.«
Er nickte, stand auf und entfernte sich raschen Schrittes.
»Wanderer«, krächzte sie ihm heiser hinterher. Er blieb stehen und drehte sich zu der bedauernswerten Gestalt um, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Verwundert ging er wieder zu ihr zurück.
»Wanderer, hör zu, ich bitte dich. Der Torwächter heißt Liath Mor.« Bei der Erwähnung dieses Namens lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl es sehr heiß war.
»Bei allem, was dir heilig ist, vergiss diesen Namen niemals, du wirst ihn noch brauchen.« Nach diesen Worten starb sie, und ließ Hakim mit einem dumpfen Gefühl der Trauer zurück.
Seine Verwirrung war nicht mehr zu steigern. Was, zum Teufel, sollte er jetzt tun?
Na ja, das was ich die letzten Jahre gemacht habe, antwortete er sich selbst.
***
Der Mond beschien geisterhaft den Wüstenboden, als der einsame Wanderer gen Westen trottete.
Berg in Schottland, Berg in Schottland… Liath Mor…
Wahrscheinlich war der Torwächter ein Monster mit drei Köpfen, grüner Haut und flammenden Augen. Er hatte sich fest vorgenommen, zum Ben MacDhui zu reisen, aber was ihn dort erwartete, konnte er unmöglich vorhersehen. Und wieso sollte er sich den Namen des Wächters merken?
Wahrscheinlich muss ich ihm diesen nennen, um eingelassen zu werden. Aber ihm dämmerte, dass das nicht so einfach werden würde, wie er sich das vorstellte.
Ausgerechnet Schottland!
Wie lange würde die Reise dauern? Zu Fuß sicher Jahre, aber…
»… ich werde auf keinen Fall eines dieser dampfenden Stahlrösser benützen, um die Reise zu verkürzen, und rauchende Wasserungetüme erst recht nicht.«
»¿…… .. .. ….. .. …….?«
Hakim stoppte und wandte sich verwundert seiner Tasche zu. Soweit er sich erinnern konnte, war das das erste Mal gewesen, dass sich José zu Wort meldete. Er holte die Waffe hervor.
»José, du hast mir zwar das Leben gerettet, aber das gibt dir nicht das Recht, so mit mir zu sprechen. Verwende eine Sprache, der ich auch mächtig bin, die anderen tun es doch auch.«
»¡..!«
Hakim fluchte auf Deutsch und fuhr Arabisch fort: »Na gut, du hast so gewollt!«
Er spannte den Hahn und hielt sich den Revolver an die Schläfe. »Wie gefällt dir das, Bastard? Was hältst du davon, bis in alle Ewigkeit blutverschmiert in der Wüste zu liegen?
»!«
Halt die Klappe, Anne, ich will ihm nur Angst machen!
Doch wie er den kalten Lauf des Revolvers an seinem Kopf spürte, überkam ihn wieder einmal die unbändige Lust, sich selbst den Garaus zu machen. Irgendwann würde er sich sowieso einen neuen Körper zulegen müssen. Aber eigentlich war es eine blöde Idee, das schon jetzt zu machen…
Aber er war so stark! Der stete Drang, sein Leben zu beenden, begleitet von der grausamen Gewissheit, danach wieder jahrelang ein hilfloses Kind sein zu müssen. Wenn er sich jetzt umbringen würde, würde er irgendwo in der Nähe wiedergeboren werden, und nach ein paar Jahren würde er sich wieder auf die Suche nach seinen Waffen machen. So, wie er es all die Leben zuvor gemacht hatte. Also musste er zumindest Anne und Julius irgendwo hier verstecken. Waren sie ihm wirklich noch so wichtig? Der heutige Tag hatte es eindrucksvoll bewiesen - auf diese Artefakte des Verflossenen konnte man sich einfach nicht verlassen…
Schließlich brachte ihn der Revolver zur Vernunft.
».. …, …. …. … …. …….. … …!«
»Das freut mich, José!« Er lachte, nahm die Waffe von seiner Schläfe und tätschelte sie liebevoll.
Na gut, dann bring ich mich eben irgendwo in Europa um.
»… …, …. … …. ……. …?«
Eigentlich hatte er sich vorgenommen, nicht mehr mit Julius zu reden, aber sein Einwand war durchaus nicht unberechtigt: Hakim hatte der Weißen Frau einfach alles abgenommen, was sie dahergeschwafelt hatte.
»Wenn sie gelogen hat, dann soll sie grausame Schmerzen erleiden, ganz gleich, in welchen Sphären sie jetzt auch herumschweben möge.«
Er musste sich eingestehen, dass er sich nun auch nicht mehr sicher war, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Aber warum hätte sie lügen sollen?
Dann kam ihm der rettende Einfall. Es gab eine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte zu prüfen. Er war der Weißen Frau bei ihrer Konfrontation fast ebenbürtig gewesen, was hieß, dass seine Kräfte inzwischen sehr groß waren.
Wenn es wirklich eine Möglichkeit gibt, meinen Leidensweg zu beenden, dann könnte ich ja mit einem inbrünstigen Wunsch nachhelfen…
Er stellte sich breitbeinig hin, schloss die Augen und konzentrierte sich.
Bei den glorreichen Alten, bei meinen Waffen, bei alldem, was mir die letzten Jahrhunderte wichtig war: Ich wünsche, erlöst zu werden.
Und sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen.
Er öffnete die Augen, blickte sich suchend um und erspähte… schwache Feuerscheine, weit, weit entfernt. Eine Karawane, die Rast machte. Also stimmte es! Sie würden ihn ein gutes Stück nach Westen mitnehmen, und dann würde er seine Reise fortsetzen. »Du hattest Unrecht, Julius, sie hat die Wahrheit gesagt. Schottland, ich komme!«
***
Das silberne Mondlicht beschien die kargen Felsen derart schön, dass es eine Freude war. Einfach herrlich, wie Schatten und Licht miteinander spielten! Es waren solche einfachen Dinge, die sie oft in eine stille Trance der Entzückung versetzten. Manche glaubten, dass sie in solchen Momenten einfach tagträumte, aber Gina war in diesen Augenblicken wacher und aufmerksamer als sonst.
Da! Das Licht, welches die Felsen beschien, wurde heller, die Schatten machten dem silbernen Glanz freimütig den Weg frei. Wie schön!
Aber wieso schien der Mond plötzlich heller?
»Der Mond kann nicht heller scheinen, ich hingegen schon.« Sie zuckte zusammen.
»Salve, Gina!«
Nein, bitte nicht, das kann nicht sein!
Sie drehte sich um und sah, dass sich ihre furchtbare Ahnung bewahrheitet hatte.
Die Gestalt war in eine flammende Korona weißen Lichts gehüllt, und war von solcher Schönheit, dass Gina wässrige Augen bekam, obwohl sie sich fürchtete.
Hinter der Gestalt befand sich ein kreisrundes, nebliges und silbern schimmerndes Weltentor, in dessen Zentrum eine verschwommene Gestalt stand.
»Was machst du nur für Sachen, meine Liebe? Nebenan erzählten mir meine Getreuen, dass du in großen Schwierigkeiten steckst«, sagte der Todesengel.
Nur selten hatte Gina ihren Meister persönlich getroffen, um genau zu sein, war es erst das zweite Mal, seitdem sie sich ihm angeschlossen hatte. Sie hatte diesen Entschluss immer bereut, aber auf seiner Seite zu stehen, war besser, als ausgelöscht zu werden. Oder für immer in der Himmlischen Warte gefangen zu sein…
Wieso kümmerte er sich plötzlich um sie?
»Meine Beweggründe gehen dich überhaupt nichts an«, sagte er scharf. Eine mächtige dunkle Woge strich über ihre Seele und ließ sie frösteln.
»Was wollte der Irre von dir?«
»Gar nichts, er hat mich völlig grundlos niedergeschossen.«
Der Todesengel hob die Hand und gebot ihr Einhalt.
((Deine Lügen hast du dir ja immer noch nicht abgewöhnt, meine Teuerste.))
Als die Worte in ihrem Kopf verklungen waren, zwang er sie zur Rekapitulation.
Ein bohrender Schmerz, genau in ihrem Kopf. Die Schrecken, die sie schon vergangen wähnte, drangen noch einmal auf sie ein.
Die Augen des Wanderers leuchten kurz und hell, wie Blitze am Firmament… eine mächtige Woge seinerseits drängt sie zurück… er zieht den Revolver und schießt…
Dieser ausgefuchste Wahnsinnige, denkt sie noch, dann trifft sie die Kugel.
((Der arme Kerl muss schon lange auf Erden wandeln, wenn er solche Kräfte besitzt)), kommentierte der Todesengel die Bilder, die sich ihm offenbarten.
Und weiter ging’s.
Noch vom Schock des Schusses gezeichnet liegt sie am Boden, als er ihr die Waffe an die Schläfe setzt… doch sie hat noch einen Trumpf im Ärmel…
Ha! Er reagiert darauf gleich wie alle anderen Männer, trotz seiner Kräfte.
Na, verliebt, Fremder?
((Gina, meine Gina, alle erliegen sie deinem Charme.)) Ein trockenes, freudloses Lachen hallte eisig wie ein Wintersturm durch ihre Gedankenwelt.
Er erzählt ihr seine Geschichte, sie erzählt ihm ihre…
…dann steht sie auf und kommt seiner Bitte nach Erlösung nach… allem Schein nach jedenfalls…
Das hättest du wohl gerne was, Wanderer? Ich werde dir nicht helfen, niemals!, denkt sie, als sie ihm mit erhobener Hand gegenübersteht…
…doch was soll sie nur tun, um ihn abzuschütteln?
Dann kommt ihr, geboren aus Verzweiflung, die rettende Idee…
…sie bringt sich um und schickt ihn, bevor sie aus dem Körper fährt, noch weit fort, weit fort in ein fernes Land.
Die Bilder des Schreckens verblassten, und die mondhelle Wüstennacht drängte sich wieder in den Vordergrund. Sie kauerte noch immer auf dem Boden, und vor ihr stand der blendend schöne Meister.
»Du bist klüger, als ich dachte«, sagte der Engel, und Gina war froh, dass er seine Gedanken wieder in Worte kleidete. »Und so unglaublich es klingt, du hast ihm ja fast die Wahrheit gesagt.«
»Keine Erlösung, nein, Liath Mor wird den Wanderer stattdessen in Stücke reißen«, sagte Gina lächelnd.
Sie blickte auf ihre Wunde, die kaum mehr blutete, und hob ihre Hand. »Es war gar nicht so leicht, meinen Körper wiederzubeleben, nachdem ich aus ihm entschwoben war«, sagte sie mit Blick auf ihre zitternde Rechte. Als sie erneut sah, wie er sie zugerichtet hatte, flammte Wut in ihr auf. Ihn zum gnadenlosen Torwächter zu schicken, war klug gewesen, doch jetzt, wo der Todesengel hier war (Warum eigentlich?), witterte sie die einmalige Chance, ihren Feind für alle Zeiten loszuwerden. Vielleicht konnte sie ihn ja auf Hakim hetzen?
Hoffentlich hat er meinen Gedanken nicht gelauscht. Oh! Das habe ich ja gedacht…
»Er ist ein Risiko für Euren Plan, Meister«, fuhr sie hastig fort. »Heute konnte er nur mir gefährlich werden, aber in wenigen Jahren könnte er Euch den Garaus machen.« Erst als sie den Satz ausgesprochen hatte, merkte sie, dass sie zu weit gegangen war. In den nebelgrauen Augen des Engels leuchtete die kalte Wut.
»So, Gina, ich soll mich also um deine Feinde kümmern, nur weil du unfähig bist?«, sagte er kalt.
»Vergebt mir, Meister.«
Plötzlich griff er sich mit beiden Händen an die Schläfe, als hätte er heftige Kopfschmerzen.
»Oh nein«, sagte er verzweifelt.
Verdammt! Sein Tick…ausgerechnet jetzt!
»Du siehst schlimm aus«, sagte er mit besorgtem Blick auf ihre Wunde, »ich denke, ich werde dich heilen.«
Nein!
Aber der Todesengel kannte keine Gnade.
Der Schmerz war so stark, so allesübergreifend, dass sie nicht einmal schreien konnte. Die Essenz ihrer Seele schien sich aufzulösen, gleichzeitig zogen die Jahre unerbittlich an ihr vorbei. Tiefste Trauer, hämmernder Schmerz, innere Zerrissenheit… Und inmitten all der Pein die wirren Gedanken des Todesengels. Bald würde ihre Seele beginnen, sich aufzulösen, und dann würde sie nur noch leeres Nichts sein…
Schließlich hörte er auf. »Geht es dir jetzt besser, Gina?«, fragte er freundlich.
Sag ja, sonst macht er weiter!
»Ja, Meister, viel besser.« Am liebsten wäre sie tot umgefallen.
Im Gesicht des Engels ging die Sonne auf. »Wunderbar. Es macht solche Freude, Gutes zu tun.« Er schien durch und durch glücklich, nicht mehr so verhärmt und kalt wie zuvor.
»Ganz so gut wie früher kann ich es aber leider nicht mehr«, fügte er mit einem Tonfall echten Bedauerns hinzu.
Gina betrachte sich selbst. Die Schusswunde sah noch übler als zuvor aus. Aber viel wichtiger war: Wie alt sah sie jetzt aus? Sie betrachtete ihre faltigen Hände und wollte es gar nicht mehr wissen.
Hatte ihr erbärmlicher Anblick seinen Tick ausgelöst? Oder ihr dämlicher Versuch, ihn auf den Wanderer zu hetzen? Vermutlich beides, aber das war jetzt egal, sie war nicht ausgelöscht worden, und das war die Hauptsache.
Ihr Meister schwebte noch immer auf einer Woge des Glücks, als er sich zum Gehen wandte.
»Ich gehe wieder zurück, meine Teuerste«, sagte er. »Um deine Feinde wirst du dich selbst kümmern müssen.« Der Todesengel drehte sich um und ging raschen Schrittes zum Weltentor.
[Ich wünsche, erlöst zu werden.]
Er fuhr zusammen, als hätte ihm jemand einen heftigen Schlag versetzt. Das Schönbild, hinter dem er sich verborgen hatte, zerbrach und enthüllte seine wahre Gestalt. Kein strahlender Engel, nein, ein uralter Mann mit silbernem, schulterlangen Haar, der in einen scharlachroten Umhang gekleidet war. Er wandte sich Gina zu. In seinen Augen stand die blanke Angst geschrieben.
»Himmlische Heerscharen!«, rief er aus. »Was war denn das?«
»Vielleicht der Wanderer, Meister.«
»Wenn er das wirklich war, wieso sind seine Kräfte dann so rasant gestiegen?« Sein faltiges Gesicht mit den leeren Augen war vor Schreck kalkweiß geworden.
»Wer sollte es sonst sein?«, gab sie zurück.
Er nickte und lenkte seinen Blick gen Wüste. »Geh nach Nebenan, Gina, ich werde mich derweil um den Irren kümmern. Ich glaube, der Wanderer wird froh darüber sein, dass ich mich seiner annehmen werde. Er wird bald gewesen sein.«
Ihre Miene hellte sich auf. Nach all den Jahren, die sie schon auf dieser Welt wandelte, hatte er es ihr endlich erlaubt, eine andere zu betreten!
»Ich danke Euch, Meister.«
Sie erhob sich stöhnend und humpelte auf das schimmernde Weltentor zu. Was würde sie auf der anderen Seite erwarten? Eine Hochzivilisation? Die Steinzeit? Oder eine dieser seltsamen Welten, in denen alles möglich schien? Egal, was kommen würde, sie freute sich darauf.
***
Der einsame Wanderer marschierte durch die Nacht, und sein Erlöser folgte ihm.