Die Wildmoserin
Die Wildmoserin lebte in einem heruntergekommenen, kleinen Häuschen mit klappernden, grünen Fensterläden mitten in der Stadt.
Es wollte so gar nicht zu den modernen Glaskomplexen mittelgroßer Firmen und den Reihenhäusern passen, die das Zuhause der alten Frau regelrecht umzingelten. Aber auch die Wildmoserin selber gehörte - nach der Meinung der anderen Menschen in dieser Gegend - nicht hierher. Diese Leute hatten ein klein wenig Angst vor der exzentrischen Person in ihrem unpassenden Heim. Doch sie gaben es nie zu. Genauso wenig wurde die Dame als Hexe bezeichnet, obwohl jeder an dieses Wort dachte, wenn er sie sah. Aber die Leute waren sich zu fein, um irgendetwas zu sagen. „Wir sind schließlich zivilisiert und kultiviert. Die Lebensgewohnheiten anderer Leute gehen uns nichts an!“ sagten sie.
Wenn die Wildmoserin mit ihrem dicken Mantel und dem Fuchsschal ihren Handrollwagen spazieren führte, standen die Frauen in ihren Reihenhäusern an den Fenstern und verfolgten interessiert wohin sie ging. Und auf der anderen Seite schauten die Männer aus dem Glaskomplex der Firma in der sie arbeiteten und verfolgten ebenfalls jeden Schritt der alten Dame. Obwohl jeder genau wusste, dass sie Anfang der Woche zuerst auf dem Markt ein frisch geschlachtetes Hühnchen und ein Pfund Sauerkraut kaufte, danach an einem Kiosk die Zeitschriften nach Berichten über Ufos und andere unerklärliche Phänomene durchsuchte und am Ende ihren Rollwagen mit fünf Flaschen Kräuterschnaps aus dem Supermarkt belud. Diese Stammroute war ihren Nachbarn längst bekannt. Man erwähnte beiläufig seine zufälligen Beobachtungen und so ergaben die Erzählungen verschiedener Nachbarn diese Route. Und sie passte zu dem Bild, dass sie sich gemacht hatten. Sie passte so wunderbar zu der alten Frau, die so ganz anders war als die zivilisierten Menschen um sie herum, dass es einfach richtig erschien. Was sie den ganzen Tag in ihrem Haus machte, darüber war freilich weniger bekannt. Doch der Sohn eines Glaskomplex-Abteilungsleiters hatte wohl schon öfter durch das Fenster gesehen, wie sie drinnen in einem großen Schaukelstuhl saß, Kräuterschnaps trank und sich deutlich hörbar mit jemanden unterhielt, der gar nicht da war. Manchmal kamen auch Leute zu ihr. Sie würde „Karten legen und die Zukunft voraussagen“ meinte eine Nachbarin. „Humbug, sollen diese Leute darauf hereinfallen, die zu ihr gehen. Selbst schuld!“ meinte eine andere.
Und eines Tages stand ihre Todesanzeige in der Zeitung. Die Nachbarn waren sehr betroffen und bedauerten in der Öffentlichkeit, dass die freundliche Dame von neben an so plötzlich von dieser Welt gehen musste.
Eine Woche später klingelte es an der Tür des direkten Nachbarn, des Glaskomplex-Abteilungsleiters. Ein junger, gutaussehender Mann stand davor und stellte sich als Ludwig Wildmoser vor. Die Nachbarn seiner Mutter baten ihn perplex hinein und er begann zu erzählen. Sie sei halt schon alt gewesen, seine Mutter. Aber immerhin konnte sie noch wöchentlich selber ihre Einkaufsrunde machen. Zuerst ein bisschen Obst auf dem Markt kaufen, danach die Tageszeitung besorgen und sich an der Ecke noch ein Gläschen warmen Kräuterschnaps genehmigen. So oft habe er und seine Frau die alte Dame auch nicht besuchen können. Aber fast täglich telefoniert hätten sie. Ein Glück, sagt er, dass es die Freisprecheinrichtung gibt. Die Mama hätte den Hörer nicht solange halten können. Sie sei halt ein bisschen exzentrisch gewesen in ihrer Kleiderwahl!
Die Nachbarn winkten ab.
Exzentrisch?
Doch nicht die alte Wildmoserin!
Gott habe sie selig!