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Die Winterreise
"Weißt du, was ich mich frage?"
Bernd durchkramte den Seesack nach einem bestimmten Ladekabel und gab mit einem Brummen Auskunft über das Ausmaß seines Interesses.
"Ich frage mich, wie viele Menschen gerade in Prager Hotelzimmern herumhängen und sich im Internet Bilder von Prager Sehenswürdigkeiten ansehen."
Als Jana begriff, dass mit keiner weiteren Reaktion zu rechnen war, schraubte sie das Lackfläschchen zu und griff, soweit sich das aus den Augenwinkeln erkennen ließ, nach dem Buch. Sie summte vor sich hin und tat, als verstünde sie jedes Wort. Bernd war unklar, wie er die neuentflammte Liebe zur Muttersprache ihrer Mutter einordnen sollte, auch wenn es die letzten Tage praktisch gewesen war, wenn sich wirre Buchstabenfolgen wundersamerweise und je nach Bedarf in geschmorte Gänsekeulen, alkoholische Getränke oder fette Mehlspeisen verwandelten. Er wusste hingegen mit Sicherheit, dass es kompletter Schwachsinn gewesen wäre, in einem Hotelzimmer von der Größe eines begehbarem Wandschranks, das nur ein vollendeter Zyniker als "Honeymoon-Suite" vermarkten konnte, Nerven zu zeigen. Auch wenn es nach drei Tagen Städtetourismus immer gute Gründe dafür gab. Da war ja das Kabel! Er steckte es in die Dose und betrachtete mit Befriedigung die Ladeanimation oben rechts am Bildschirm. Nicht einmal im Internet machte er sich viel aus Sehenswürdigkeiten, aber immerhin gab es dort keine Warteschlangen, keinen Eisregen und kaum Tschechen.
Nachdem er sich über das Anwachsen des Akkusymbols genug gefreut hatte, klappte er den Bildschirm hinunter und versuchte an etwas anderes zu denken, zum Beispiel wann sich dieses Brummen und Summen in ihr Beziehungsvokabular eingenistet hatte. Bevor oder nachdem er ihr den Ring über den Finger geschoben hatte? Zweifellos war es ein Zeichen tiefer Vertrautheit. Und nicht unpraktisch, denn man konnte es schon jetzt, im ersten Ehejahr, als Synonym für fast alles verwenden.
Sie las summend und selbstvergessen, und er griff nach einem Taschentuch, um noch einmal in Erinnerung zu rufen, warum er bei gefühlten fünf Grad unter Null nicht persönlich auf den Hradschin stapfen wollte. Tatsächlich löste sich ein wenig Rotz von der Nasenscheidewand. Das Papierknäuel sprang vom Rand des winzigen Mülleimers, was Jana mit einem Sekundenlächeln zur Kenntnis nahm. Die Erkältung hatte er sich im Zug zugezogen, daran bestand kein Zweifel, auch wenn der Beginn, wie bei so vielen Dingen, im Dunkeln lag. Während des endlosen Aufenthalts in Brünn musste er eingeschlafen sein. Der Schlaf hatte ihm nach einer durchgearbeiteten Nacht im Büro gutgetan, doch das Quietschen der Bremsen pfiff ihn viel zu früh zurück in die Realität. Als das Abteil mit dem unangenehmen Ziehen der Entschleunigung zum Stillstand kam, kippte sein Kopf gegen die speckige Nackenstütze, und er war hellwach. Neben seinem Fensterplatz stieg aus fruchtsaftverklebten Metallschlitzen ein schwacher Luftzug, der nach Apotheke roch. "Nádraží Holešovice", schnarrte eine Frauenstimme, aber es wäre nicht notwendig gewesen, er sah die Wörter bereits draußen am Bahnsteig. Aggressive Hatscheks bildeten eine Stacheldrahtzone über einem soliden Wall von Konsonanten. Als er sich räusperte, bemerkte er das Kratzen im Hals.
Es war ihre erste gemeinsame Reise, seit sie die goldenen Ringe trugen. "Warst du schon mal in der Goldenen Stadt?", hatte ihm Jana eines Abends beim Zubettgehen ins Ohr geflüstert. Er war damals nicht in der glücklichen Lage, ihr einen Wunsch abzuschlagen, nicht nachdem er die richtige Hochzeitsreise wegen der Agentur zweimal verschoben hatte. Also hatte er verneint – er wäre noch nie in Prag gewesen, und das galt als klare Zusage. Dabei war schon November. Eine Hochzeitsreise im Winter, das war wie ... ja, was? Er fand keinen Vergleich, der seinen Texter-Ansprüchen genügte. Es wäre ja nicht die richtige Hochzeitsreise, beruhigte sie ihn, bloß ein Städtetrip (ein Wort, das unweigerlich rote Warntafeln in sein Hirn zauberte), zugleich eine Reise in ihre Biografie, denn in Prag war sie zur Welt gekommen, und so etwas prägt, auch wenn man sich später an nichts mehr erinnern konnte. Sicher war es die Idee seiner Schwiegermutter gewesen, sich die aufgelaufenen Zinsen für Bali in Form eines Kurzurlaubs auszahlen zu lassen. Er selbst war fünfunddreißig Jahre ohne schlimme Touristenfallen ausgekommen und – wenn es nach ihm gegangen wäre – gerne auch fünfunddreißig weitere. Aber der Zug war nun einmal abgefahren und man musste das Beste daraus machen, so wie es in einer Ehe üblich war.
Jana überprüfte den Trocknungsprozess der Nägel und reichte ihm wortlos das Buch hinüber. Gut möglich, dass es sich um einen Loyalitätstest handelte. Sicherheitshalber würde er ein wenig darin blättern, bevor er es zur Seite legte. Die Auswahl des Besichtigungsprogramms durfte nicht allein auf ihren Schultern lasten, das hätte nach Sowjetdiktatur ausgesehen. Sie hatten die Reise beide gewollt, das Ziel gemeinsam ausgesucht – so die offizielle Sprachregelung. Städtereisen waren die brutalste Form von Teambuilding überhaupt. Ein rotes Band war irgendwo im ersten Drittel eingeschlagen, zufälligerweise die Seite mit der Burganlage. Der Illustrator hatte sie in didaktischer Absicht wie eine Hochzeitstorte aufgeschnitten, um alle Hauptattraktionen freizulegen: die Sankt Georgs-Basilika, den Spanischen Saal, den alten Königspalast, das Ballhaus und, alle Gebäude überragend, den Veitsdom. Dazwischen schlängelte sich das Goldene Gässchen, das Palast und Kirchen miteinander verband. Der Hradschin wurde auf einem siebzig Meter hohen Hügel erbaut, und ist die weltweit größte Anlage seiner Art, hatte Bernd zuvor im Internet gelesen. Bislang war es ihm gelungen, sich dieser ultimativen Strapaze erfolgreich zu widersetzen, doch heute würde er sich besonders ins Zeug legen müssen. Es war die letzte Gelegenheit, die Mutter aller Sehenswürdigkeiten abzuhaken, am Abend würden sie ihre Koffer packen und den Nachtzug nehmen.
Bevor er in Ruhe eine Verteidigungsstrategie ausarbeiten konnte, sprang sie auf seinen Schoß, schlang einen Arm um seinen schmerzenden Hals und wies auf die Bildlegende. „Auf einem Hang über der Moldau hatte Prinzessin Libussa eine Vision: ’Hier sollst du eine Burg bauen’, verkündete sie ihrem königlichen Gemahl." Jana übersetzte den Satz ganz mühelos, aber irgendwie störte ihn der andächtige Klang ihrer Stimme, und wie sie sich wieder mal ins Zeug legte, ihr Reiseziel genialer zu finden als er.
"Weißt du, was ich ihr verkündet hätte? – Warum baust du sie nicht selber?"
Keine Ahnung, warum Jana es nicht lustig fand. Seit sie in Tschechien waren, schien sie alles persönlich zu nehmen. Als trüge sie für das Land, das ihre Dissidenteneltern abgeschoben hatte, eine besondere Verantwortung. Schon gestern war ihm das aufgefallen, als sie ihm eine Bronzetafel unter die Nase rieb, die daran erinnerte, dass die Deutschen zwölftausend Tschechen umgebracht hatten. Unwillkürlich fühlte er sich als Abkömmling der Besatzerkultur, während sie das kleine Mosaiksteinchen dankbar annahm, um daraus eine weitere Facette ihres multikulturellen Egos zu basteln.
Er blätterte weiter, doch auch die nächste Doppelseite und die danach waren voller Hradschin.
"Bist du sehr krank, mein Schatz?"
"Ich bin kein Arzt, aber ich habe mich schon besser gefühlt."
"Glaubst du nicht, dass eine Dombesichtigung dir gut tun würde?"
"Warum? Wir sind nicht in Lourdes."
"Oder der alte königliche Palast? Hier steht, er ist geheizt."
Bernd dachte an die Metallschlitze im Zugabteil und brummte so neutral wie möglich.
Die Umarmung wurde ihm ehrlich gesagt unangenehm, sie raubte ihm ein wenig die Luft zum Atmen. Ok, vielleicht hatte er ein Problem mit Nähe, geschenkt. Aber manchmal, man konnte es nicht anders sagen, hatte sie ganz entschieden etwas Krakenhaftes. Und drückte sich der Hang zur Einverleibung nicht auch in dieser unstillbaren Gier nach Sehenswürdigkeiten aus? Man konnte nie in Ruhe herumschlendern, immer zeigte der ausgestreckte Finger auf das Detail einer rußgeschwärzten Fassade oder eine unverständliche Inschrift. Dazwischen schoss sie unzählige Fotos von Straßenkünstlern oder, wenn nichts besseres in Sicht war, ihm selbst, dem frierenden Gatten, der sich zwischen betrunkenen Engländern und quasselnden Erasmusstudenten durch enge Gassen presste und für die Freunde zu Hause ein tapferes Lächeln aufsetzte.
Er drehte sich zur Seite, um die Luftröhre freizukriegen, aber es klang wie die billige Imitation eines Hustenanfalls. Es wäre schön gewesen, ins Bett zu fallen und eine Stunde zu schlafen, eventuell auch vier oder fünf, und nichts von dieser Stadt zu sehen, die hier in der Neustadt keinesfalls golden, sondern eher hellgrau war – wie die Sauce, die man über jedes böhmische Knödelgericht goss.
Draußen vor dem Fenster ließ sich ein riesiger Greifvogel auf einer Antenne nieder. Ein Falke, vielleicht sogar ein Adler. Zweifellos eine Sehenswürdigkeit die man gelten lassen konnte, auch wenn er gerade keine Lust hatte, sie mit irgendjemand zu teilen. Vielleicht war er aus einem Zoo entkommen? Er würde es nicht leicht haben in der Freiheit, die er sich wahrscheinlich ganz anders vorgestellt hatte. Sie klopfte ihm auf den Rücken, denn nun hatte auch sie den Vogel entdeckt, doch er nutzte die Unachtsamkeit sofort, um sich aus der Umklammerung zu befreien und endlich das Buch auf das Tischchen hinüberzuschleudern, wie er es sich vorgenommen hatte – nur dass es über die eisglatte Marmorplatte hinausschlitterte und zu Boden fiel. Als Bernd sah, wie das Buch unnötig spektakulär mit verbogenen Seiten dalag, wusste er, dass der Moment gekommen war, den sie beide so lange hinausgezögert hatten. Ganz kurz war es angenehm gewesen, das schlechte Gefühl loszulassen wie einen zurückgehaltenen Urinstrahl, doch noch bevor sie aufsprang, flutete ein Schwall von Reue seinen roten Kopf. Ihr kleines Kinn biberte tapfer. Manchmal gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten, aber diesmal drehte sie sich von ihm weg und verschwand im Badezimmer. Immer wieder überraschte ihn die Wucht der Scham, die sich vor ihm auftürmte, sobald er sie zum Weinen brachte. Eine kleine Fehlprogrammierung seines Bewusstseins, die zum Unglück seines Alltags ihren Teil beitrug.
"Jana …"
Das Bad war neben dem winzigen Koffer- oder Kinderzimmer das einzige Rückzugsgebiet der Suite. Er atmete zweimal ganz langsam, während sich sein Herzschlag widersinnigerweise beschleunigte. Dann griff er nach dem Buch und legte es zurück auf das Nachtkästchen. Vielleicht war das die Undo-Taste, mit der sich das Ereignis ungeschehen machen ließ. Als er vor dem verriegelten Badezimmer stand und noch einmal ihren Namen aussprach - diesmal zärtlicher, schuldbewusster – klirrte etwas auf der anderen Seite der Tür, vermutlich ein in Klarsichtfolie eingeschweißter Zahnputzbecher, der neben dem üblichen Seifenpäckchen und der Shampootube vergeblich auf seinen Einsatz gewartet hatte und nun in tausend Glassplitter zersprang. Er hätte eigentlich auf Plexiglas getippt.
"Jana mach auf. Bitte!"
Keine Reaktion.
"Jana?" Fast flüsterte er.
Anstatt einer Antwort hörte man, wie jemand den Wasserhahn aufdrehte. Während sich die Badewanne langsam füllte, versprach Bernd einer namenlosen Macht, sich nie wieder über Hotelplastikbecher zu beschweren, auch wenn jeder Schluck daraus nach Medizin schmeckte. Er hörte, wie jemand in die Wanne stiegt. Danach war es lange still. Sehr lange. Konnte man sich mit den Scherben eines Zahnputzbechers die Pulsadern aufschneiden? Nur weil jemand nicht auf den Hradschin wollte? Er schüttelte den dämlichen Gedanken aus seinem Kopf. Prag: Halloween statt Honeymoon. Ganz plastisch stand die Schlagzeile vor ihm, dann starrte er wie sinnlos auf die Uhr und überlegte, wie er sich am besten für seinen Fehler bestrafen konnte. Als der Sekundenzeiger eine Runde gedreht hatte, war er weich.
"Schatz? Wenn wir wirklich auf die Burg wollen, sollten wir nicht zu lange warten. Es ist schon fast vier."
Stille. Er presste ein Ohr an die Tür. Noch mehr Stille. Dann stieg jemand aus dem Blutwasser und trocknete sich ab. Hörte er tatsächlich ein leises Summen, oder war es sein eigener Tinnitus? Sie konnte jede Sekunde die Tür öffnen, besser er verließ seinen Horchposten und legte sich auf das Bett. Das Buch mit der Hradschin-Illustration lag geglättet und griffbereit neben ihm.
Als sie in die Kälte hinausstapften, folgten ihnen kleine Rauchfahnen Atemluft wie treue weiße Pudel. Der Eisregen hatte stark nachgelassen. Nur in der Nähe der Laternen konnte man erkennen, wie sich die Splitter grausam in ihre Herbstjacken bohrten. Den Engländern von gestern war das Wetter egal, nur die Einheimischen duckten sich unter ihre Regenschirme, darunter wunderschöne, in hässliche Mäntel verpackte Tschechinnen, die er im Moment nicht genauer anzusehen wagte.
"Tut es noch sehr weh?"
Bernd knetete die kalten Fäuste. Ich darf einfach nicht aufhören, sie zu lieben, dachte er. Niemals. Dann machte er probehalber ein paar Schluckbewegungen und brummte.
"Du hättest gestern vielleicht nicht die drei Biere trinken sollen. Am Abend hat dir der Hals noch nicht so weh getan."
Bernd schloss einen Zusammenhang nicht aus, aber die Biere waren eine natürliche Reaktion auf die vorausgehende Besichtigung des Wenzelsplatzes gewesen, der ein einziger gigantischer Weihnachtsmarkt war, und sie wusste, wie er zu Weihnachtsmärkten stand. Dann tauchten sie ab in die U-Bahngedärme der Stadt und überließen sich den Werbeplakaten, die – wie überall auf der Welt – die grauen Gesichter der Fahrgäste mit ihrer Fröhlichkeit stumm verlachten. "Winterova", sagte Jana, als sie an einer eisüberzogenen Erdkugel vorbeifuhren, die wie ein gigantischer Schnellball durch das Weltall segelte und für Fernwärme warb.
"Bitte?"
"Wenn wir hier leben würden, hieße ich Jana Winterova."
"Gefällt mir. Klingt irgendwie … sexy und willig."
"Ah, der Experte spricht."
Das war auch so eine Sache. Ab und zu ließ Bernd sie spüren, dass er ein Geschlechtsleben gehabt hatte, bevor sie in sein Leben trat. Doch diese Zeit entglitt ihm, und langsam verloren die Frauennamen, die dem ihren vorausgegangen waren, ihren Klang. Irgendwann würde es sich so anfühlen, als wäre von einem anderen Bernd W. die Rede, wenn er an alte Liebschaften dachte. Aber noch etwas hatte sich verändert und verdarb ihm den Spaß an seinen Erinnerungen. Früher hatte so ein Frauenname einen Funken Eifersucht freigesetzt, nicht selten musste er Jana dann umarmen und trösten oder mit einem Kuss die keimende Krise ersticken. Wann war sie dazu übergegangen, seinen Erzählungen mit betontem Wohlwollen zu begegnen, zerstreut wie eine Krankenschwester, die am Pflegebett eines Greises alte Kriegsgeschichten abnickte? Es war, als hätte der Ring an seinem Finger sie auch gegen solche Gefühle imprägniert. Er betrachtete ihn kühl, während sie ihrem Ziel entgegenrüttelten. Das letzte Mal hatte er ihn im Sommer abgenommen, als er seinem Schwiegervater bei der Gartenarbeit half. Beim Händewaschen hatte ihn der weiße Hautring darunter erschreckt, irgendwie störte es ihn, dass eine Stelle seines Körpers nun für immer im Dunklen lag. Aber es lag ja noch viel mehr im Dunklen. Etwa, dass es auf der ganzen Welt niemandem gab, der ihm sagen konnte, ob sie wirklich, wirklich die Richtige war – niemand, außer diesem stummen Goldring an seinem Finger.
Sie stiegen an der Malostranská aus und stapften die Alte Schlossstiege nach oben. Siebzig Höhenmeter, dachte Bernd. Er würde ins Schwitzen kommen. Erst würde ihm heiß werden, dann, in der Warteschlange, würde der Schweiß rasch abkühlen. Das feuchte Hemd, ein kalter Luftzug, und die Lungenentzündung war perfekt. Er zwang sich, langsam zu gehen. Hier, am Fuß des Berges, gab es jede Menge Touristenfallen, die zum Verweilen einluden. Grüne Lichter fielen durch die Butzenscheiben und erinnerten ihn an den Bierkeller, den sie gestern besucht hatten. Er bat sie, stehenzubleiben.
"Und wenn wir vor der Besichtigung eine Kleinigkeit essen? Eine heiße Suppe wäre jetzt genau das Richtige für meinen Hals, glaub ich."
Jana sah ihn skeptisch an, doch sein rotes Gesicht, und die Schweißtropfen auf seiner Stirn schienen sie von der Redlichkeit seiner Absichten zu überzeugen.
Es gab weder Suppen noch Sitzplätze. Aber an einem riesigen Bierfass servierte man ihnen im Stehen Kamillentee und Camembert im Essigglas – eine Prager Spezialität, die wie ein medizinisches Präparat aussah. "Schmeckt viel besser mit Pilsner", sagte der Kellner auf Deutsch, und Bernd betrachtete ihn mit unverhohlener Feindseligkeit. Er beugte sich beim Abbeißen weit vor, um sein sauberes Hemd nicht zu gefährden, und tatsächlich zog Jana rasch ihr Smartphone und schoss ein Foto. Immerhin gewann er eine Viertelstunde.
Draußen war es kälter als je zuvor. Ein Trupp Jugendlicher kam ihnen entgegen. Sie waren in einem Alter, wo man sich gerade mal warmgefeiert hat und ganz in dem Glauben lebt, dass einem die Welt gehört. Wenn sie Glück hatten, dachte Bernd, trennte jeden noch ein volles Jahrzehnt von dem furchtbaren Befund, der Älteste im Club zu sein. Hoffentlich hatte jeder dann einen Partner, den er dazu überreden konnte, gemeinsam erwachsen zu werden. Er spürte eine unüberschreitbare Linie und erschrak – es war nicht das erste Mal – bei dem Gedanken, dass sich sein eigenes Leben nicht mehr entscheidend ändern würde.
"Die haben alles noch vor sich", sagte er.
"Hättest du das gerne?"
"Hmm?"
"Dass du alles noch vor dir hast?"
Bernd schüttelte den Kopf und deutete auf den Hradschin über ihnen.
"Manches hätte ich lieber schon hinter mir."
Er war dankbar, dass sie den Witz diesmal akzeptierte, auch wenn sie ihm so fest in die Seite boxte, dass ihm fast die Tränen kamen.
Schon nach wenigen Schritten trieb ihm der heiße Tee den Schweiß aus den Poren. Und doch war es ganz gut, hier zu gehen. Der Lärm der Jugendlichen lag hinter ihnen, und von oben kamen kaum noch Lemminge entgegen. Hier war Prag irgendwie so, wie es die Reiseführer und Broschüren versprochen hatten. Der Eisregen wurde zu Schnee und bezuckerte die Zinnen der Burg. Jede Stadt hatte ihre Jahreszeit, und Prag bedurfte offenbar dieser feuchten Novemberkälte, um zu seiner wahren Form aufzulaufen. Die Häuser entlang des Weges waren von den Jahren und Abgasen fast schwarz, im Halbdunkeln wirkten die vergitterten Fensterchen unheimlich und anheimelnd zu gleich, wie die Kulisse eines harmlosen Horrorfilms. Das Setting passte irgendwie zu seinem Gesundheitszustand. Diesmal klang der Husten echt. Wie alt war eigentlich Kafka geworden?
Hinter der letzten Kehre öffnete sich die Gasse zu einem Platz, die Rückseite ein schmiedeeisernes Tor, an dem vor allem auffiel, dass es geschlossen war. Diesmal benötigte er keine Übersetzung, die Stadtverwaltung hatte es mehrsprachig auf die elektronische Leuchttafel geschrieben: HRADSCHIN GESCHLOSSEN. Darunter, etwas kleiner, liefen Konsonanten in Endlosschleife über das Leuchtband.
"Was heißt das, Schatz?"
"17. November. Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie."
Er beobachtete, wie ihre Augen sich weiteten, und wieder einmal wartete er auf das vertraute Schimmern, das den Tränenfluss ankündigte. Aber nichts passierte. Vielleicht war es einfach zu kalt zum Weinen. Bernd berührte mit ihr das kalte Schmiedeeisen, das sie von der Burganlage trennte.
"Es soll eben nicht sein."
"Nicht um die Burg!", sagte Jana weinerlich und begann widerwillig zu lachen, als wäre sie überrascht vom eigenen Humor. Er griff nach ihrer Schulter und zog sie zu einer Nische, die von einer Marienstatue bewacht wurde. Mit Ausnahme einer fehlenden Hand hatte sie es unbeschadet durch ein gottloses Jahrhundert geschafft. Dort standen Bernd Winter und Jana Winterova ein paar Minuten eng umschlungen und relativ windgeschützt, während ihre Schals hinter ihrem Rücken im Schneeregen tanzten.
Der Rückweg war angenehmer als der Aufstieg. Auf halber Höhe drehte Bernd sich noch einmal um, und war beinahe hingerissen von der Schönheit der Stadt. Unter ihnen lag der glitzernde Moloch im Nachtnebel der Moldau, oben ragte die mit tausend Scheinwerfern für zehntausend Touristen bestrahlte Burg aus dem milchigen Meer.
"Es war ganz gut, dass wir hier waren."
Solange sie als einzige die Schlossstiege hinab gingen, waren die über die Ränder der Stadt hinauswuchernden Plattenbauten, die halbfertigen Bürogebäude und die hektischen Stadtautobahnen unsichtbar und vergessen. Das meiste, was dort draußen entstand und verging, dachte Bernd, war hässlich und nicht der Rede wert, während hier oben seit Jahrhunderten alles gleich blieb. Er hatte die Burg zwar nicht gesehen, aber ihre geheime Botschaft begriffen. Die Burg war ein Denkmal der Dauer, in guten wie in schlechten Tagen, vor allem aber am Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie – der zufällig auch der Tag der einsamen Touristen war. Wie dieses neblige Monstrum da unten seinem eigenen Wahrzeichen nicht das Geringste anhaben konnte, das war durchaus sehenswert. Sie nahmen die Brücke über die Moldau. Unten spiegelten sich die Laternen, und das Wasser war so ruhig, dass ihnen die schaukelnden Lichter der Burg noch einmal wie eine Verdoppelung entgegenleuchteten.
Er stemmte den Seesack in die Gepäcksablage und schüttelte fröhlich zwei Aspirin aus der Seitentasche seiner Jacke. Die Krankheit begann ihm zuzusetzen, das Fieber stieg, aber wen kümmerte es. Die Rückkehr gehörte zu den Höhepunkten jeder Reise. Schnaubend wie ein alter Mann unter der Dusche wackelte der Zug aus dem Bahnhof und nahm langsam Fahrt auf. Links und rechts ein Dutzend Gleise, dann nur noch sechs, drei. Der Triebwagen beschleunigte, auch wenn man noch mitten in Prag war. Die Trasse verlief hoch in dieser Gegend und gab den Blick frei auf beleuchtete Betongerippe, von denen sich in der Dunkelheit nicht sagen ließ, ob es sich um halbfertige Rohbauten oder fertige Parkhäuser handelte. Die Vorstadt knirschte unter der unverwechselbaren Quirligkeit einer Hochkonjunktur. Fieberhafte Betriebsamkeit, die seinen Schwiegereltern auch zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wie ein Wunder vorkommen mochte.
"Meine Mutter wird nicht glauben, dass wir drei Tage in Prag waren, ohne den Hradschin zu sehen." Janas Seufzen war die Klage eines Moslems, der es nicht geschafft hatte, die Kaaba zu besuchen.
"Aber es war trotzdem schön", sagte Bernd.
Plötzlich war er furchtbar milde gestimmt und furchtbar müde. Sie summte ihn in den Schlaf. Als er wieder aufwachte, lag Prag hinter ihnen. Jetzt schlief Jana. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, und sie waren durch einen dünnen Speichelfaden verbunden. Er dimmte über ihrem Kopf das Licht und zugleich die Hässlichkeit des postsowjetischen Liegewagens. Er war das Relikt einer Epoche, die bravourös daran gescheitert war, aus Plastik, Plüsch und Lederimitat dem Volkswohl verpflichtetes Mobiliar herzustellen. Wer hätte gedacht, dass seine Frau diesen Retroramsch eines Tages schick finden würde.
Sie fuhren durch freie Landschaft. Es war nun wirklich Winter geworden. Ein See war kurz sichtbar, dann ein ausgedehnter Nadelwald, so schwarz, als trüge er ein dunkles Geheimnis. Über ihnen ein unwirklich fahler Himmel, in dem ein paar Nachtwolken still standen wie in einem Schnappschuss. Ein armes Dorf, eine Siedlung, klirrende Sterne an den Fenstern. Er sah sich alles an und kehrte dann zu seinem Notebook zurück. Im Hotel hatte er aus Langeweile einen Bilderordner mit den wichtigsten Prager Sehenswürdigkeiten angelegt. Er scrollte durch die Pics und fasste den Entschluss, eine Nachtaufnahme des Hradschin als Bildschirmschoner einzurichten. Nicht als Provokation, wie sie später vielleicht glauben würde, sondern weil das Foto wirklich sehr hübsch war.