Die Zeichnung des kleinen Philip
Abraham erwachte früh am Morgen.
Nackt stand er vor dem grossen Fenster. In seiner Hand eine Tasse warmen Kaffe. Er blickte hinunter auf den Marktplatz. Niemand war zu sehen. Die Menschen lagen noch in ihren Betten, schliefen, träumten. Einige Vögel nahmen ein Morgenbad im Brunnen und die Sonne warf ihre ersten Strahlen über die Dächer. Abraham genoss die Stille des Morgens, sah den Wolken zu, wie sie langsam über die Stadt zogen und lauschte der zarten Frauenstimme im Radio, die voll Sehnsucht über eine verlorene Liebe sang. Er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und glaubte sicher zu wissen, dass dies ein guter Tag werden sollte.
Die Frauenstimmte verstummte und es ertönten die Morgennachrichten.
Ein Mann verlas die üblichen Warnungen für Fliegerangriffe, Bombardements, Frontberichte und weitere Kriegsnachrichten. Es folgte eine weitere Warnung. Der Feind stehe wenige Kilometer vor der Stadtgrenze. Es würde an diesem Tag zu schweren Gefechten kommen, die Bevölkerung solle sich ruhig verhalten und zur Sicherheit vorhandene Luftschutzbunker aufsuchen.
Dumpfe Stimmen hörte Abraham unter sich, lauter, immer lauter werdend. Etwas ging zur Bruch.
Kurz darauf sah er seine Nachbarin auf die Straße laufen, auf ihrem Arm einen weinenden Jungen, an der Hand ein kleines Mädchen, das nur mit Muhe den großen, eiligen Schritten der Mutter folgen konnte. Die Frau riss die Tür des Autos auf, stopfte ihre Kinder auf die Sitzbank. Nun kam der Vater auf die Strasse, bepackt mit Koffern stolperte er zum Fahrzeug. Kurz darauf heulte der Motor auf und das Auto verschwand am Ende der Straße. Jeder würde versuchen, diesen Ort zu verlassen, dachte Abraham, sich zu retten, koste es, was es wolle, denn, so war es jedem bewusst, die Stadt würde an diesem Abend in Flammen untergehen. Der Tod kreiste um die Stadtmauern und würde mit jeder verstrichenen Stunde engere Kreise ziehen.
Wenig später schob Abraham sein Fahrrad über den Marktplatz. Überall standen Menschen, die wild miteinander diskutierten, eilig ihrer Wege zogen, sich umarmten, weinten. Sie tauschten sich aus, beruhigten sich.
Manche handelten, suchten sich im Tauschgeschäft eine Mitfahrgelgenheit aus dieser Stadt, in ihren Taschen Diamanten, Goldketten, Geldscheine und andere Gegenstände, die noch für irgendwen von Wert sein könnten. Ihre Gesichter trugen aufgerissene Augen, weit geöffnete Münder.
Nach weiteren hundert Metern stieg Abraham auf sein Rad. Er schaute auf seine Armbanduhr. Um 8 Uhr würde der Schulunterricht beginnen. Abraham blieben noch 15 Minuten.
Auf dem Schulhof war kein Mensch zu sehen. Abraham stellte sein Fahrrad ab und ging zum Eingang. Die Tür war offen. Er lief durch leere Gänge, seine Fußtritte halten bist unter die hohen Decken. Er offnete Türen und fand verlassene Räume. Im Lehrerzimmer war es dunkel, auch hier niemand. Schließlich saß er in seinem Klassenzimmer vor dem Lehrerpult. Vor ihm leere Stühle, leere Tische. Es war 8.00 Uhr. Auf einmal Schritte auf dem Gang. Der Herr Direktor “Kohlberg” trat zur Tür herein. Auf seiner Stirn stand Schweiß und entsetzt vernahm er Abraham. “Heer Kotscham! Was zum Teufel machen Sie hier? Sehen Sie zu, dass Sie dieses Gebäude verlassen. In einer halben Stunde nistet sich hier die Armee zur Verteidigung ein. Dann steht hier alles unter Beschuss. Gott schütze Sie!” Er drehte sich um und verschwand im Gang. Kurz darauf startete draußen ein Motor und ein Auto raste am Fenster vorbei. Dann war wieder alles still. Abraham blieb ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Seine Blicke fielen durch den Klassenraum. An den Wänden hingen gemalte Bilder von den Kindern. Es waren Sonnenblumen zu sehen, spielende Kinder auf einem Rasen, lachende Kinder an einem See.
Und waren dies auch seine letzen Minuten als Lehrer, so dachte Abraham, konnte er doch guten Gewissens und in Frieden mit sich selbst sein, wissend, diesen jungen Menschen nicht bedingungslose Gefolgschaft, Disziplin gelehrt zu haben, nicht die Liebe zum Vaterland, nicht Misstrauen, keine Authorität. Und hatte er schwere Stunden voll scharfer Kritik an seiner Person, seiner Lehrerfunktion, Missgunst von Kollegen und Eltern, dunkelste Drohungen seitens des Schulleisters bis hin zum Bürgermeister. Und lebte er in einer Welt, die Ängste, Interessen und Bedürfnisse dieser jungen Menschen, die er täglich vor sich auf der Schulbank sitzen sah, ignorierte, verformte, so war es ihm doch auf seine Weise gelungen, die Kinder für das Leben zu begeistern, Regungen, Gesten der Menschlichkeit zu sehen, zu unterstützen.
Es war 8.10 Uhr, als er von seinem Stuhl aufstand und seine Tasche in die Hand nahm.
Plötzlich waren wieder Schritte auf dem Gang zu hören. Abraham glaubte, dass die ersten Soldaten eintreffen würden.
Es kam ein kleiner Junge durch die Tür, 1.35 groß, mit kurzer Hose und braunem Haar, in seiner Hand die Schultasche. Es war Philip. Seine Augen waren weit geoffnet und er starrte Abraham fragend an. ,, Aber Heer Kotscham, wo sind denn all die anderen Kinder? Haben wir denn heute keinen Unterricht?” Abraham ging einige Schritte auf den kleinen Jungen zu. In seinem Kopf suchte er eine Antwort.,, Nein Philip, heute ist kein Unterricht! Hat dich deine Mutter nicht zu Hause behalten?”Philip schüttelte den Kopf “Sie schlief noch, Herr Kotscham. Jeden Morgen stehe ich alleine auf, trinke eine heiße Schokolade und laufe zur Schule, jeden Morgen. Aber warum müssen wir denn heute nicht lernen?” Abraham bückte sich, seine Hände lagen auf den Schultern des Jungen, er guckte in seine großen Augen “Es ist Krieg und im Krieg lernen die Menschen nicht, im Krieg schließt die Schule.” Draußen tönten Motoren. Abraham stand auf, nahm den kleinen Jungen an die Hand. “Ich werde dich nach Hause zu deiner Mutter bringen”. Er wollte mit Philip gerade zu Tür hinaus, als Abraham wieder all die Zeichnungen der Kinder an der Wand sah. Er blieb stehen und fragte den Jungen, welches sein Bild sei. Philip zeigte auf eine bunte Zeichnung. Abraham näherte sich dem Bild und betrachtete es genau. Er sah eine grüne Wiese, einen blauen See, weiße Wolken und eine strahlende Sonne. Und dort unter einem dieser Bäume einen kleinen, lachenden Jungen, einen Ball zum Himmel werfend. Neben ihm im Gras hockte eine junge Frau mit braunem Haar und großen Augen, die aus einem Korb einen Kuchen hervorbrachte und auf seiner linken stand ein Mann, der fröhlich ihm zusah und mit ihm die Fische im Teich, die Frösche im Gras und die Vögel oben auf dem Baum- und alle schauten zufrieden und glücklich.
“Dies ist eine wunderschöne Zeichnung, Philip. Ich möchte, dass du sie mitnimmst und gut bewahrst” . Der Junge freute sich des Lobes, faltete die Zeichnung und steckte sie in die Knopftasche seiner Jacke.
Der kleine Philip saß auf der Stange des Fahrrads, hielt sich an den Armen von Abraham und schaute in den Himmel, seine Augen folgten den großen weiten Wolken. In der Ferne wirbelten Fahrzeuge Staub auf. Es waren die Soldaten. Abraham beschloss, einen anderen Weg zurück in die Stadt zu wählen. Er wollte durch ein kleines Waldstück fahren. Der Junge würde zu tiefst erschrecken beim Anblick der Panzer und Gewehre, dachte er. Auf dem Waldweg hatte Abraham mit Wurzeln und Steinen zu kämpfen und so sehr er auch mit aller Mühe in die Pedalten trat, kamen sie nur langsam voran. Sie passierten einen kleinen Teich. Auf einmal ein lauter Schrei aus dem Hintergund. Philip erschrak, seine Hände griffen sich in Abrahams Armen fest, so tief, dass es ihm weh tat. Vögel stiegen zum Himmel auf und der Schrei hallte durch den Wald. Abraham blieb stehen. “Nur ruhig bleiben”, dachte Abraham. Der kleine Philip presste seine Augen zusammen und drückte sich mit seinem Körper fest an Abrahams Bauch. Er zitterte vor Angst. Abraham drehte seinen Kopf in alle Richtungen. Niemand war zu sehen.
Dann tauchte ein Soldat hinter einem Baum hervor. Er gestikulierte wild mit seinen Armen und brüllte: “Sind Sie bescheuert. Wie können Sie mit dem Jungen hier durch den Wald fahren. Sie fahren durch die Schusslinie. Verschwinden Sie, so schnell Sie können!”
Etwas später erreichten sie das Haus des Jungen. Sie liefen gemeinsam durch das Treppenhaus. Abraham klopfte mit seiner Faust an die schwere Holztür. Nichts passierte.
“Vielleicht schläft sie noch”, murmelte der kleine Philip. Abraham musste an den Vater des Jungen denken. Er war vor vier Montaten an der Front gefallen. Philips Mutter saß in einer Sprechstunde heulend vor ihm, schrie vor Verzweiflung und beschuldgte Abraham, dass er nicht dort draußen sei. Vergeblich hämmerte er erneut an der Tür. “Frau Mussa, öffnen Sie die Tür. Hier ist Herr Kotschma und ich stehe hier mit ihrem Sohn”. Noch immer war es ruhig.
Plötzlich öffnete sich hinter ihnen eine Tür. Eine alte, stämmige Dame guckte zu ihnen hinüber.”Geben Sie mir den Jungen!”, sprach sie, “ich bin die Nachbarin!”. “Was ist mit seiner Mutter?”, fragte Abraham. “Frau Mussma hat ein Alkoholproblem. Sicherlich ist sie auf der Suche nach einer neuen Flasche. Mein Mann und ich werden den kleinen mit in einen Luftschutzbunker nehmen, dort ist er sicher!” Abraham bückte sich zu dem kleinen Philip hinunter, guckte in seine Augen und fragte mit unruhiger Stimme:,, Willst du das Philip? Möchtest du bei dieser Frau bleiben? Du kannst auch mit mir kommen!” “Es ist gut, wenn ich hier bleibe und auf meine Mutter warte”, antwortete der kleine Philip. Die alte Dame nahm den Jungen an die Hand und führte ihn zur Tür. Philip drehte sich um: “Herr Kotschma, ist bald wieder Schule?” Abraham sah die Augen des Jungen, sie leuchteten voll Hoffnung. In seinem Blick erkannte er, dass der Junge ihn sehr mochte. “Ich hoffe, Philip. Ich hoffe!” Die alte Frau zog die Tür ins Schloss und Abraham stand alleine im Treppenhaus.
Auf der Straße sah er die Kneipe “Fromm” und Abraham musste an seinen guten Freund Paul denken.
Er öffnete die Tür der alten Kneipe. Es war dunkel. Seine Blicke kreisten durch den Raum. Niemand war zu sehen. Verlassene Stühle, leere Tische. Dann sah er seinen Freund in einer Niesche sitzen. “Abraham, mein treuer Freund. Ich freue mich, dich zu sehen.”, sprach Paul und forderte mit seiner Hand näher zu kommen “Setze dich zu mir und wir trinken noch einen”. Paul war der Kneipenbesitzer. Ein Mann im mittleren Alter. Er holte ein Streichholz aus seiner Hemdtasche und zündete eine Kerze. Eine Lichtschein fiel in sein Gesicht, dann
lief er zum Tresen, holte eine weitere Flache Kognack und ein Glas für Abraham.
“Warum verlässt du nicht die Stadt?”, fragte Paul und goss ihm ein. “ Die ganze Stadt ist eingekesselt. Es gibt keinen Weg hinaus”, antwortete Abraham.
“Ich höhrte von einem Nachbarn, dass es nördlich der Stadt einen Weg durch die Maisfelder gibt. Wenn du jetzt aufbrichts, kannst du es schaffen.” Abraham und Paul hoben ihr Glas, guckten sich in die Augen und nahmen einen Schluck. “Es ist nicht nur diese Stadt”, sprach Abraham,”es ist das ganze Land, das in Flammen steht.”
Sie schwiegen einen Moment. “Ich sitzte schon seit einigen Stunden hier”, sprach Paul mit ruhiger Stimme. Diese Kneipe besteht seit drei Familiengenerationen. Schon als kleiner Junge habe ich hier gearbeitet, meinen Eltern, Gott habe sie seelig, geholfen. Und im Abendgrauen wird all dies zerstört sein”. Abraham nickte. “Dies ist ein wunderschöner Ort, Paul. Wenn ich an all diese unzähligen, freudigen Stunden zuruckdenke. Es ist doch komisch! Warum müssen wir unsere Feinde erschießen. Und warum müssen sie uns erschießen? Sie könnten ihre Gewehre ablegen, wir würden Sie einladen und wir könnten hier das Leben feiern. Wir könnten bis in den Morgen trinken, lachen. Sie könnten von den fernen Ländern berichten, aus denen sie kommen. Könnten uns Fotos von ihren Kinderen und ihren hübschen Frauen zeigen. Und dort am Klavier könnten wir zusammen singen.”
Sie schwiegen einen Moment.
“Wirst du den Luftschutzbunker aufsuchen?”, fragte Abraham.
Paul schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarre an: “Wenn der Bunker von einer Bombe getroffen wird, halten die Betonwände nicht. Der Architekt veriet es mir von einigen Jahren, als er sich an meiner Bar betrank. Und bleibt der Bunker verschont, so werden die Türen aufgebrochen und Frauen und Kinder vergewaltigt.” Paul guckte zu Abraham hoch:”Ich möchte dort nicht sein!” Abraham musste an den kleinen Philip denken.
“Niemand weiß mehr, warum dieser Krieg begann und wozu er gut sein sollte!”, sprach Paul.
Sie umarmten sich zum Abschied und wünschten sich viel Glück.
Als Abraham hinaus auf die Straße trat, dröhnten in der Ferne die ersten Geschosse. Die Menschen rannten in Verzweiflung durch die Straßen. Abraham lief ruhigen Schrittes, mit den Händen in seinem Mantel, seinen Weg. Er wollte in seine Wohnung, ein Bad nehmen, ein Glas Wein trinken und den süßen Melodien des Radios lauschen. So wollte er den Untergang dieser Stadt, den letzten Tag seines Lebens, erleben.
Am Ende der Straße kam ihm eine Frau entgegen. Sie schrie, doch Abraham konnte sie nicht verstehen. Ihre Stimme klang rauh und heiser. Ihr Gesicht war mit Tränen überströhmt. Erschöpft setzte sie Fuß vor Fuß, sammelte alle verbleibende Kraft in sich, füllte mit Mühen ihre Lungen und presste immer wieder und wieder kreischende Worte hinaus auf die Straße. Abraham erkannte sie. Es war Frau Mussa. Er lief auf sie zu. Ihr Körper zitterte. Verzweifelte, flehende Augen sahen in Abrahams Gesicht und kraftlos hauchte sie den Namen ihres Sohnes.
Abraham stützte ihren Körper und beruhigte sie :,,Philip ist bei der Nachbarin. Sie werden zusammen in einen Luftschutzbunker gegangen sein. Machen Sie sich keine Sorgen, der Junge…” Weiter konnte Abraham nicht sprechen. Ein großer Mann stürtzte sich auf sie und sie fielen zu Boden. Weniger Zentimeter nehmen Abrahams Fuß raste ein großes Militärfahrzeug an ihnen vorbei. Der Mann hatte ihnen das Leben gerettet. Abrahams Hände tasteten nach Frau Mussa, doch sie konnten sie nicht finden. Erst als er sich den Staub aus den Augen rieb, sah er sie, wie sie bereis auf den Beinen, eilig, die Straße hinunter lief. Menschen kamen auf ihn zu. Hände wurden ihm gereicht.
Kurz darauf lehnte Abraham an einer Hauswand. Er verspürrte einen pochenden Schmerz in seinem rechten Arm.
Es war dieser Augenblick, in dem auch Abraham sich kraftlos und müde fühlte, sein Körper wollte keinen Schritt mehr weiter und am liebsten, so war ihm, wollte er das Bewusstsein verlieren und in einen tiefen Schlaf fallen. Die Stimmen der Menschen auf der Straße und all die Geräusche der Front, wenige Kilometer entfernt, an der Stadtgrenze, vom Winde herbeigetragen, alles wurde leiser, dumpfer, undeutlicher, so, als würde es davon ziehen, als würde es sich in der Ferne auflösen. Abraham schloss seine Augen. Er höhrte eine zarte Frauenstimme. Es war, als wäre sie in seinem Kopf, jene Stimme, die ihm morgens und abends, wann auch immer er dem Radio lautschte, was er so liebte, vorsang. War er doch in einem Käfig, dem Tode sicher, warum sollte er nicht hier und jetzt sich diesem hingeben, im Beisein einer so wunderschönen Stimme, dachte Abraham und er verfiel dem Schlaf.
Es war eine kleine Hand, kalte Finger, die über seine Wangen strichen, sein Ohr berührten, eine Handfläche, die sich auf seine Stirn legte, so, als wollte sie prüfen, ob er fieberte. Es war eine Stimme, eine Melodie, die zärlich seinen Namen flüsterte. Abraham sah sich als Kind, ein kleiner Junge, wie er krank im Bett lag, seine Mutter sich zu ihm setzte, ihn versorgte, mit all ihrer Liebe gesund pflegte. Abrahm spürrte, wie Lippen ihn küssten!
Und es war ihm, als sei dies nicht seine eigene Welt, nicht sein Traum, sein Innenleben. Nein, es war etwas dort draußen, dachte er. Es waren Lippen einer Frau aus dem wahren Leben, aus der Stadt. Abraham öffnete seine Augen.
Er sah einen kleinen Mund, der sich zu einem Lächeln verformte. Dann waren es zwei braune Augen, die ihn betrachteten. “Du bist sehr süß, Abraham! Glaube mir, ich hatte dies schon früher machen wollen.” Abraham beugte sich mit dem Kopf ein Stück zurück, um das ganze Gesicht sehen zu können. Er erkannte die junge Frau. Es war Lena! Sie waren früher gemeinsam zur Schule gegangen. Nur selten sahen sie sich nach dem Studium. Doch lebten sie beide in dieser Stadt. Abraham antwortete ihr nicht, verwundert schaute er in ihr Gesicht. Lena stellte Abraham sicher auf seine zwei Beine, dann ergriff sie seine Hand und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Sie liefen über den menschenleeren Marktplatz. Die Kirchglocken läuteten und ihre braunen Haare lagen im leichten Sommerwind. Sie erreichten den Eingang eines alten Gebäudes. Voll Energie lief Lena die Treppe hinauf. Abraham folgte ihr. Angekommen auf der dritten Etage schloss Lena die Tür auf und sie traten in ihre Wohnung. Eine große Fensterwand mit Sicht über die Stadt war zu sehen, davor eine Sitzecke mit einem kleinen Tisch mit Kerzen, an den Wänden hingen Bilder, Bücherregale an den Seiten. “Setze dich”, ihre Hand deutete auf eine rote Coach, ,,ich werde es uns gemütlich machen!”. Sie zog die schweren, langen Gardinen am Fenster zu, schaltete ein bescheidenes Licht an einer alten, großen Schrimlampe an und holte Kerzen aus einer Lade hervor. Lena verschwand für einen Moment hinter einer Tür und als sie wiederhervortrat, vernahm er leise Musik im Zimmer. Ein Streichholz zischte und Kerzen warfen ihren Lichtschein zu ihm hinüber.
Zwei Weingläser füllten sich und Lena hob ihr Glas und lächelte. Ihr Lächeln war voll Schönheit, dachte Abraham, Augen, die leuchteten, strahlten. “Ich habe dich letzten Sommer im Wald am See gesehen. Ich lag am Hügel im Gras und las ein Buch, als ich dich sah, wie du mit deiner Schulklasse am Wasser warst, von den Fischen, den Fröschen, den Seerosen und der Sonne erzähltest. Ich liebte deinen Vortrag und die Kinder taten es auch. Ihre Augen wurden größer und ihre Münder öffneten sich vor Staunen”. Abraham schmunzelte, gerne erinnerte er sich an diese Tage. “Glaubst du, wir wären uns in diesem Leben noch einmal begegnet?”, fragte Lena und schaute ihn erwartungsvoll an. “Ja, vielleicht in einem Einkaufsladen oder im Vorbeilaufen auf der Straße, an einem Nebentisch in einem Caffee oder im Wald am See. Doch frage ich mich, ob wir jemals Worte miteinander gewechselt hätten!”Lena nickte, ,,Die Menschen ziehen so unachtsam, schweigend aneinander vorbei, wenn sie durch die Staßen laufen, doch tragen sie soviel Sehnsüchte, soviel Einsamkeit in sich, Wünsche nach Gemeinsamkeit, Fantasien gefüllt mit Zuneigungen, Liebe und einer besseren Welt. Doch wenn ich hinausschaue, sehe ich soviel Hass, Zerstörung, Tod.” Abraham zog Lena näher zu sich, ihre Arme umschlungen ihn, er küsste ihre Lippen, ihren Hals, ihr Ohr und mit jeder Berührung suchten sich ihre Körper mehr und mehr.
Auf einmal ein lautes Dröhnen, der Boden wackelte, Bücher fielen aus dem Regal und ein Weinglas zerschellte. Lena sprang verschrocken auf. Abraham ging zu der Fensterfront. Er schob die Gardinen ein kleines Stück zur Seite und schaute hinaus. Flugzeuge hingen über der Stadt und warfen Bomben. Vereinzelnd zogen Staubwolken zum Himmel. Häuserdächer standen in Brand. Maschinengewehre knatternten. Abraham zog die Gardinen wieder zu und drehte sich zu Lena. Er sah sie dort stehen im Schein der Kerzen, ihr Weinglas in der Hand, ihre kleinen, nackten Brüste, ihre Schultern, ihr wunderschöner Nacken. Sie reichte ihm das Glas. Er nahm einen Schluck Wein. Dann suchte ihre Hand wieder die seinige und sie führte ihn durch den Raum in ein anderes Zimmer. Abraham und Lena vielen auf ein Bett. Voll Sehnsucht und Zuneigung liebten sie sich. Und aus dem Radio sang eine zärtliche Frauenstimme ein Lied über die Wiederbegegnung einer verlorenen Liebe. Schließlich lagen sie erschöpft neben einander. Lena schloss ihre Augen und drückte sich so fest wie ihr nur möglich war an Abraham. Er zog die Bettdecke über ihre Köpfe, gerade so, dass sie noch genug Luft hatten zum Atmen und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Ihr Atmen ging ruhig und gleichmässig und es schiem ihm, als wäre sie eingeschlafen. Und während er zärtlich ihre Schulter streichelte und ihren warmen Körper an sich spürrte, musste Abraham an die Zeichnung des kleinen Philip denken. Er sah eine grüne Wiese, einen blauen See, weiße Wolken und eine strahlende Sonne. Und dort unter einem dieser Bäume einen kleinen, lachenden Jungen, einen Ball zum Himmel werfend. Neben ihm im Gras hockte eine junge Frau mit braunem Haar und großen Augen, die aus einem Korb einen Kuchen hervorbrachte und auf seiner linken stand ein Mann, der fröhlich ihm zusah und mit ihm die Fische im Teich, die Frösche im Gras und die Vögel oben auf dem Baum- und alle schauten zufrieden und glücklich.
Auf einmal knackte die Decke über ihnen.
Ende