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Die Zeit der Knospe

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01.06.2007
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Die Zeit der Knospe

„Die Zeit der Knospe“

Menschen nehmen besonders Dinge auf der Welt wahr, die ihnen unglaublich erscheinen. Menschen empfinden Furcht, aber auch Glück, wenn sie unglaubliche Dinge wahrnehmen. Ganz selten oder nie hinterlässt die Welt keine Reaktion beim Menschen. Macht die Welt nämlich Eindruck auf den Menschen, richtet er seine Aufmerksamkeit auf die Welt und versucht sie zu beeinflussen. Manchen Menschen fällt es aber auch schwer sich von der Welt zu lösen.

Herr M., mein Nachbar, hatte einen Garten, der sehr grün, sehr klein und sehr quadratisch war. In dem Garten wuchsen sehr viele Grashalme. Manchmal traute sich zwischen die Grashalme auch Unkraut, das mein Nachbar, sobald er es bemerkte, in aller Herrgottsfrühe mit spitzen Fingern entfernte. Er hüpfte in solchen Fällen mit einem hochroten Kopf und wie ein Eichhörnchen auf Speed zwischen den Grashalmen herum und kriegte sich erst wieder ein, wenn er auch das letzte kleine Pflänzchen herausgerissen und entwurzelt hatte. Sein Garten sollte den Leuten in der Nachbarschaft und auch den Spaziergängern symmetrisch, aufgeräumt und gepflegt erscheinen. Mit Dünger, Rasenmäher, Gartenschere, Gießkanne, Rasentrimmer und einem Maniküreset hielt er den Rasen in den Morgen- und Abendstunden in seiner von ihm auferlegten Dichte und Norm. Herr M. hatte sich selbst verpflichtet sein Heiligtum ausschließlich mit Filzpantoffeln zu betreten, da seiner Meinung das Grün dadurch bestmöglichst geschont werden konnte. Die Rasenfläche war neun Quadratmeter groß und wurde von einem 1 Meter hohen Zäunchen begrenzt. Den Zaun legte Herr M. an, nachdem er einige Feinde, die seinen Rasen bedrohten, ausgemacht hatte. Zu den Feindbildern seines Rasens zählten vornehmlich Kinder und deren Bälle, sowie Hunde und Katzen. Kindern gelang es äußerst selten einen verirrten Ball von Herrn M.s heiligem Rasen zurückzuholen. Er stürmte jedes Mal, wenn ein Ball auf ein paar grasgrünen Grashalmen landete, zur Tür heraus, brüllte laut, fuchtelte und tobte. Die Kinder ergriffen dann immer die Flucht, weil sie riesengroße Angst vor diesem Mann hatten. Die Bälle zerstach Herr M. entweder mit seiner Gartenschere oder seiner Nagelfeile, kam darauf an welches von beiden Utensilien griffbereiter dalag, und warf sie den Kindern hinterher. Ich habe mich oft gefragt was passieren würde, wenn ein Kind einmal nicht schneller aus seinem Garten wäre, als Herr M. aus seinem Haus, denn ich war mir nicht sicher, ob er zwischen Ball und Kind unterscheiden konnte. Zwischen Ball und Tier machte er jedenfalls sehr wenige Unterschiede. Bemerkte er etwas Lebendiges auf dem Rasen, schmiss er seine holländischen Holzpantoffeln danach. Selten verfehlte er sein Ziel.
Eines Tages geschah im Garten von Herrn M. aber etwas völlig Unerwartetes. Die Ereignisse der darauffolgenden Monate versetzten die Menschen des gesamten Viertels in Erstaunen, manche erschauderten sogar. Ich kann nicht eindeutig bestimmen ob die Natur oder die Kinder ihm einen Streich spielten. Gelungen war er aber in jedem Fall.
Eines Morgens, genau in der Mitte des quadratischen Gartens, man könnte annehmen jemand hätte den Mittelpunkt mithilfe zweier Diagonalen bestimmt, ragte eine kleine Knospe über die Einheitsdecke des Rasens heraus. Nachdem mein Nachbar während seiner allmorgendlichen Betrachtungs- und Beobachtungsrunde um seine Rasenfläche diese Überraschung bemerkte, war er einigermaßen verwirrt. Er konnte sich nicht erinnern eine Blumenzwiebel, Samen oder ähnliches in seinen Rasen gesetzt zu haben. Seine Fachkenntnis ließ allerdings keinen anderen Schluss als den zu, dass jemand etwas gesät haben musste. Seine Verwirrung über die Fruchtbarkeit seines Erdreichs ließ ihn zu keiner Entscheidung kommen wie er mit dem neuen Gewächs umgehen sollte. Seine übliche Entscheidungsfreude im Falle des Unkrauts, ließ in diesem bestimmten Fall sehr zu wünschen übrig, so dass er beschloss sich nicht zu entscheiden. Nachdem der Vorfall, von dem ich hier begonnen habe zu berichten, für alle Beteiligten, also für Herrn M. sowie für alle Bewohner meines Viertels, ausgestanden war, erzählten sich die Leute, dass Herr M., der zwar die katholische Glaubenslehre verinnerlichte hatte, aber auch sehr rational, phantasielos und der Vernunft gemäß dachte, an ein Wunder glaubte. Ich möchte an dieser Stelle allerdings nicht vorgreifen, sondern der Reihe nach erzählen.
Nun, nachdem Herr M. sich entschieden hatte sich nicht zu entscheiden, begann er wie jeden Tag seinen Garten zu pflegen. Zuerst holte er sein Lineal hervor, maß an allen relevanten Stellen die Grashöhe und schnippelte wenn nötig mit der Nagelschere am Gras herum. Er kürze es aufs notwendige Maß, wie er zu sagen pflegte. Eine Erklärung worin die Notwendigkeit bestand, diese Handlung auszuführen gab er mir aber nie. Zu fragen traute ich mich nicht...
Danach zog er seine Filzpantoffeln über, um den Rasen zu betreten. Nun war es an der Zeit Unkraut zu finden und zu rupfen und anschließend gleichmäßig eine wohlproportionierte Menge von Rasendünger auf der Rasenfläche zu verteilen. Zuletzt nahm er den Gartenschlauch mit dem Sprühaufsatz zur Hand und wässerte vorsichtig alle Stellen des Rasens. Dieser Vorgang war in der „Zeit der Knospe“ von herausragender Bedeutung, da über des Nachbars Haus seit geraumer Zeit ein Hoch lag, das keinem Tief weichen wollte. Er hatte alle Hände voll zu tun, einer Vertrocknung der Grashalme vorzubeugen. Einmal sagte er zu mir, während er sich seinen Schweiß mit einem immer griffbereiten Handtuch aus seinem glattrasierten Gesicht wischte, diese verdammte Sonne lasse noch einmal die ganze Welt untergehen. Ich traute mich nicht zu fragen, ob er denn seine Welt oder die gesamte Erde meinte...
Die weiteren Sekunden, Minuten und Stunden des Tages verliefen für Herrn M. so ereignislos wie die Sekunden, Minuten und Stunden an hundert anderen Tagen in der Vergangenheit. Jedoch hatte er sich während der Rasenpflege zu einer Entscheidung bezüglich der Behandlung der Knospe durchgerungen. Nach dem Abwägen von einigen Fürs und einem Wider beschloss er die Knospe wie jeden anderen Grashalm zu behandeln und ihr nicht mehr und nicht weniger Aufmerksamkeit zu schenken wie den Grashalmen. Er wollte fortan die besondere Form der Knospe ignorieren und verdrängen.
Herr M. hielt sich die erste Zeit sehr fest an seine Regel. Seine Tagesabläufe glichen jenen aus der ihm bekannten Vergangenheit. In dieser Zeit dachte er die Zukunft sei ihm ebenso bekannt, dabei irrte er allerdings gewaltig...
Schon nachdem die Knospe die Rasendecke um einen Zentimeter überragte, schielte er immer wieder hinüber zu dem neuen Gewächs und fragte sich heimlich ob es eine Blüte entfalten möge. Aufgrund seiner Neugierde warf er nach einigen Tagen seine guten Vorsätze gegen die drohende Vernachlässigung seiner Grashalme sehr unbewusst über den Haufen und kümmerte sich intensiver um die Knospe. Er gab ihr jeden Morgen eine größere Menge an Dünger an ihren Stil, als er dies jemals seinen Grashalmen im Gesamten gegönnt hätte. Außerdem wässerte er sie ausgiebig. Diese besondere Pflege hatte zur Folge, dass der Stil der Pflanze in kurzer Zeit um einiges dicker und länger wurde. Eine Woche, nachdem die Knospe sich zum ersten Mal über die Rasendecke erhob, wuchs sie bis auf 25 Zentimeter heran. Dieses überaus rasante Wachstum der Pflanze irritierte Herrn M. in einem Ausmaß, das ich niemals für möglich gehalten hätte. Er vernachlässigte immer mehr die Pflege seiner geliebten Grashalme bis er am siebten Tag total vergas sich um seinen Rasen zu kümmern. Es versetzte ihn in helle Aufregung, dass das anfangs so winzige Pflänzchen nach so kurzer Zeit schon einen Viertel Meter hoch geworden war. Zu seiner Enttäuschung wollte sich die Knospe allerdings nicht öffnen. Je höher seine nun geliebte Pflanze wurde, desto schäbiger wurden seine ehemals geliebten Grashalme. Sie wuchsen zwar erst in die Höhe weil Herr M. vergas an ihnen herumzuschnippeln, aber einzelne begannen gelblich zu werden und vertrockneten nach und nach. Herr M. hatte für dieses Phänomen aber keinen Pfifferling mehr seiner Aufmerksamkeit übrig. An einem dieser Tage begann Herr M. die Plauderei mit seinem neuen Pflänzchen. Er wünschte einen Guten Morgen, stellte daraufhin Fragen, beispielsweise wie es die Nacht zugebracht hatte und erzählte ein wenig von seinen Gedanken. Und siehe da es wuchs kräftig weiter. An seinem Stängel sprossen herzförmige Blätter die einen beachtlichen Umfang annahmen, nur die Knospe öffnete sich immer noch nicht. Der Garten ähnelte mittlerweile eher einer Steppe als einem Rasen. Aber das kümmerte Herrn M. nicht mehr, er hatte nur noch Augen für seine Pflanze. Die Blätter seines neuen Lieblings beeindruckten ihn über die Maßen, der Gedanke und die Vorstellung, dass sich die Blüte zeigen könnte ließ ihn nicht mehr los. Mich selbst verwirrte dieses Schauspiel auf der anderen Seite des Gartens derart, dass ich lediglich staunend dastand und beobachtete. Ich konnte mir keinen Reim auf das Verhalten meines Nachbars machen. Eines Morgens beobachtete ich wie Herrn M. einen Passanten, der zufällig auch in unserem Viertel wohnte anhielt, und ihn bat ihm zu sagen was er da für eine Pflanze habe. Der Passant war aufgrund der unerwarteten Bitte dieses ihm bekannten komischen Kauzes (er hatte nicht nur einen Ball seines Sohnes zerstochen) so überrascht, dass er für einige Momente sprachlos war. Aus seiner Überraschung heraus musterte er die Pflanze, konnte ihm aber doch keine Antwort geben. Diese Prozedur wiederholte Herrn M. bei jedem vorbeilaufenden oder -radelnden Passanten. Keiner konnte ihm aber eine zufriedenstellende Antwort geben. Die Vertrocknung des Gartens, die neue Pflanze und das merkwürdige Verhalten Herrn M.s wurden das beherrschende Gesprächsthema in unserer Siedlung. Die Fernseher wurden ausgeschaltet, denn das spannendste Schauspiel fand bei Herrn M. statt. Sein Garten war die Bühne und der Bürgersteig der Zuschauerrang. Als die Bürger begannen sich für Herrn M.s Garten zu interessieren war die Pflanze 75 cm hoch und die Knospe immer noch zu. In seinem Garten strahlte das Grün der Pflanze nun über staubtrockenem, erdigem Boden. Alle Grashalme waren vertrocknet und wurden nach und nach von einem lauen Lüftchen davongeweht. Herrn M.s Liebe galt nur noch seiner knapp einen Meter hohen Pflanze.
Am Morgen des 21. Tages nach Entdeckung der Knospe, kam es mir vor als stehe die Erde für einen Moment still. Die ersten Schaulustigen hatten sich schon vor Sonnenaufgang versammelt. Um halb acht Uhr standen sich 112 Menschen auf den Füßen. Als Herr M. aus seiner Tür trat und nur Augen für seine geliebte Pflanze hatte, verstummte das Gemurmel der Umstehenden schlagartig. Sie verfolgten andächtig das Schauspiel der Pflege und den Dialog zwischen Herrn M. und seiner, na ja, Liebsten...
Keiner bemerkte den Schmetterling, der fröhlich über die Köpfe aller Anwesenden tanzte und mit einigen Schleifen auf das geliebte Pflänzchen zusteuerte. An diesem Tag wurde es genau einen Meter groß. Der Schmetterling setzte sich zuerst auf die Schulter von Herrn M., der sich über das Geschöpf freute wie ein Kind. Er begann sofort ihm mitzuteilen wie wunderschön er sei und welche Freude ihm sein bunter Anblick bereite. Die Schaulustigen standen nun mit offenen Mündern vor diesem Schauspiel, und waren sehr gespannt auf das weitere Geschehen...
Alle Augenpaare verfolgten minutiös wie der Schmetterling sich von der Schulter Herrn M.s erhob und mit leichten Flügelschlägen, wie in Zeitlupe, zu der Knospe herüberschwebte. Als er sich auf die Knospe niederließ, gingen einige der Schaulustigen in die Knie, alle anderen, die sich aufrecht halten konnten, bekamen mindestens weiche Knie...
Als der Schmetterling seinen Rüssel in die Knospenöffnung steckte, begann sie sich ganz langsam ein wenig zu öffnen. Der Schmetterling flog daraufhin über ein Kuckucksnest und entschwand so weit bis er nicht mehr zu erkennen war. Die Knospenblätter entfalteten sich in Zeitlupentempo. Ganz langsam kamen Blütenblätter von zeitloser Schönheit hervor. Die Blüte strahlte die Menschen so rein, hell und schön an, wie es nur eine Sonne kann. Als sie sich in ihrer vollen Schönheit zeigte, wussten die Umstehenden nicht wie sie mit solch heller, reiner Schönheit umgehen sollten. Alle sahen nicht Gottes Werk, sondern nur Teufels Beitrag, verfluchten die Schöne und wünschten sie in die Hölle. Sie zogen in böser und verwirrter Eintracht enttäuscht von dannen, nur Herrn M. blieb und genoss diese ihm unbekannte Schönheit. Er stand andächtig da bei Sonne und Regen, Tag und Nacht, Schnee und Hagel, Wind und Flaute. Er stand wochenlang, begeistert und verwirrt von derartiger Schönheit, neben und bei ihr, er regte sich nicht, er bewunderte sie und liebte sie aus tiefstem Herzen, doch bevor sie ihr letztes Blütenblatt verlor, war er schon wieder verschwunden...

 

Hallo Lipralipra und willkommen auf kg.de

Ganz spontan gesagt finde ich die Einleitung gut, da sie tiefgründig ist und Interesse weckt, aber erstmal schauen, wie es weitergeht.

und einem Maniküreset
Hach, der Typ ist so klischeehaft. Das finde ich lustig. :D

oder seiner Nagelfeile,
Ich frage mich gerade, ob das geht ... hab es noch nicht ausprobiert.

Bemerkte er etwas Lebendiges auf dem Rasen, schmiss er seine holländischen Holzpantoffeln danach.
Also, nach den Tieren schmeißt er seine Holzpantoffeln, aber nach den Kindern wirft er mit Gartenschere und Nagelfeile...
So habe ich das jedenfalls verstanden.

Seine Verwirrung über die Fruchtbarkeit seines Erdreichs ließ ihn zu keiner Entscheidung kommen wie er mit dem neuen Gewächs umgehen sollte.
Hier erklärst du zwar, warum er die Pflanze nicht rausreißt. Als Leser verstehe ich aber trotzdem nicht, warum er bei dieser anders handelt als beim Unkraut.

Er gab ihr jeden Morgen eine größere Menge an Dünger
Das ist mir jetzt erst aufgefallen, aber der Mann düngt so oft, da bringt er ja seinen Rasen um...

der Stil der Pflanze
Stiel

seiner geliebten Grashalme, bis er am siebten Tag total vergaß, sich um

Das Geschehen ist übrigens sehr detailiert geschrieben, was ich sehr gut finde.

Und man gewinnt den Eindruck, dass die Menschen außerhalb dieser Geschichte kein eigenes Leben führen. Der Protagonist kümmert sich scheinbar den ganzen Tag um den Rasen, der Ich-Erzähler steht die ganze Zeit da und beobachtet ihn (wurde in irgendeinem Satz gesagt), und das Geschehen ist das Hauptgesprächsthema in der Siedlung und selbst wichtiger als das Fernsehprogramm.

Aber: Selbst mich hat die Knospe interessiert und ich habe auf ihr Öffnen gewartet. Hat irgendwie Spannung erzeugt.

einige der Schaulustigen in die Knie, alle anderen, die sich aufrecht halten konnten, bekamen mindestens weiche Knie...
Hier hast du 'Knie' wiederholt, was nicht so schön klingt. Du könntest das erste ersetzen durch 'sanken zu Boden' oder das zweite durch 'bekamen wackelige Beine'.

Als sie sich in ihrer vollen Schönheit zeigte, wussten die Umstehenden nicht wie sie mit solch heller, reiner Schönheit umgehen sollten. Alle sahen nicht Gottes Werk, sondern nur Teufels Beitrag, verfluchten die Schöne und wünschten sie in die Hölle.
Den Bruch zwischen diesen Sätzen empfinde ich als zu hart. Ich verstehe nicht, wieso die Menschen im zweiten Satz plötzlich so reagieren.
Aber ich könnte mir das aus Neid vorstellen.

Sie zogen in böser und verwirrter Eintracht enttäuscht von dannen
Naja, ich hatte erst erwartet, dass die Leute mit einem Fackelzug zur Pflanze ziehen. :D

war er schon wieder verschwunden...
Öhm... wo ist er hin?

Also, dies ist eine schön geschriebene Geschichte, wenn auch verbesserungswürdig, aber ich habe sie gerne gelesen. Mach weiter so!

Grüße von Jellyfish

 

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